INTERVIEW

Johannes Holzhausen im Gespräch über AUF ALLEN MEEREN

 

Was passiert in einer Phase des Umbruchs wie nach Zusammenbruch der Sowjetunion mit Menschen, die sozial sehr hoch standen und plötzlich ins Bodenlose stürzen. Mich interessierte die Frage, wie Realität erlebt wird und der Aspekt, dass sich die Russen damit auseinandersetzen mussten. Die Seelenlandschaften, das Geflecht von Außen- und Innenwelt, das ist mein eigentlicher Zugang. Wie finden wir Menschen unseren Platz und welchen Preis müssen wir dafür bezahlen, Teil einer sozialen Gruppe zu sein.

 

Auf allen Meeren steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte des größten sowjetischen Flugzeugträgers, der Kiev. Wie erfährt man vom unrühmlichen Ende eines militärischen Prestigeobjektes und wie wurde es schließlich auch Thema eines Films?

JOHANNES HOLZHAUSEN: Ich hatte von Anfang an eine Verbindung zu einem Freund, der mit Russland handelt. Er erzählte Anfang der neunziger Jahre von schrottreifen Kriegsschiffen, die damals immer mit einem Schleppschiff nach Indien transportiert und verschrottet. Als ich davon hörte, war ich sofort interessiert, da mir das Motiv des Fliegenden Holländers, des leeren Schiffes und der Weiter des Meeres gefiel. Für mich war damit ein schöner Ausgangspunkt, ein assoziativer Raum für etwas, was ich damals noch nicht so genau wusste, geschaffen. Das Meer ist ja ein Spiegel, auf den man alles Mögliche projizieren kann. Das Projekt hat eine außergewöhnlich lange Geschichte. Ich hab mich dem sehr mühsam und langwierig angenähert. 1993 war ich das erste Mal in Moskau und startete völlig naiv einen Versuch, über die Botschaft einen Brief an den Verteidigungsminister zu schreiben und bin völlig abgeblitzt. Ich blieb aber sehr hartnäckig und bohrte weiter und es ging dann immer in Jahresschritten. 1994 fuhr ich mit meinem Kameramann in den Norden Russlands, um zu schnuppern, es war damals aber noch keine Rede davon, auf dieses Schiff zu kommen. 1995 fuhren wir auf einem Schleppschiff von Singapur nach Indien mit und machte dort ein kleineres Video. Dabei merkte ich zwei Dinge: Diese Art der Reise hat gewisse poetische Qualitäten, für sich allein war sie zuwenig, es brauchte einen Kontext mit den Menschen und dem Ort wo es herkommt.

 

Wann kam schließlich die Kiev ins Spiel?

JOHANNES HOLZHAUSEN:  1996 begann ich auf der Basis dieses Videos die Finanzierung aufzustellen und mein Freund nannte mir die Kiev als das nächste Schiff, das zum Verkauf vorgesehen war. Ich recherchierte ein wenig und stellte fest, dass es sich um den größten Flugzeugträger der russischen Marine, der in aktiven Zeiten 1500 Mann Besatzung hatte, handelte und damit ein hoher Symbolcharakter gegeben war. Aufgrund der Dimensionen des Schiffes gestaltete sich der Verkauf aber als viel schwieriger als erwartet.

 

Diese äußeren Umstände verlangten von Ihnen, in der Konzept- und Drehbuchphase sehr viel offen zu lassen?

JOHANNES HOLZHAUSEN:
Ich wusste, da gibt es diese Reise und das Schiff, die Kiev allein war aber keine Geschichte. Wir drehen also zuerst mit den Menschen und das bekam eine eigene Dynamik. Das Schiff selber kam erst am Schluss, erstens wurde es so lange nicht verkauft, zweitens warteten wir eineinhalb Jahre auf die Drehgenehmigung für den Ankerplatz, wo das Schiff auf seinen Verkauf wartete. Der Dreh richtete sich immer nach dem Spielraum, den wir gerade hatte. Es herrschte eine Dynamik der äußeren Umstände und es gab immer Momente, wo wir nicht wussten, wie unser Spielraum ausschauen wird, was sich noch ergeben wird. Tendenziell ist das im Dokumentarfilm ein Problem und gleichzeitig auch eine Chance, dass man mit einer Vorstellung, wie das ausschauen kann, beginnt und sich das nach und nach verändern kann und es stellte sich die Frage "Wie geh ich damit um?". Da ist jetzt ein neuer Freiraum, den lote ich aus, um das Gesamtkonzept wieder daran anzupassen. Prinzipiell ist es unmöglich, dass westliche Filmteams innerhalb eines militärischen Sperrgebietes drehen. Wenn man die richtigen Leute kennt, die wissen, wie man mit den richtigen Leuten redet, dann geht das. Die Kunst ist, diese Leute zu finden. De facto war es eine Summe aus zielgerichtetem Zufall.

 

Ausgangspunkt waren also die Menschen, die auf der Kiev Dienst geleistet hatten. Wie machten Sie sie ausfindig.

JOHANNES HOLZHAUSEN: Das Dokumentarfilmstudio, mit dem wir zusammenarbeiteten, hatte Kontakte zu einem Offizier einer Marineschule. Ich suchte aufgrund der persönlichen Daten einige raus und unsere erste Recherchereise ging nach Petersburg, wo ich ungefähr 30 Leute befragte. Die Hauptüberraschung war - und ich war entsetzt darüber -, wie ähnlich sich diese Offiziere waren. Die hatten so eine Gehirnwäsche hinter sich und gaben nur einstudierte Floskeln von sich, die sie nicht nur sagten, sondern auch glaubten. Man konnte die oft kaum unterscheiden. Das war eine der anstrengendsten Sachen in der Recherche, wo ich mit gut 100 Offizieren geredet habe, herauszufinden, wer interessant war. Durch die Gespräche ergab sich der Umstand, der mich interessierte: Was passiert in einer Phase des Umbruchs wie nach Zusammenbruch der Sowjetunion mit Menschen, die sozial sehr hoch standen und plötzlich ins Bodenlose stürzen. Mich interessierte die Frage, wie wird Realität erlebt und der Aspekt, dass sich die Russen damit auseinandersetzen mussten. Ich glaube, das ist mein Zugang - die Seelenlandschaften, das Geflecht von Außen- und Innenwelt. Wie wir Menschen unseren Platz finden und welchen Preis wir dafür bezahlen müssen, Teil einer sozialen Gruppe zu sein und ob das mit unserer Psyche in Einklang ist. Darauf arbeite ich in meinen Interviews hin.

 

Wie sah es grundsätzlich mit der Gesprächsbereitschaft dieser Männer aus?

JOHANNES HOLZHAUSEN:  Die Anfangsschwierigkeit war, dass sie zum ersten Mal mit jemanden aus dem Westen, also mit dem "Feind", redeten. Ich hatte ein gutes Mittel, mein Urgroßvater war Offizier in der österreichisch-ungarischen Marine, ich hatte ein Foto von einem Gemälde von ihm mit einem Schiff, das ich als Visitenkarte vorlegte. Damit war schnell das Eis gebrochen, weil ich ihnen nicht mehr auf der Ebene eines Fremden begegnete. Wir nahmen alles auf Tonband auf, Susanne fasste zusammen und aufgrund dieser Zusammenfassungen entschied ich, mit wem ich drehen würde.

 

Nach welchen Kriterien fiel die Auswahl?

JOHANNES HOLZHAUSEN: Ich pickte mir aus dem riesigen Eintopf die Figuren raus, die mich neugierig gemacht hatten. In dieser ersten Phase drehten wir mit einem Offizier, der im Film am Schluss kommt, mit der Flagge in der Hand. Er fiel mir auf, da zwischen den üblichen Reden immer ein Schuss mehr Sentimentalität war. Er hat beim Dreh tatsächlich sein Spiel mit der Fahne, diese Mischung aus Schmierentheater, Sentimentalität und Wahrheit gespielt und es gab die Momente, wo das kippte. Wir begannen im Sommer 1997, als der Sohn eines Freundes von ihm die Aufnahmeprüfung für die Marineakademie machte. Wir drehten die Szene, die jetzt am Schluss ist, gleich am Anfang und das hat den Film sehr beeinflusst, weil ich mir sagte - seltsam, jetzt haben diese Offiziere gerade eine individuelle Katastrophe hinter sich, aber das ist vollkommen egal, da wird auf dieser Schiene der Tradition weitergefahren. Völlig egal, welche Zukunft diese jungen Menschen erwartet, wie man selber darunter gelitten hat. Egal, die Kinder sollen das gleiche machen. Die Kraft von Traditionen ist verankert und läuft ungebrochen die weiter. Das Beziehungsgeflecht aus Privatheit und Beruf, das mir in den Gesprächen ein wichtiges Thema war, entstand sicher aus dieser Szene, die wir da am Anfang drehten.

 

Der Drehverlauf kam ganz anders als geplant.

JOHANNES HOLZHAUSEN: Als wir in der Ukraine drehten, dachte ich, dass der Schiffsverkauf passieren würde und war eigentlich schon nervös, dass das passieren würde und fürchtete, abbrechen zu müssen. Es gab schon Inserate in der Financial Times. Dem war nicht so, die wurden das Ding nicht los. Wir hatten unseren Hauptteil gedreht und wussten nicht wie es weiter geht. 1999 ging ich davon aus, die Kiev würde niemals verkauft werden. Wir haben dann den Film geschnitten ohne diese Reise. Mit dem Manko, dass die ursprüngliche Idee des Films, die Reise, gar nicht mehr da war. Ich war deswegen auch nie zufrieden mit dem Ergebnis. Und schließlich doch noch die Wende... Plötzlich Anfang 2000 erfuhr ich über meinen Kontakt in Moskau, dass es einen neuen Käufer gab, diesmal aus China. Damit wollte ich noch einmal alles auf eine Karte setzen. Das Budget war auch schon verbraucht, wir reichten dann nochmals ein. Ich reiste nach Moskau, überzeugte den Zwischenhändler, dass ich da mitfahren muss, der wiederum die Chinesen, dass da unbedingt zwei Österreicher (Kameramann und Regisseur) mitfahren mussten. Es klappte plötzlich wie am Schnürchen im Mai 2000 fuhren wir in den Norden, das chinesische Schleppschiff war schon am Ankerplatz, das Anhängemanöver begann gerade.

 

Diese Fahrt war ja wie die Belohnung.

JOHANNES HOLZHAUSEN: Es war sehr geruhsam, man hat keine großen Strecken, um die Kamera aufzubauen, fixe Essenszeiten. Nach den ersten vier Tagen wartet man schon darauf, dass etwas passiert. Es war aber gut, soviel Zeit zu haben, weil ich dann auf dem Schiff das Drehbuch nochmals neu geschrieben habe. Nach fünf Wochen war klar, wie die Reise verläuft und wir fuhren von Kapstadt wieder zurück. Das Ende des Films verweist noch kurz auf das absurd-komische "neue" Leben der Kiev. Während der Schnittphase im September 2000 kam mir, ich brauche noch ein Schlussbild. Mit dem Schwesterschiff Minsk hatten die Chinesen bereits einen Touristenpark gemacht und planten dasselbe mit der Kiev in einem größeren Maßstab. Es ist ein Potpourri aus Errungenschaften der Sowjetmacht und Seemannsromantik, das Personal trägt Phantasieuniformen, der Höhepunkt ist im Hangar, wo es eine Art Prater steht und wo es eine Show gibt und die Leute zahlen einen phantastischen Eintrittspreis. Für europäische Verhältnisse ist das völlig durchgeknallt. Die Geschichte ist aber für die so weit weg, dass es nur noch eine Phantasy-Gschichte ist.

 

Wie lange kann man an ein Projekt glauben?

JOHANNES HOLZHAUSEN: Als Regisseur hält man stur an einer Vorstellung fest, ohne es erklären zu können. Man steuert auf etwas hin und bleibt einfach dran, solange es geht. Mein eigentlicher Respekt gehört meinem Team, die das mitgetragen haben, sowohl Joerg Burger, der Kameramann, der wie ein Fels in der Brandung dabei war, Susanne Kotrba, die nicht nur Regieassistenz machte, sondern auch brilliant dolmetschte, und die all diese unbequemen Umstände durchgestanden hat. Und Michael Palm, der fast ein Jahr geschnitten hat. Alle arbeiteten wir unter der Prämisse - "wir versuchen auf den Kern vorzustoßen, obwohl der in dem Augenblick nicht so benennbar war". Alle haben mitgezogen auch die Produktionsfirma, dass der Film das Maximum erreicht. Ich selber bin halt so fanatisch, dass ich das dann mache, bei mir ist das am wenigsten überraschend. Als wir alles ohne die Reise hatten und wir meinten, das blöde Ding würde nie verkauft werden, hätten wir den Film auch fertig stellen können und auch müssen, aber es war nicht, das, was ich wollte. Und jetzt zeigt der Film, was ich wollte. Wir sind an diesen Punkt gekommen.

 

Was war für Sie das Faszinierende an der Kiev?

JOHANNES HOLZHAUSEN:  Das Schiff interessierte mich nur als Assoziationsraum. Die Sowjetunion, ihr Untergang, die Männerwelt, die Mythen, die Propaganda. Das Ding an sich ist ein Haufen Schrott, mehr nicht. Für mich ist es irgendwie ein Potemkisches Dorf. Ich stellte mir dieses Schiff immer so vor, dass sich da diese Männer versammeln, sich gegenseitig feiern und gegenseitig ihre Bedeutung bestätigen. Auf der anderen Seite hatte das Ding ein ganz schönes Zerstörungspotenzial. Diese zwei Ebenen haben sich irgendwie gegenseitig ausgeblendet, wenn die Offiziere über Technik und über ihre Wichtigkeit redeten. Aber ein reale Kriegssituation wie sie durchaus denkbar war, haben die sich nie richtig vorgestellt. Es war ein Spielplatz, das Schiff als bedrohliches Potenzial ist ja im Film nur so angerissen, wenn die NATO-Flugzeuge fliegen. Eigentlich gingen alle davon aus, dass es zu keinem Erstfall kommen würde.

 

Warum eröffnet der Film mit einer Anspielung an ein Märchen?

JOHANNES HOLZHAUSEN:  Ich wählte diesen Zugang, weil ich keinen Film machen wollte, der auf einer objektiven Ebene die Geschichte dieses Schiffs erzählt, sondern einen Film darüber, wie etwas beschrieben wird, was nicht mehr da ist. Der letzte Kapitän redet über die Mannschaft, die nicht mehr da ist und die Mannschaft redet über das Schiff, das nicht mehr da ist. Diese ganz subjektiven Zugänge, diese Projektion des Schiffes und des Meeres einzufangen, das war mir wichtig. Es wird aber immer über die Figuren erzählt, es gibt keine Metaebene, die das korrigiert, es muss sich aus dem Kontext der Figuren untereinander ergeben. Der Großvater, der seinem Enkel erzählt ist ein stimmiger Einstieg in den Film, weil ich damit nicht mehr versprechen will, als der Film ist. Ich wollte das auf einen gewissen Blickwinkel fokussieren, nämlich das Weitergeben von Traditionen, von Romantik, mit der das immer verbunden ist und von Phantasien, die gewisse Dinge auslösen und dass gewisse Phantasien notwendig sind, um überhaupt existieren zu können.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)