INTERVIEW

«Er ist ein Ausgestorbener zu Lebenszeiten.»

Johannes lebt mit seiner tiefgläubigen Mutter auf über 2000 Metern, in und mit der Natur, näher bei Gott, fern der verabscheuten Menschen im Tal. Er ist ein junger Mann, im Geiste ein Kind, der Sprache kaum mächtig, bedingungslos der Mutter verbunden, die ihm in schützender Absicht eine simple Welt aus Gott und den Mächten des Bösen entwirft. Peter Brunner ist ein Filmemacher, der mit seinen Bildern die Klüfte im Inneren seiner Figuren erspürt. In Luzifer führt er in eine Kollision von Fanatismus und Freiheit, die vom blinden Glauben und seinen Missverständnissen erzählt. Luzifer mit Franz Rogowski und Susanne Jensen in den Hauptrollen ist eine Produktion der Ulrich Seidl Filmproduktion.



Am Beginn des Films und auch der Synopsis steht der Verweis zu einer wahren Begebenheit, die am Ursprung der Geschichte von Luzifer steht. Welche Elemente dieser wahren Geschichte haben Ihnen den Anstoß für das Drehbuch geliefert?

PETER BRUNNER:
Ich bin auf die Geschichte während der Recherche meines ersten Langfilms Mein blindes Herz gestoßen. Ein kognitiv beeinträchtigter Mann versuchte seine streng gläubige und kranke Mutter vor dem Teufel zu retten. Er übernimmt dabei die Rolle der Mutter und wendet die Rituale des Glaubens an, die er von ihr gelernt hat. Ihre Rettung wird zur fixen Idee, wie die Parfums für Jean-Baptiste Grenouille im Roman von Patrick Süskind. Diese wahre Geschichte löste Bilder und Fragen in mir aus, über Jahre. Wieso opfert jemand ein Leben im Zeichen seines Glaubens? Wie können Kinder zu Mördern werden? Was lernen wir unseren Kindern? Mich interessieren die Mechanismen im Mikrokosmos, die zum Fanatismus und zur Ideologie führen können, zu Terroranschlägen oder Edmunds Schicksal im Film Deutschland im Jahre Null. Die Rollenumkehr zwischen Mutter und Sohn, eine Liebe, die rot und weit über die Grenze malt und auch der Weg aus dem Fanatismus. Diese Aspekte wurden der Ausgangspunkt, diesen spirituellen Film zu machen.  


Konnten Sie sich für die beiden Hauptfiguren Maria und Johannes stark an der realen Quelle inspirieren oder haben Sie sich in Ihren Recherchen intensiv mit religiösem Fanatismus, den Ideen des Bösen, des Teufels auseinandergesetzt, um in diese Welt einzutauchen und diesem Konzept, das in einer anderen Zeit verankert scheint,  eine aktuelle Komponente zu verleihen?

PETER BRUNNER:
Die reale Geschichte war ein Ausgangspunkt, unterschiedlichste sehr gläubige Menschen zu treffen, die mich an ihrem Verhältnis zum Glauben teilhaben ließen. Das waren höchst intime, berührende und verstörende Erfahrungen. Religion und wie sie die Leben von Menschen in meinem Umfeld verändert hat, war für mich seit meiner Kindheit ein Rätsel. Ich bin selbst nicht getauft. Aber ich war während der Recherche bei vielen Taufen in charismatischen Splittergruppen der Pfingstbewegung dabei. Ich beobachtete die Lehre des Charismas der Zungenrede oder rituelle Ausräucherungen. Johannes‘ Zugang zum Glauben ist ein anderer als der seiner Mutter. Wo seine Mutter aus der Religion die Antworten zieht um ihre Lebenslast zu stützen, findet Johannes nur Rätsel. Es ist eine Spiritualität, die ihn wie eine Gegenspielerin begleitet. Er kann das vielleicht nicht formulieren, aber er trägt sie wie Geheimnisse in sich. Dieser Film ist so wie meine anderen Arbeiten wohl am ehesten durch die Figuren, ihre Beziehungen und ihr Handeln nachvollziehbar. So ist das Konzept des Teufels im Film nur ein Werkzeug der Mutter, eine Geschichte die sie erzählt um ihren beeinträchtigen Sohn zu schützen. Wie eine Gesellschaft, die an das Strafrecht glaubt, um ihre freien Bürger durch das Androhen von Strafe schützt.


Luzifer spielt zur Gänze in der Natur, abseits der Zivilisation. Von der ersten Einstellung an sind die Bilder der Natur mit einem verstörenden Sound gekoppelt. Die Natur als Schauplatz ist kein Ort des Wohlbefindens. Warum ist es Ihnen wichtig, von Beginn an eine Irritation zu erzeugen?

PETER BRUNNER:
Ich versuche dem Grundgefühl und der Grundidee gegenüber loyal zu sein und in diesem Fall ist Natur kein Idyll, keine romantische Lebensquelle, sondern eine Erinnerung und Prophezeiung unserer Geschichte. Die Natur ist uns einerseits gegenüber gleichgültig und andererseits sind wir ein Teil von ihr, sie ist in uns. Das wissen wir seit dem Virus alle. Diese Stimmen und Klänge in uns sind Teil von den Landschaften in LUZIFER. Ich versuche filmische Portraits der Menschen und der Welt zu kristallisieren, die ich wahrnehme. Irritation ist eine Frage der eigenen Bezugspunkte und Geschichte. Mich irritiert die Behauptung von Naturalismus im Film. Ich suche Widersprüche auf allen Ebenen, dazu ist Film da. Die musikalische Welt von Luzifer liegt in den Händen von Tim Hecker, dem ich zu hundert Prozent vertraute. Es sind Hände, aus denen eine höhere Ebene der Unberechenbarkeit und Sehnsucht in den Film fließt. Tim hatte mir schon zu ersten Kurzfassungen im Schnitt Musikstücke geschickt, in denen er die innere Welt der Figuren, ihre Rückbesinnung zur Natur, die Todesmaschinerie des Raubabbaus an der Natur und die unsichtbare Hauptfigur des Films musikalisch dargestellt hat. Das war für mich einer der spannendsten Prozesse.


Die Vögel, zu denen Johannes eine sehr nahe Beziehung hat stehen, im ständigen Spannungsverhältnis zu den technischen Flugobjekten, die anfangs nur als Eindringlinge nach und nach zu Invasoren werden. Stehen die fliegenden Tiere und Objekte symbolisch für eine aktuelle Transformation und den Gedanken, dass es auch in Gegenden der Weite und Freiheit schlechthin kein Entkommen vor der Gier des Kapitalismus gibt?

PETER BRUNNER:
So still wie während der Pandemie war es in drei Jahren Motivsuche in den Alpen sonst nie. Ich fürchte, wir schaffen uns als Menschen selbst ab. Wir reduzieren, was wir vom Menschen wissen wollen auf das, was nicht gerade das Menschliche ist. Wir schaffen eine Welt, in der unser Interesse im Vordergrund steht und wir mit Algorithmen, Digitalisierung und dem Stock Market die Welt beherrschen – aber wer sind wir dann als Menschen? Wir können nur in einer begrenzten Membran zwischen den Steinen und den Wolken überleben. Unser kollektiver Raubabbau macht vor unserer Umwelt ebenso wenig Halt wie wir vor uns selbst. Spiritualität wird durch Naturwissenschaften abgeschafft, wobei diese die Grundfragen nicht beantworten können, wie – Was kann ich wissen? Was muss ich tun? Was darf ich hoffen? Kapitalismus ist nur ein Symptom einer völlig falschen Art über uns nachzudenken und mit uns und mit unserem Planeten umzugehen. Wir bräuchten nicht nur Menschenrechte, sondern auch Rechte für Flusssysteme, Bergketten oder Tierarten.  


Umgekehrt ist die fanatische Spiritualität auch eine falsche Art über Gott und die Schöpfung nachzudenken und mit sich selbst umzugehen. Liegt hier der zentrale Denkanstoß, den Luzifer auslösen soll?

PETER BRUNNER:
Fanatische Spiritualität erinnert mich an eine obsessive Auseinandersetzung und Antwortsuche auf Fragen, die unbeantwortbar bleiben, also an ein Paradoxon. Womöglich war es ein derartig paradoxer Antrieb der Johannes Mutter und Vater dazu brachte das Kind in der Natur aufzuziehen, um es dort vor einer Welt zu schützen, die zu viele Antworten hat. Für mich geht es hier um zwei Pole. Die Mutter und Johannes. Das Fanatische und die Spiritualität. Das Fanatische ist eine Beurteilung des anderen, ein Ausschluss des anderen, wobei die Spiritualität eine Beobachtung und das Andere zulässt.  


Wie kann man sich in der Praxis die teilweise wahrscheinlich sehr schwierigen Aufnahmen mit den lebenden wie den technischen „Flugobjekten“ vorstellen? Was hat Sie dazu bewogen, dass das Tier, zum dem Johannes ein starkes Naheverhältnis hat, ein Greifvogel ist?

PETER BRUNNER:
Die Aufnahmen mit den Adlern und Greifvögeln waren wesentlich komplexer, weil diese Lebewesen sehr sensibel und intelligent sind. Aber wie in der Arbeit mit den Drohnen geht es um die Planung in der Vorarbeit. Mich interessiert der Ansatz, das sozial Realistische mit dem poetisch Abstrakten zu befeuern. Die Kollision zwischen den echten Menschen und echten Orten, die ich in der Recherche finde und dem inneren Rhythmus von Fiktionen. Die Kombination dieser Ansätze braucht viel Planung und Vorarbeit sonst bringt man den Film um die Zufälle und Unfälle, die man verdichten will.  


In Luzifer geht es sehr stark um die gefühlsmäßige Darstellung von Verbindungen – jener zur Natur, zu Gott, zur Vaterfigur, zwischen Mutter und Sohn, zu den Tieren. In einem unserer vorangegangenen Interviews sprachen Sie in Zusammenhang mit Ihrem filmischen Schaffen von einem extremen Erleben und Ausloten des Fühlens. Lag im Erspüren dieser Verbindungen und ihrer filmischen Darstellung die größte Herausforderung in diesem Projekt?

PETER BRUNNER:
Mein Hauptinteresse war die Kristallisation der Emotionen und Ideen, die mich bewegt haben. Eine Hauptübersetzung war die Beziehung von Johannes und seiner Mutter. Unser Ziel war es, ein glaubhaftes Mosaik einer Beziehung lebendig zu machen, die die menschliche Widersprüchlichkeit der wahren Geschichte emotional für ein Publikum miterlebbar macht. Beide sind existentielle Lebensstützen und Lebensmittelpunkte füreinander. Im Film überleben sie auf 2400 Metern in der Isolation. Auch hier brauchte es Zeit und Geduld, um eine echte Beziehung aufzubauen. Die Beziehung zu den Menschen und Orten, die ich für den Film auswähle und unsere Freundschaft verändern immer auch die Geschichte und den Film selbst. Die Landschaften, Tiere und Motive und wie unser DoP Peter Flinckenberg sie schlussendlich gefilmt hat, waren wiederum immer ein Resultat dieser Kristallisation zu akkuraten Bildern. Wir haben versucht, dem Publikum ihre Welt durch Johannes inneren Rhythmus erleben zu lassen, die durch das Tempo seiner eigentümlichen Gedanken entsteht. Schlussendlich geht es um etwas Abstraktes: den Ausdruck eines inneren Zustandes.


Das Wasser, der Boden, die Lüfte, das Feuer, das Holz prägen durchgehend die Bilder Ihrer Erzählung. Haben die Elemente in dieser Fusion und Kollision von Natur und Spiritualität die durchgehende bildliche Grundierung geboten?

PETER BRUNNER:
Die Natur war eine wesentliche Helferin, die mitgespielt hat. Mit dem Bildhauer Aron Demetz war ich im Hochmoor auf der Suche nach der optimalen toten Zirbe in der von der Natur beseelte Gesichter vorhanden sind. Ich wollte eine Zirbe finden, die wir auf dem Plateau auf einem Hügel zwischen den Teichen platzieren können. Als wir unsere Zirbe fanden war das ein magischer Moment. Die Form, das Moos im Baum, die Höhlen in der Struktur und die Aschenfarben auf der Rinde. Er musst nur noch mit dem Helikopter auf unseren kleinen Golgota-Hügel geflogen werden. Nachdem er von Aron am Hügel präpariert wurde, arbeitete die Natur bis zum Drehbeginn weiter.    


Sie haben zwei außerordentliche Hauptdarsteller*innen: Mit Susanne Jensen keine professionelle Schauspielerin, aber eine faszinierende Persönlichkeit, die mit ihrer äußeren Erscheinung und auch ihrer persönlichen Geschichte vieles für die Rolle eingebracht hat. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit ihr?

PETER BRUNNER:
Susanne Jensen ist Pastorin der Nordkirche, Missbrauchsüberlebende, Künstlerin und Ausnahmepersönlichkeit. Ich habe sehr lange nach einem Menschen gesucht, der die komplexe Gefühlswelt dieser unkonventionellen Mutterfigur echt machen kann und eine wahre Tiefe für diese wahre Geschichte sein kann und will. Zusätzlich wollte ich nicht, dass jemand den Glauben dieser Frau spielt, sondern ich wollte jemanden finden, der einen Glauben hat so stark wie der von Johanna von Orléans. So vieles im Filmhandwerk ist Lüge, aber jede Chance auf Wahrhaftigkeit am richtigen Ort kann einen enormen Unterschied ausmachen. Susanne hat trotz aller Widerstände in ihrem privaten und beruflichen Leben dafür gelebt, diese Mutter zu sein. Durch ihre schwierige Vergangenheit waren die Vorarbeit und der Dreh ein sehr herausfordernder Prozess für sie und das Team. Susannes Mut und Stärke, ihrer Vergangenheit durch diese Rolle zu begegnen, war eine der bewegendsten Erfahrungen während der Dreharbeiten.     


Franz Rogowski spielt ihren Sohn, der kaum der Sprache mächtig und in seiner geistigen Entwicklung stark zurückgeblieben ist. Er hat wie schon erwähnt einen Adler, zu dem er ein sehr nahes Verhältnis hat. Vor welchen Herausforderungen stand er für die Erarbeitung dieser Rolle. Wie haben Sie gemeinsam mit beiden Darsteller*innen den Dreh vorbereitet?

PETER BRUNNER:
Neben Franz Rogowski wurden ausschließlich Laiendarsteller besetzt. Wir lebten teilweise zusammen in der Natur, enthornten und kastrierten Kühe oder jagten mit dem Adler. Franz arbeitete über ein Jahr mit den Greifvögeln, fällte Bäume mit der Axt und kletterte Steilwände hoch. Johannes, die Figur die Franz darstellt, ist ein Kind im Körper eines Mannes. Sein Rüstzeug ist durchlässiger, als das anderer. Wie die Hauptfiguren in To the Night und Mein blindes Herz ist Johannes in LUZIFER ein hochsensibler Mann, der nicht den männlichen Rollenvorbildern entspricht. Er passt nicht hinein. Er ist der Letzte und Erste, der seine Sprache spricht, ein Ausgestorbener zu Lebenszeiten, ein Widerspruch. Franz Rogowski ist ein enormes Risiko eingegangen mit wilden Tieren, Laiendarstellern und meinem spezifischen Vorhaben, in der ausgesetzten Natur zu arbeiten, aber er hat sich eingelassen und für die Geschichte und unsere Ziele gelebt.   
 

Der Schauplatz scheint viele Anforderungen gestellt zu haben: von der imposanten Schroffheit der Berge über weichere moorige Landschaften zur Alm und den Wäldern. Wie hat sich die Suche nach dem Drehort gestaltet. Wo sind Sie fündig geworden? Was hat es für die Produktion bedeutet, in dieser Höhe und über die Jahreszeiten zu drehen?

PETER BRUNNER:
Die Suche nach den Drehorten hat sich über drei Jahre gestreckt. Ein hermetisch naturbelassenes Hochmoor in dieser Höhe zu finden, das es erlaubt, 360 Grad zu drehen und unseren produktionellen Notwendigkeiten standhält, war eine Herausforderung. Unser Hautmotiv lag auf 2400 m Höhe. Wegen der Rostfarben der Vegetation und dem Nebel wollten Peter Flinckenberg und ich im späten Herbst drehen, weswegen wir mit Schnee rechnen mussten. Die Dreharbeiten verliefen wegen des unberechenbaren Wetters höchst wechselhaft. Die Planung änderte sich ständig. Es war ein Drahtseilakt für alle. Das Luzifer-Team und die Ulrich Seidl Filmproduktion haben dieses ständige Adaptieren und Reagieren möglich gemacht. Ein Dreh in den Elementen schenkt einem einzigartige Momente, aber es hat auch einen Preis. Ich bin sehr dankbar, dass ich ein so standhaftes und mutiges Team hatte. Schneestürme, Lungenentzündungen und Geburten, aber dafür erlebten wir einzigartige Naturmomente im Kollektiv.    


Interview: Karin Schiefer
Juli 2021


«Kapitalismus ist nur ein Symptom einer völlig falschen Art über uns nachzudenken und mit uns und mit unserem Planeten umzugehen.»