INTERVIEW

«Ahmets Suche nach den verlorenen Tränen»

Ahmet Simsek lebt seit Kindheit sein Leben in Österreich. Als Sanitäter beim österreichischen Bundesheer, Staatsmeister im Boxen, Sohn einer türkisch-muslimischen Familie in Wien könnte er gleich mit mehreren Etiketten versehen werden. Doch Jannis Lenz tritt gegen gängige Erwartungen an und interessiert sich in seinem Portrait Soldat Ahmet für einen Menschen voller Facetten, der seit er zwölf ist, nicht mehr geweint hat und früh lernen musste, sich seinen Platz zu erkämpfen.



Der Titel Soldat Ahmet führt unmittelbar ins Milieu des Militärs und zu Assoziationen, die mit Uniform(iertheit), dem Fehlen von Individualität und mit Anonymität einhergehen. Ihren Protagonisten Ahmet Simsek lernt man aber sehr schnell als starke und sehr facettenreiche Persönlichkeit kennen. War es Ihr Ansatz, ein Portrait gegen den Strich/ gegen die Erwartungen zu zeichnen?

JANNIS LENZ:
Hier lag eindeutig mein Ausgangspunkt. Ahmet ist jemand, der theoretisch in viele Schubladen passt – als türkischer Migrant, als Soldat ... alles Labels, die eine klare Zuordnung haben. Er aber passt nicht nur nirgendwo hinein, er entzieht sich dem sogar. Ich habe einen Titel gewählt, der in eine Richtung weist, die vielleicht einen anderen Film erwarten lässt. Mit dieser Erwartungshaltung wollte ich spielen, aber auch mit dem Kontrast, der sich durch Ahmet und seine Sonderrolle als Muslim im österreichischen Bundesheer auftut. Diese ersten Assoziationen mit dem Titel konfrontieren die Zuseher*innen dann vielleicht auch mit den eigenen Erwartungshaltungen und Vorurteilen, weil man Ahmet im Film als Menschen kennenlernt und nicht als Figur, die man irgendwo einordnen kann.


Wie sind Sie Ahmet begegnet?

JANNIS LENZ:
Ich habe Ahmet 2014 im Zuge der Produktion einer meiner ersten Kurzfilme Schattenboxer als Laiendarsteller im Boxstudio kennengelernt. Aus dieser Zusammenarbeit ist dann eine sehr gute Freundschaft entstanden. Interessant war, dass ich inzwischen ausgeblendet hatte, dass Ahmet als Soldat beim Bundesheer arbeitet. Die eigentliche Idee, ein Portrait über ihn zu machen kam mir, kurz nachdem mein Sohn geboren wurde. Ahmet hat mich und meine Freundin besucht, um unser Baby kennenzulernen. Er kam direkt von der Arbeit und wie er so in Uniform in unserer Wohnung stand und unseren kleinen Sohn im Arm hielt, war das ein seltsamer Moment für mich, weil das, was ich von Ahmet kannte, nicht mit dieser Uniform zusammenpassen wollte. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit hat mich dann lange beschäftigt. Ich selbst war nicht beim Heer und komme aus einem pazifistischen Haushalt, wo man auf Lichterketten und Friedensmärsche gegangen ist. Insofern war es spannend, über ihn meine eigenen Vorurteile gegenüber dieser Institution zu hinterfragen, sie näher kennenzulernen und sich dem nicht einfach zu verwehren.


Sie haben für diesen Film auch das Konzept entworfen. Welche Stoßrichtung stand vor den Dreharbeiten bereits fest? Inwiefern haben Sie sich auch von Ahmet leiten lassen?

JANNIS LENZ:
Mit der Idee als Ausgangspunkt, die Welten, durch die Ahmet sich in seinem Alltag bewegt, im Film zusammenzuführen, diese aber auch miteinander kollidieren zu lassen, war das Konzept und damit ein Rahmen, an der wir uns beim Drehen entlang hangeln konnten, schnell gefestigt. Daraus hat sich dann vieles von ganz allein ergeben. Der Film ist über einen langen Zeitraum sehr organisch gewachsen. Wir konnten oft nur vereinzelt an Wochenenden drehen, dazwischen lagen immer wieder längere Pausen. Dadurch, dass Ahmet schon ein bisschen Filmset-Luft geschnuppert hatte, wusste er, wie es funktioniert und hat seinerseits gewisse Dinge bewusst in den gemeinsamen Prozess einfließen lassen. Ich fand das spannend, dass auch er Einfluss auf das Geschehen genommen hat, indem er uns bestimmte Dinge angeboten hat. Das Abendessen bei Ahmets Eltern ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir oft ganz kurzfristig reagiert haben. Ahmet informierte uns am selben Tag, dass wir vorbeikommen könnten, wir haben dann schnell ein Team auf die Beine gestellt, ohne zu wissen, was uns nun erwartete. So war das öfters. Wir haben uns in die Situation fallen lassen und sind auch immer wieder dafür belohnt worden. Ich musste oft sehr spontan Entscheidungen treffen, welchem Weg wir folgen wollten. Deshalb war es auch wichtig, dass unser Team nur aus drei bis vier Leuten bestand, genauso viele, wie mit Equipment in ein Auto passen, so dass wir flexibel reagieren und auch rasch umdisponieren konnten.


Man sieht Ahmet in seiner Berufswelt und in seiner Freizeitwelt, die durch das Boxen und das Theaterspielen bestimmt ist. Beide Formen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, scheinen von einer Suche nach den Tränen und einem unbestimmten Schmerz bestimmt zu sein. Hat sich diese emotionale Komponente in der filmischen Arbeit herauskristallisiert oder hat das schon länger in ihm gearbeitet?

JANNIS LENZ:
Ich glaube, beides. Ahmet hat mir irgendwann einmal eher nebenbei eröffnet, dass er seit seinem 12. Lebensjahr nicht mehr geweint hat. Diese Ausgangssituation, dass ein Soldat und Staatsmeister im Boxen, der sich im Alltag immer und überall als harter Kerl beweisen muss, lernen will zu weinen, hat mich sehr berührt. So ist diese Suche nach den Tränen, ohne das irgendwie forciert zu haben, zu einem Leitthema geworden, das sich am Ende durch alle Welten zieht und damit auch die in meinen Augen sehr wichtige Frage eröffnet, wie in den jeweiligen Bereichen mit Emotionen umgegangen wird. Auf der Ebene des Schauspiels im Film geht es um Ahmets Auseinandersetzung mit sich selber und seinen Gefühlen, aber auch um die Rollen, in die er in seinem Alltag, seiner Berufswelt und auch beim Boxen schlüpfen muss. Er muss da auch einem gewissen Männlichkeitsbild gerecht werden, das ich hinterfragen wollte. Weil ich wusste, dass Ahmet schon immer mal einen Schauspielkurs besuchen wollte, ihm aber die Zeit, das Geld oder vielleicht auch der Mut dazu gefehlt hatte, war mein Gedanke, ihm im Rahmen des Films diese Möglichkeit zu eröffnen und er hat dieses Angebot dann auch sehr dankbar angenommen.


Arbeit beim Heer ist vor allem ein Training, eine Probe für den Ernstfall, eine Simulation. Wie auch das Theater ein Ort ist, wo man sich durch Probe einer Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit annähert. Seine beiden Welten scheinen einen Bezug zur Bühne zu haben. Sie streichen in Ihrer Beobachtung des Militärs sehr gerne auch das theatralische, rhythmische und choreografische Moment heraus.

JANNIS LENZ:
Beim Heer hat mich in der Tat der performative Aspekt interessiert. Das Exerzieren z.B. und die verschiedenen Rollen, in die einzelnen Personen im Mikrokosmos Kaserne schlüpfen. Ahmet sagt von sich selbst, dass ihn die Uniform zu einem anderen, strengeren Menschen macht. Diese Uniform bietet ihm aber auch die Möglichkeit unterzutauchen, einer von vielen und Teil einer Gruppe zu sein. Die performativen Elemente, die für mich im Heer, beim Schauspiel sowie im Boxclub sehr präsent sind, wollte ich durch die musikalischen Elemente zueinander in Beziehung setzen, gleichzeitig aber auch innerhalb der jeweiligen Szenen Kontraste. So wollte ich etwa bei der Schießübung nicht den Aspekt der Action betonen, sondern vielmehr das Tänzerische daran. Das Choreografische hat mich immer schon interessiert und ist etwas, das sich durch alle meine Arbeiten zieht. Ich habe viele Projekte im Bereich Tanz und Performance gemacht, meistens für Museen und Ausstellungen. Ich selbst habe lange Zeit Breakdance und Capoeira gemacht und bin schließlich über Le Parkour, das auch viele tänzerische Aspekte beinhaltet, zum Filmemachen gekommen. Diese tänzerischen Momente fließen einfach ein, weil sich mein Blick an solchen Dingen anheftet und es mir sehr gefällt, diese Aspekte gerade dort herauszuarbeiten, wo man sie so nicht erwarten würde.


Ahmets Geschichte ist auch die einer Integration. Man könnte seine Zerrissenheit sehen – er hat ja den Eid auf die Fahne eines Landes abgelegt, das nicht das Land seiner Wurzeln ist. Oder aber auch eine ganz normale Integration, Ahmet ist als Kind nach Österreich gekommen und lebt einfach sein Leben hier wie so viele Menschen, von denen nie jemand spricht.

JANNIS LENZ:
Letzteres trifft es, weil ich das Gefühl habe, dass, sobald das Thema Integration diskutiert wird, immer gleich Extreme abgehandelt werden; auch in Filmen geht es meistens um das Bestätigen gewisser Klischees, selbst wenn scheinbar das Gegenteil versucht wird. Ich wollte einen Menschen zeigen, bei dem man von einer absolut gelungenen Integration sprechen kann; zum einen soll bewusst werden, wie hart er sich dieses „Integriert-Sein“ erarbeitet hat und wie er das im Alltag  immer wieder unter Beweis stellen muss, zum anderen wollte ich aber auch die innere Zerrissenheit zeigen, die einfach da ist und bleibt, mit der man aber auch leben kann. Es kann ja auch bereichernd sein, zwischen den Welten zu leben. Ich halte es für problematisch, wenn es so dargestellt wird, dass man sich irgendwann für eine Seite entscheiden muss. Das kann ja koexistieren. Das Problem ist eher dieses „Entweder-Oder“ Schubladendenken von vielen Menschen, mit dem man dann konfrontiert wird. Am Anfang, als das Projekt ins Laufen kam, tauchten immer wieder Sätze auf wie: „Ja, aber dem geht es ja gut hier, der hat ja keine echten Probleme.“ Genau wegen dieser Einwände habe ich diesen Film gemacht. So einfach ist es nicht. Vielen Menschen, die dem nicht ausgesetzt sind, fehlt das Verständnis, dass man allein schon durch die Tatsache, dass man durch sein Aussehen heraussticht, gleich ein Label verpasst bekommt und deshalb benachteiligt wird oder zu spüren bekommt, dass man nicht richtig dazugehört. Auch wenn es dabei um scheinbar kleine, ganz alltägliche Situationen geht, die sich aber ständig wiederholen. Das fängt ja schon bei der Wohnungssuche an. Ich habe bei Ahmet stark den Wunsch dazuzugehören gespürt. Das passiert einerseits durch die Uniform, andererseits aber auch durch seine große Fähigkeit sich anzupassen. Er hat es sehr früh lernen müssen, seinen Platz zu finden.


Wie erlebt er diese Situation in der Familie, wo er gut aufgehoben ist und dennoch klar wird, dass er nicht so ist, wie es der Vater gerne hätte – Stichwort eigene Familie?

JANNIS LENZ:
Der Vater bestätigt an der Oberfläche das Klischee vom Familienoberhaupt; er sagt Ahmet immer wieder, er solle doch heiraten und er würde ihm eine Braut suchen. Dieses Bild wird aber durch den liebevollen Humor seiner Eltern immer wieder gebrochen, was aber nicht heißt, dass sie es nicht trotzdem ernst nehmen und Ahmet damit unter Druck setzen. Auch hier befindet er sich in einer widersprüchlichen Situation. Zum einen fühlt Ahmet sich bei seiner Familie aufgehoben und kann sich fallen lassen, zum anderen werden auch hier Ansprüche und Rollenbilder an ihn herangetragen, denen er sich zu entziehen versucht.


Portraits sind für die Kamera immer eine Herausforderung in der Suche nach einem guten Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz. Wie haben Sie mit Jakob Fuhr die Kameraarbeit konzipiert?

JANNIS LENZ:
Ich habe mit Jakob während unserer Ausbildung auf der Filmakademie immer wieder zusammengearbeitet. Daher weiß ich sehr gut, wie Jakob arbeitet und er weiß genau, worauf es mir ankommt. Dieses gegenseitige Vertrauen war sehr wichtig für die Arbeit an Soldat Ahmet, weil es oftmals darum ging, unmittelbar auf Situationen zu reagieren, ohne viele Worte verlieren zu müssen. Wir haben versucht, unseren Protagonist*innen so viel Freiraum wie möglich zu lassen, um sie durch ihre Welten zu begleiten und nicht zu lenken, ums so die inneren Wahrheiten der Menschen, Orte und Situationen gemeinsam durch die Kamera entdecken zu können.


Anfang und Schlusspunkt des Filmes setzen die türkische und die wienerische Version einer Fabel vom Krokodil und der Hyäne, deren Gefühle, ob sie nun weinen oder lachen, nie ernst genommen werden. Welche Bedeutung hat diese Fabel im Kontext des Films?

JANNIS LENZ:
In der Fabel geht es um zwei Tiere, die auf jeweils sehr unterschiedliche Art  mit ihren Emotionen umgehen und diesen Ausdruck verleihen, aber keiner von beiden darin von den anderen ernst genommen wird. Ich fand das deswegen passend für Ahmet, weil er jemand ist, der sich nie beschwert. Das heißt aber nicht, dass er keine Probleme hat und es ihm immer gut geht. Er beklagt sich nur nicht und versucht, sich durchzubeißen. Darüber hinaus bildet die Fabel für mich einen sehr schönen Rahmen für den Film, weil ich mir Ahmets Suche nach den verlorenen Tränen irgendwann zunehmend als Märchen vorgestellt habe und ich hoffe, dass sich im Film etwas von dieser Magie aus meinem Kopf in die oft  raue Wirklichkeit mischt, durch die sich Ahmet in seinem Alltag bewegt.


Interview: Karin Schiefer
März 2021