INTERVIEW

Michael Haneke im Gespräch über WOLFZEIT

«Ich wollte keinen Katastrophenfilm machen, davon gibt's ja unzählige. Mir ging es darum, dass die Leute fühlen, dass alles jeden Tag auch ihnen selbst und hier und heute passieren kann, dass die Geschichte für den hochverwöhnten Menschen in unserer hochindustrialisierten Welt so nachvollziehbar wie möglich ist. Ich wollte einen Film machen, der vom Spektakulären des Katastrophenfilmgenres losgelöst ist. Den Katastrophenfilm haben wir heute ohnehin täglich in den TV-Nachrichten.»


Warum wurde die Geschichte jetzt aktiviert?

MICHAEL HANEKE: Als ich die Geschichte schrieb, war es ein Science-Fiction Film, nun spielt er heute. Der Zuschauer muss nicht mehr auf die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen vorbereitet werden. Ich arbeitete am Buch zu einem anderen Film, als mich die Ereignisse des 11. September überrumpelten und ich sagte mir: da passiert etwas, was mit dem Projekt Wolfzeit sehr viel zu tun hat. Ursprünglich sollte der Film mein erstes Projekt mit Isabelle Huppert sein. Es war aber trotz der Unterstützung von ihr und dem mittlerweile verstorbenen Toscan du Plantier nicht möglich, das Projekt zu finanzieren: zu teuer, zu aufwändig, nicht wahnsinnig lustig, also schwer zu verkaufen. Durch den Erfolg der Klavierspielerin waren die Leute bereit, mehr Geld zu investieren und aufgrund der Aktualität, die der Stoff fatalerweise durch den 11. September erfahren hat, wurde es plötzlich möglich.

 

Worauf bezieht sich der Titel?

MICHAEL HANEKE: Der Titel kommt aus der Edda der ältesten germanischen Dichtung, die einen "Gesang der Seherin" enthält, der den Weltuntergang, also die Götterdämmerung beschreibt. Über die Zeit unmittelbar vor dem Untergang der Götter, heißt es: "Windzeit, Wolfzeit/ keiner will den andern schonen". Aus der Science-Fiction Geschichte ist eine sehr zeitgemäße Jetzt-Geschichte geworden.

 

War dieser Umstand ein Vorteil bei der Inszenierung?

MICHAEL HANEKE: Ich wollte ja keinen Katastrophenfilm machen, davon gibt's ja unzählige. Der entscheidende Punkt bei Katastrophenfilmen ist ja, dass der geschilderte Extremfall, sei es nun ein Krieg, eine Atomkatastrophe, ein ökologisches Desaster o.ä. durch die Übertreibung die Konsumierbarkeit steigert. Je extremer die Ereignisse, desto leichter fällt es dem Zuschauer, sich zu distanzieren. Mir ging es darum, dass die Leute fühlen, dass alles jeden Tag auch ihnen selbst und hier und heute passieren kann, dass die Geschichte für den hochverwöhnten Menschen in unserer hochindustrialisierten Welt so nachvollziehbar wie möglich ist. Ich wollte einen Film machen, der vom Spektakulären des Katastrophenfilmgenres losgelöst ist. Den Katastrophenfilm haben wir heute ohnehin täglich in den TV-Nachrichten.

 

Welche Katastrophe sich ereignet hat, bleibt im Hintergrund?

MICHAEL HANEKE:  Die Katastrophe darf sich jeder aussuchen. Was mich interessiert ist: wie gehe ich unter Leidensdruck mit meinem Nächsten um. Da es nicht um die Frage geht, wie der Normalzustand wieder hergestellt werden kann, bleiben der Überlebenskampf und schließlich die vage Hoffnung, dass es anderswo besser sein könnte? Wie gehe ich damit um, wenn der Strom nicht mehr aus der Dose und das Wasser nicht mehr aus der Leitung kommen. Das ist, simpel gesagt, das Thema. Die Hoffnung ? das ist das Rückgrat der Opfer. Wenn man nicht der ist, der auf den Knopf drückt, sitzt man unten und hofft und wartet, was passiert. Wenn der Strom nicht mehr aus der Dose und das Wasser nicht mehr aus der Leitung fließt, dann wird es ohne Hoffnung sehr schnell sehr dunkel.

 

Konsequenterweise spielt ein großer Teil des Films in der Nacht, in der Dunkelheit. Lässt sich das sowohl ästhetisch wie inhaltlich begründen?

MICHAEL HANEKE: Ich hoffe, es gibt Entsprechung von Inhalt und Form (lacht). Wir haben uns daran gewöhnt, dass es im Film eigentlich nie wirklich dunkel ist, irgendwo gibt es immer ein Lichtquelle. Ich wollte nun wissen: Wie schaut es in einer Geschichte, in der es keine künstliche Beleuchtung gibt, 20 Meter von einem Feuer entfernt aus? Diese Beschränkung des Gesichtsfeldes ist ja ästhetisch etwas Schönes, Unheimliches. Dieses Ausgeliefert-Sein dem Dunkel gegenüber hat mich gereizt. Abgesehen davon ist Dunkelheit im Film natürlich eine technische Schwierigkeit und wir bewegen uns sehr am Limit. Der Großteil wurde im Burgenland an der ungarischen Grenze gedreht, an einer Schnittstelle zwischen West und (vormals) Ost.

 

Außer französischen Autokennzeichen gibt es keinen Hinweis auf den Ort des Geschehens?

MICHAEL HANEKE: Es wird französisch gesprochen, daher spielt die Geschichte wahrscheinlich in Frankreich. Aber der Ort ist völlig nebensächlich. Einen Bahnhof in einer gottverlassenen Gegend kann man überall finden. Sicher ist nur, dass wir irgendwo in der hochindustriellen Seite der Weltkugel sind, denn der Film zeigt die Menschen der Überflussgesellschaft. Menschen, die sich, wie ich und du ja auch in ihrem Wohlleben eingerichtet haben und daher aus ihrem eigenen Erfahrungsbereich heraus diese Geschichte nachempfinden können. Da kommt ein kultiviertes Ehepaar mit seinen Kindern in ein schönes Landhaus, öffnet die Tür und plötzlich ist nichts mehr, wie es war.

 

Anders als bei Klavierspielerin ist Wolfzeit ein Ensemble-Film. Welche zusätzlichen Anforderungen bedeutet das für einen Regisseur?

MICHAEL HANEKE:  Ich finde das dramaturgisch sehr reizvoll. Seit Lemminge, habe ich immer wieder Ensemble-Filme gemacht. Diese chorale Erzählform, wo viele Stimmen ertönen und man viel mehr gesellschaftlichen wie privaten Raum in eine Geschichte einbringen kann, ist reizvoll und natürlich auch anstrengend bei der Inszenierung. Ohne Fleiß kein Preis (lacht). Wolfzeit mit Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, Patrice Chéreau, Béatrice Dalle höchstklassig besetzt. Gelegenheit sich in den Vordergrund zu spielen, gab es eher selten. Es war vielleicht nicht immer leicht für die Schauspieler, im Hintergrund zu bleiben und wartend herumzusitzen, um ab und zu einmal durchs Bild zu gehen. Aber alle kannten das Buch und offensichtlich haben sie die Rollen gereizt.

 

Die eigentlichen Hauptdarsteller in Wolfzeit sind drei Kinder. In den meisten Ihrer Filme spielen Kinder zentrale Rollen. Warum?

MICHAEL HANEKE: Kinder stehen einfach auf der untersten Stufe der Leidensskala. Opfer sind dramaturgisch produktiver als Täter. Abgesehen davon macht es Spaß mit Kindern zu arbeiten. Sie lügen nicht. Wenn sie begabt sind, sind sie durch ihre Spontaneität besser als jeder Schauspieler. Wir hatten Glück, denn die drei tragen auf wunderbare Weise den Film.

 

Ihre Filme handeln immer wieder von der Leidensfähigkeit von Menschen. Das hat ja schon fast eine religiöse Dimension.

MICHAEL HANEKE: Sobald ich mich ernsthaft mit etwas auseinandersetze, komme ich gar nicht umhin, in den Kern des Schreckens zu gehen. Wie sollen wir unsere Gesellschaft beschreiben, ohne vom Leid zu sprechen? Leid und Tod sind der große Riss in der Schöpfung. Es sind die Fragen, die jeden Menschen im Innersten bewegen.

 

Kann man als Zuschauer daraus eine Lehre ziehen?

MICHAEL HANEKE: Ich glaube nicht, dass ein Film etwas lehren kann. Aber in der genauen Wiedergabe des Elends wie auch der Hoffnung steckt immer auch ein Moment der Utopie, denn Genauigkeit ist nur durch Mitempfinden zu erreichen.

 

 Welche Rolle spielt Musik in Wolfzeit?

MICHAEL HANEKE: Ich denke, eine schöne, weil reduzierte Rolle. Wir hören ganz ganz leise einen Ausschnitt aus Beethovens Frühlingssonate. In einem sehr elenden Moment der Handlung klingt aus einem alten Kassettenrekorder, der mit dem letzten Batteriesaft betrieben wird, kaum hörbar diese wunderbare Melodie. Die utopische Kraft dieser wenigen Töne ist berückend.

 

In Ihrem nächsten Film werden Juliette Binoche und Daniel Auteuil die Hauptrollen spielen, Drehbeginn ist im Sommer. Wird es wieder ein ganz anderer Film sein?

MICHAEL HANEKE:  Die Form ist die eines Thrillers. Im Kern aber geht es um persönliche, verdrängte Schuld. Jemand, der als Kind Schuld auf sich geladen hat, wird damit als Erwachsener vom damaligen Opfer konfrontiert. In all meinen Filmen geht es doch um die Frage: wie werden wir schuldig an anderen?

 

Interview: Martin Schweighofe, Karin Schiefer (2003)