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Hannelore  Tiefenthaler dreht  GUTEN MORGEN, ÖSTERREICH

 

Ein Projekt für einen abendfüllenden Dokumentarfilm auf einen einzigen Drehtag zu fokussieren ist eher die Ausnahme und bedarf entsprechender logistischer Vorarbeit. Wenn sich aber die Regisseurin an diesem einzigen Drehtag gar nicht am Ort des Kamerageschehens befindet, über Telefon ihren zwölf Kamerateams zwar zur Verfügung steht, ansonsten aber sich darauf verlassen muss, dass die minutiöse Vorbereitung ihre Früchte trägt, dann ist so etwas wie regietechnischer Ausnahmezustand gegeben.

 

Am 22. März liefen die zwölf Kameras für Hannelore Tiefenthalers erstes Langfilmprojekt Guten Morgen, Österreich. Diesen Montag im Leben von elf Ö3-Hörerinnen und Hörern vom Weckerläuten bis Feierabend zu dokumentieren, war die Vorgabe für eine Ein-Tages-Studie zu Alltag und Normalität in Österreichs Arbeitswelt. Ö3 – der Jugendsender der Siebziger, hat sich in den Neunzigern zum Formatradio gewandelt, verfügt in Österreich über einen Marktanteil von über 40 Prozent und erfreut sich seiner größten Beliebtheit bei den Werktätigen des Landes. Hannelore Tiefenthalers Ausgangspunkt zu Guten Morgen Österreich war, Radio in seiner gesellschaftlichen Funktion auszuloten. Warum die Wahl auf Ö3 fiel, hatte nach ausgiebiger Recherche und Hören von allerlei Privatsendern vor allem damit zu tun, dass sich kein anderer Sender durch einen vergleichbaren Motivations- und Harmoniepegel auszeichnete, der wohl für die große Beliebtheit von Ö3 als Hintergrundunterstützung bei der Verrichtung jeglicher Arbeit sorgt. Alle in einem Boot "Was mich interessiert hat", so die Regisseurin, "war, einerseits grundsätzlich die Frage zu stellen – wie sieht der Alltag der großen Masse aus. Andererseits hat mediengeschichtlich betrachtet, das Radio viele Funktionen übernommen, die früher die Großfamilie erfüllte - ob es um Kommunikation oder den Austausch von Nachrichten ging, ob man sich die Arbeit durch Singen leichter machte. Ein Sender wie Ö3 bezieht seinen Motivationscharakter daraus, dass er den HörerInnen das Gefühl vermittelt, Teil einer Community zu sein und dass er einen Bezug zur Welt herstellt. Was man am Arbeitsplatz nicht mehr an Gruppenerfahrung und Kommunikation erlebt, das bekommt man übers Radio".

 

Das Casting, über Radio und Zeitung im Herbst angekündigt, lockte mehr als 1000 KandidatInnen. 220 von ihnen erhielten eine Einladung zu einem halbstündigen Gespräch, zwölf davon schafften es in die Endauswahl, für die eine Reihe von Kriterien erfüllt sein musste: so sollte mindestens ein Kandidat aus jedem Bundesland dabei sein, ein Altersquerschnitt von ca. 20 bis 50 gegeben sein und abgesehen von einer ausgewogenen Männer/Frauen-Quote, der gesamte Wirtschaftskreislauf von der Landwirtschaft über die Produktion, Verkauf bis zur Dienstleistung in Gesundheit und Sicherheit, Verwaltung und Kommunikation abgedeckt sein. Geeignete Protagonisten zu finden war die eine Aufgabe, die richtigen Kameraleute die andere. "Ich brauchte" resümiert Hannelore Tiefenthaler, "zwölf Kameraleute, die nicht nur genügend Erfahrung hatten, sondern Persönlichkeiten waren, von denen ich wusste, sie konnten gut mit Leuten umgehen und in der gegebenen Situation spontan einen gewissen Blick entwickeln".

 

Am Ort des Geschehens Sonntag, 21. März: am Tag vor dem Dreh ist Treffpunkt zum Brunch für alle Teams: definitive Absprache und Koordination, letzter Check und Synchronisation für zwölf technische Equipments. Die letzten Kameraleute aus Berlin und München treffen ein, die ersten Teams brechen bereits in Richtung Westösterreich auf. Montag, 22. März: um vier Uhr früh klingelt erstmals das Telefon bei der Regisseurin, ein technisches Problem tut sich auf. Alle übrigen Teams müssen vorgewarnt werden, die meisten von ihnen sind ohnehin schon auf den Beinen. Technische Ausfälle, sind die größte Sorge der Regisseurin, die ihren Film nun für die kommenden 15 Stunden in die Hände ihrer sorgfältig ausgewählten Kamera- und Ton-Duos gelegt und nur viermal tagsüber eine fixe Drehzeit von je zehn Minuten vorgegeben hat. Gefilmt wird in den Wohnungen, am Arbeitsplatz, in der Freizeit nach Feierabend und auch bei Ö3. Der Arbeitsplatz der Radiomacher soll ebenso zu sehen wie jene der Radiohörer.

 

Das Team mit Britta Becker (Kamera) und Axel Traun (Ton), das Herrn Löschenbrand nach Vösendorf begleitet, wo er im Fertighauspark der Blauen Lagune Menschen ihren Traum vom Eigenheim in Windeseile realisieren hilft, ist auf dem Weg in die Neubaugasse. Um 5.35 Uhr sollte der Wecker vor laufender Kamera läuten, mit dem Anknipsen des Lichtes der Drehtag losgehen. Der alte, analoge Wecker lässt ein bisschen auf sich warten, aber auf Improvisation ist man eingestellt. Autofahrt in die Shopping-City, Ö3 stimmt auf den Arbeitstag ein – Gewinnspiele, Wetterberichte, Verkehrsinfos, Werbung, Musik. Ankunft in der Blauen Lagune, an der Rezeption plätschern kristallklares IQ-Wasser und die gute Laune von Ö3. Herrn Löschenbrands Vormittage und Nachmittage sind je einem Kundenpaar gewidmet: Dächer, Fenster, Türen, Fliesen, Böden, Bäder, Küchen. Die Ausstattung von Innen und Außen wird von den künftigen Hausbesitzern in einem Halbtag eingekauft. Für sie heißt es entscheiden in einem fort, Stoff für Konflikte wäre gegeben, aber der Tag verläuft in unerwarteter Einigkeit. Harmonie aus dem Radio, Harmonie gepaart mit einem erfolgreichen Konzept von Normalität am Ort des Geschehens. Für die Kamerafrau erst recht eine Herausforderung, dem alltäglichen Geschehen seine szenischen Reize abzugewinnen und eine physische Kraftprobe, einen ganzen Tag lang mit der Kamera auf der Schulter den Bildern auf der Lauer zu sein.

 

Für den Schnitt ist ein rascher Wechsel zwischen den einzelnen Protagonisten vorgesehen, der Akzent auf der Gleichzeitigkeit soll die Routinen des Alltags noch mehr betonen, Passagen mit und ohne Radiohintergrund verdeutlichen, was sich mit und ohne Radio auf der emotionalen Ebene ändert. Entscheidend, wenn auch völlig unbeeinflussbar für die Regisseurin war das konkrete Radioprogramm am Drehtag. "Der ganze Charakter des Films", so die Filmemacherin, "wird davon geprägt. Die Frage für mich war, wird es ein Tag mit außergewöhnlichen Ereignissen, ein durchschnittlicher Tag oder ein stinklangweiliger Tag. Im nachhinein betrachtet, war es ein sehr durchschnittlicher Tag." Einer von denen, die man möglicherweise ganz schnell wieder vergessen würde, wären nicht zwölf Kameras dabei gewesen.

 

Karin Schiefer (2004)