INTERVIEW

Barbara Gräfter im Gespräch über MEIN RUSSLAND

 

«Die kulturelle Vereinheitlichung, der Amerikanismus machen mich ganz wütend. Die slawische Seele ist etwas anderes und Osteuropa ist eine spannende, unentdeckte Welt und das wird alles niedergewalzt. Ich halte den kulturellen Imperialismus des Westens für fürchterlich, es geht um überhaupt nichts mehr, nicht um Religion, nicht um Ethik, sondern nur mehr ganz banal ums Geld.»

 

Ihr beruflicher Werdegang ist für eine Filmemacherin eher ungewöhnlich?

BARBARA GRÄFTNER: Filme machen wollte ich schon immer. Dazwischen war der Wunsch, Ärztin zu werden total stark und real, ich wollte in der Entwicklungshilfe arbeiten. Ich schloss mein Medizinstudium mit 32 ab und hatte meinen ersten Job im Spital und dann sagte ich mir da bleibst du jetzt und meinen Traum werde ich nie erfüllen können. Das Schreiben war etwas, wo ich immer ein wenig Bestätigung erhielt, dass ich da eine Gabe hätte und ich hatte immer im Hinterkopf, das möchte ich einmal umsetzen, aber zuerst muss das Studium erledigt werden... Für mich hat sich immer die Frage gestellt: Wie lassen sich beide vereinen? Drehbuchschreiben war da in gewisser Weise die ideale Verknüpfung zwischen Schreiben und Film. Zum damaligen Zeitpunkt war die Filmakademie der einzige Platz in Österreich ist, um das zu lernen. Ich meldete mich zur Aufnahmeprüfung an, das Durchschnittsalter ist dort 22 bis 25, und ich wurde wirklich aufgenommen. Zuerst in Drehbuch bei Walter Wippersberg, der mich sehr unterstützt hat, später dann auch in Regie bei Peter Patzak.

 

Was bedeutet es, in diesem Alter noch einmal eine Ausbildung zu beginnen?

BARBARA GRÄFTNER: Ich hatte ganz einen anderen Druck, als die jüngeren Kollegen, ich wollte keine Zeit mehr vertun. Die ersten zwei Jahre auf der Filmakademie hat man Fulltime-Programm von 9 Uhr in der Früh bis spät am Abend. Für diese Zeit hab ich mir einen Kredit aufgenommen und Schulden gemacht, die ich jetzt noch habe. Ich musste das einfach machen, ich bin dem nicht ausgekommen. Jetzt nach dem Max Ophüls- Preis, da ist so ein Punkt, wo ich es wirklich wissen will. Ich bin schon total in meinem nächsten Film. Nach einem fertigen Film weiß man ja was man alles besser machen könnte und dann hat das alles eine Eigendynamik.

 

War MEIN RUSSLAND on Anfang an als Langfilm geplant?

BARBARA GRÄFTNER:  Von der Schule aus hätte es 20 Minuten haben dürfen, dann hab ich so lange insistiert, bis ich zwei Projekte zusammenlegen konnte. Das machte schon 40 Minuten. Das Budget für zwei Kurzfilme ist auch nicht einmal 50.000 Schilling. Es bleibt einfach beim Schnorren. Wenn man da nicht Leute hat, die einem umsonst helfen, ist es unmöglich, so ein Projekt zu realisieren. Das Drehbuch war zu lange und wir standen vor der Alternative, es nicht zu machen oder einfach lange zu machen und da übernahm die Bonusfilm über Rückstellungen, sprich Gratisarbeit die Produktion.

 

Ist der Film eine Art Kommentar zur Osterweiterung?

BARBARA GRÄFTNER: Die kulturelle Vereinheitlichung, der Amerikanismus machen mich ganz wütend. Die slawische Seele ist etwas anderes und Osteuropa ist eine spannende, unentdeckte Welt und das wird alles niedergewalzt. Ich halte den kulturellen Imperialismus des Westens für fürchterlich, es werden auch ganz falsche Werte produziert. Und was letztlich für mich das Verwerfliche ist, es geht nur ums Geld und sonst überhaupt nichts mehr, nicht um Religion, nicht um Ethik, sondern nur mehr ganz banal ums Geld. Ostöffnung heißt dann nichts anderes als Angliederung an das westliche imperialistische System.

 

Der Film ist sehr dialogbetont, waren sie bis ins Detail ausgeschrieben oder ist viel erst mit den Schauspielern entstanden?

BARBARA GRÄFTNER: Die waren in der Umgangssprache ausgeschrieben. Ich sagte auch nie Schluss, sondern wir haben solange die Kamera laufen lassen, bis bei ihnen der Dampf draußen war. Das Konzept war, Kamera und Ton laufen den Schauspielern nach und fangen diese ein, und nicht umgekehrt. Es wurde nur Available Light verwendet, dadurch musste man nicht schauen, ob sich jemand rausbewegt und auch die Kulisse war rundum voll ausgestattet. So ist es möglich, dass man die Schauspieler wirklich auslässt. Ich schaute auch sehr darauf, die Laien auf Typ zu besetzen. Die waren das wirklich das, was sie da gespielt haben.

 

Wie wurden die Laien gecastet?

BARBARA GRÄFTNER:  Für die russische Familie bin ich in russisch-orthodoxe Messen gegangen hab dort handgeschriebene, von meinen russischen Verwandten übersetzte Zettel verteilt. Dann war ich beim Ball der Ukrainer und schaute, wer sich auffällig benimmt. Meiner Erfahrung nach sind Schauspieler immer Selbstdarsteller, wenn jemand beim Tanzen und in jeder Geste ein bisschen eitel ist, die können auch spielen und das stimmte immer. Ich bin dann hingestartet, fragte sie, ob sie mitmachen wollten. Unglaublich, was es da für Talent gibt.

 

Die Arbeitsweise mit den langen ungeschnittenen Passagen setzt eine sehr präzise Vorbereitung voraus?

BARBARA GRÄFTNER: Das geht, wenn die Darsteller in der Rolle sind und man sie lässt. Ich hab nie verstanden, wie man in kurzen Takes drehen kann, Satz um Satz und dann Gegenschuss. Schauspieler sagen, dass Film eine Arbeit ist, wo man das können muss, aber mir macht es keinen Spass, so zerstückelt zu arbeiten. Da will ich gar nicht dabei sein. Dass die Blicke immer stimmen, kommt daher, dass die einfach wirklich durchgehend gespielt haben. So ein Take dauerte 20 Minuten und während dieser Zeit waren alle in ihrer Rolle.

 

Wurde viel geprobt?

BARBARA GRÄFTNER:  Nein, dazu war keine Zeit, wir hatten nur zwölf Drehtage. Sie hatten das Buch monatelang vorher, wir sprachen sehr viel darüber und sie fragten mich immer genau über die Personen aus, wenn sie gerade wieder beim Lesen waren. Ich schaute drauf, dass sie so viel wie möglich von sich einbringen konnten. Dadurch waren diese langen Takes möglich, ohne dass einer rausfällt. Das Essen mit dem Schweinsbraten, das dauerte sicherlich länger als 20 Minuten. Dazwischen hab ich schon hineingerufen. Die Kamera durfte aber nicht aufhören zu drehen, ich wollte, dass der Schauspieler seinen Punkt findet, wo er einsteigt.

 

Das ganze Arbeitskonzept erinnert sehr stark an Dogma?

BARBARA GRÄFTNER: Wir, die Bonusfilm, haben uns so eine Art Reinheitsgebot auferlegt, dass wir nicht mit Tricks arbeiten, bei den Dokumentarfilmen wahrhaftig bleiben, dass wir beim Spielfilm die Geschichte und die Schauspieler im Zentrum haben und keine Effekte heischen. Wir haben das in die Firmengrundlagen hineingeschrieben und ich stehe dazu. Die Sache um Dogma mag ein Vermarktungsschmäh von Thomas Vinterberg und Lars von Trier gewesen sein, aber dem schließ ich mich an. Es ist auch als Antwort auf Hollywood zu verstehen, denn wie will man denn diesen Kapitalmassen irgend etwas entgegenhalten außer etwas Inhaltliches oder Moralisch-Ethisches. Die Bonusfilm will aber eine Tochter machen, mit der wir es hoffentlich schaffen lukrativere, auch kommerziellere Produktionen an Land zu ziehen, um auch davon leben zu können.

 

 Wie sieht es mit nächsten Projekten aus?

BARBARA GRÄFTNER:  Heuer im Winter wird die Langzeit-Bergbauern-Doku Der Weg nach Heimat fertig. An dem arbeiten wir schon seit langem, weil wir die Protagonisten im Jahreslauf beobachtet haben. In dem Film wird "der steile Kontinent" quasi entdeckt - abseits vom Klischee werden seine Menschen sehr sorgfältig portraitiert. In Gebirgsdörfern gibt es ganz andere Werthaltungen und Wirtschaftskreisläufe als in der Stadt - das interessiert uns, vor allem als Alternative zu den explodierenden Städten. Laut Statistik ist der ländliche Raum in 20 Jahren entvölkert, bis auf ein paar Großbetriebe und die Tourismuszentren. Das erschreckt mich, ich frage mich, ob wir uns diesen Verlust leisten können. Das andere Doku-Projekt, Der Traum vom Schweben, ist beinahe ausfinanziert. Das ist eine Dokumentation über eine Gruppe homosexueller Synchronschwimmer, die ich in Frankfurt entdeckt habe.

 

Bergbauern und Homosexuelle, osteuropäische Einwanderer – Minderheiten und Randgruppen sind so etwas wie ein Leitmotiv?

BARBARA GRÄFTNER: Ich glaube wir in der Bonus leiden an so etwas wie einer übertriebenen Opferidentifikation. Es geht immer darum zu glauben, irgend jemanden schützen zu müssen, die Welt ist ja auch ungerecht und grauenvoll. Vielleicht geht es aber in der Kunst in Wirklichkeit immer darum, was Menschen sich und anderen antun. Ich glaube, dass ein Großteil der Kreativität aus diesem unlösbaren Konflikt entspringt. Aus dem nicht Verarbeiten können des Chaos, an dem man sonst ja scheitern müsste, wenn man nicht irgendwie versucht, es im Geist umzudrehen.

 

Es geht doch letztlich immer um das Thema Böse gegen Gut. Kann Film etwas bewirken?

BARBARA GRÄFTNER:  Ich überleg mir das sehr oft, ob Film etwas verändern kann. Manchmal denke ich mir Ja. Vor allem Dokumentarfilme, darum wehre ich mich so dagegen, einen Fake als Dokumentarfilm vorzuführen. In meiner Generation hab ich das Gefühl, dass das Weltbild bereits vom Fernsehen geprägt ist. Wenn man sich diese Tatsache vor Augen hält, glaube ich, dass Film doch etwas bewirken kann. Weil es Information für viele ist, und mit Information fängt alles an. Ich glaube aber nicht, dass ein Kunstwerk die Menschen direkt verändert. Über die politische Wirksamkeit sollte man sich keine Illusionen machen, obwohl nicht konforme Kunst von den Machthabern immer gefürchtet und verfolgt wird.

 

Gibt es ein Projekt, an dem du schreibst, während die Produktion von Der Weg nach Heimat läuft?

BARBARA GRÄFTNER: Der Arbeitstitel ist Those who survived the plague. Alles, was ich über die achtziger Jahre gelesen habe, ist so enttäuschend. Das beschränkt sich auf eine ewige Wickie, Slime und Paiper -Version und ich frage mich, hat niemand kapiert, was für ein Aufschrei die Punk- und Hausbesetzerbewegung war. Ich hab' diese Zeit total intensiv erlebt, ich lebte in besetzten Häusern, sogar in Amsterdam, weil es dort eine super Besetzerszene gab und dem verdanke ich alles. Durch diesen Aufschrei fand ich für mich eine Möglichkeit, meinen Protest zu leben und mich wirklich zu finden. Es gibt jetzt keine Subkultur mehr, es gibt keine gesellschaftlichen Nischen, du bist entweder in der Gesellschaft oder draußen. Draußen ist Gefängnis oder Psychiatrie. Es nützt ja nichts zu sagen, du kriegst Therapie und prügelst den Polster und sagst Mutter zu ihm. Das muss ja alles wirklich durchlebt werden und die Nischen dazu fehlen heute komplett. Ich hoffe nur, das führt nicht zu einer langsamen, schweren Krankheit der Gesellschaft, wenn sie nicht eh schon schwer krank ist. In dem Film geht es genau darum, die Geschichte einer jungen Frau, die sich durch diese Subkultur selber findet.

 

Hat der Max Ophüls Preis unmittelbar etwas bewirkt?

BARBARA GRÄFTNER:  Finanziell nicht, nicht einmal Referenzmittel, ein Drittel der Produktionskosten wären Referenzmittel, aber da der Film nicht gefördert ist, gibt es nichts. Es hat mir vor allem Vertrauen für mich selber gegeben. Für mich bedeutet es, dass ich unbedingt den nächsten Film machen möchte. Ohne den Erfolg weiß ich nicht, ob ich weiter gemacht hätte. Auf der Akademie ist mir abgeraten worden, Mein Russland zu machen. Das stimmt schon, dass sich Leute immer wieder übernehmen und mit irrsinnigen Schulden aussteigen, das wollten sie mir ersparen, ich hab's trotzdem gemacht. Innerhalb der Bonusfilm stärken wir uns gottseidank gegenseitig. Da ist der Oliver Neumann, der den Schnitt machte und von Anfang an vom Buch begeistert war, der Kameramann Robert Winkler auch, der auch meinte, man könnte das trotz der langen Dialoge super filmen, das braucht man schon, zumindest im engsten Kreis.

 

Die Variante, mit einer etablierten Produktionsfirma ein Buch zu realisieren haben Sie noch nicht überlegt?

BARBARA GRÄFTNER: Doch. Stefan Arndt, der Produzent von Lola rennt, hat gesagt, er möchte beim nächsten Projekt, wo ich das Buch schreibe und Regie mache, dabei sein. Er hat mich gebeten, ein Treatment zu schicken und ich denke, dass wir das mit der X-Film machen werden, hoffentlich. Der einzige Weg, auch bei den Dokus ist mit Koproduktionen zu arbeiten.

 

Sind auch schon weitere Geschichten im Entstehen?

BARBARA GRÄFTNER:  In der übernächsten geht es um die Welt aus der Sicht eines Exhibitionisten. Das Geheimnis der Liebe, so lautet der Arbeitstitel. Das wird ein Spielfilm und ich versuche, etwas über die Liebe zu erzählen, warum es nicht gelingt, einen echten Kontakt herzustellen. Ich finde das Thema so interessant.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)