Das Widersprüchliche war ja der eigentliche Ausgangspunkt für diesen Film. Dieses Gefühl ist geblieben. Das löst sich bei
mir selten auf. Jeder Mensch ist in höchstem Masse widersprüchlich. Bei manchen treten die Widersprüche offener zu Tage, das
ist alles. Ich glaube die Ursache für die Abneigung, die Frau Wally durch ihren Schritt vielfach widerfährt, ist ganz einfach
Neid: der Neid der anderen, dass ein Mensch diese Widersprüche in sich überhaupt zulässt, dazu steht.
Kannten Sie Barbara Wally schon aus ihrer früheren Tätigkeit als Direktorin der Sommerakademie?
ANDREAS HORVATH: Wenn man in Salzburg aufwuchs und an Kunst interessiert war, kam man an der Sommerakademie kaum vorbei. Mein Bruder Lucas
und einige andere befreundete Künstler haben schon sehr früh, während der Sommermonate an der Akademie als Assistenten gearbeitet.
Ich selbst habe einmal in der Fotografieklasse assistiert und war in einem anderen Jahr der offizielle Fotograf der Sommerakademie.
Ich musste alle Klassen für den Katalog oder das Archiv fotografieren und erinnere mich noch genau, wie Frau Wally mir im
darauf folgenden Jahr vorwarf, mehr Männer als Frauen fotografiert zu haben. Sie hatte also Hunderte von Fotos nach diesem
Aspekt durchgesehen. Das war das erste Mal, dass wir ideologisch aneinandergeraten sind.
War es das Bedürfnis, ihren Schritt, einen muslimischen Mann zu heiraten und die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen,
zu verstehen, das Sie bewogen hat, der Frage im Zuge eines Films nachzugehen? Hatten Sie auch etwas wie Unverständnis dafür
verspürt?
ANDREAS HORVATH: Unverständnis? Absolut. Gerade aus ihrem feministischen Hintergrund heraus war dieser Schritt schwer nachzuvollziehen. Oft
ist für mich etwas, das ich nicht verstehe, der Ausgangspunkt für eine filmische Auseinandersetzung. Ich suche dann nach Spuren,
nach möglichen Erklärungen. Das hat durchaus etwas Investigatives, wobei das Ziel für mich nicht darin besteht, das Rätsel
zu lösen. Wenn es gelingt, die Komplexität der Dinge sichtbar zu machen, ist schon viel erreicht. Viele Zusammenhänge erschließen
sich oft erst durch die Gegenüberstellung in der Montage.
Mit welcher Idee sind Sie an Barbara Wally herangetreten, um sie für dieses sehr persönliche Filmprojekt zu gewinnen? Fiel
ihr die Entscheidung schwer, zuzusagen?
ANDREAS HORVATH: Sie war sofort begeistert von der Idee. Das war mir sogar unheimlich. Sie war sehr interessiert, ihre Geschichte publik zu
machen. Ich glaube, sie wollte in erster Linie das Reisebüro, das sie mit ihrem Mann im Jemen gegründet hat, bewerben. Sie
wollte während der Dreharbeiten verständlicherweise auch immer wieder von mir wissen, worum es in dem Film eigentlich geht,
worauf ich ihr aber nur antworten konnte: «es geht um Sie». Mein Unvermögen, mich genauer zu deklarieren, hat mit der Zeit
wahrscheinlich sogar ein gewisses Misstrauen mir gegenüber erzeugt. Aber ich arbeite sehr intuitiv und kann während der Arbeit
selten sagen, worauf ich hinaus will, weil ich ja eigentlich auch auf nichts Bestimmtes hinaus will.
Der Film ist in mehrfacher Hinsicht der Versuch, zwei Welten zueinander in Bezug zu setzen – einerseits in einem Davor und
Danach (die «zwei Leben» der Protagonistin), aber auch in einem parallelen Sinn, indem Sie zeigen, wie sich Barbara und Kadher in der eigenen und
in der fremden Kultur bewegen. Wie sah das Konzept aus, das Sie im Zuge der Dreharbeiten verfolgen wollten?
ANDREAS HORVATH: Mir war sehr bald klar, dass ich den Film nicht chronologisch anlegen will. Ich habe Frau Wally als echte Kosmopolitin wahrgenommen,
als eine grundsätzlich sehr weltoffene Frau, die überall zuhause ist und das Reisen genießt. Daher die vielen Schauplätze
im Film. Im Gegensatz dazu steht diese fixe Idee: die Liebe zu Khadher. Egal wo sie sich aufhält, wohin sie ?flüchtet?, der
Gedanke an Khadher holt sie immer wieder ein. Diese Unausweichlichkeit stand für mich im Mittelpunkt. Darum auch Wagners Tristan
in der Rumänienepisode.
Eine Muslima zu filmen, im Jemen zu filmen sind Rahmenbedingungen, die die Dreharbeiten von Beginn an wahrscheinlich mit bestimmten
Vorgaben behaftet haben. Welche Regeln mussten Sie einhalten? Wie konnten Sie sich im Jemen mit der Kamera bewegen? Wie offen
war Kadher, sich filmen zu lassen?
ANDREAS HORVATH: Diese Vorgaben werden im Film ja auch thematisiert. Die Konstruktion, dass meine Frau Monika Muskala bei Barbara zuhause in
Sana´a bleibt, während ich mit Khadher den Jemen bereise, kommt ja ursprünglich von Barbara Wally, nicht von mir. Anders hätten
wir im Jemen nicht filmen können. Ich war am Anfang gar nicht so glücklich darüber, bis ich verstanden habe, dass gerade dadurch
interessante Dinge über ihr Leben im Jemen sichtbar werden. Als Mann ist es mir verboten, Frauen auch nur anzuschauen. Aber
von einer Frau darf Barbara sogar gefilmt werden. Dass das Endprodukt wiederum natürlich auch von Männern gesehen wird, schien
in diesem Zusammenhang nebensächlich. Diese Regeln sind für mich teilweise so unlogisch, dass ich irgendwann aufgehört habe,
zu versuchen sie zu verstehen. Ich hatte den Eindruck, dass die Regeln auch immer wieder gebrochen wurden. Ich halte Khadher
letztlich für einen sehr toleranten Menschen. Ich glaube er hat sich durch seine Aufenthalte in Europa extrem geöffnet. Der
Kontakt mit unserer Welt und unseren Wertvorstellungen ist bestimmt nicht leicht für ihn gewesen. Er kommt aus einem Land,
in dem er niemals eine Frau außerhalb der eigenen Familie sehen wird, und in dem er sicher sein kann, dass seine Frau von
keinem anderen Mann außerhalb der Familie je gesehen werden wird. Und er ist natürlich in dem Glauben aufgewachsen, dass das
gut und richtig ist. Das muss man sich mal vorstellen. Khadher wurde gerade am Anfang der Dreharbeiten sicherlich sehr viel
abverlangt. Im Film strahlt er aber dennoch eine große Natürlichkeit im Umgang mit der Kamera aus, finde ich. Anfangs schien
er sogar eher amüsiert darüber, gefilmt zu werden.
In den Szenen mit Barbara Wally gibt es ein sehr spontanes und dialogisches Arbeiten, wo sie direkt mit dir hinter der Kamera
in Kontakt tritt, Anweisungen gibt oder interveniert (Szene beim Scheich) - Szenen, die Sie bewusst drinnen gelassen und
nicht geschnitten haben. War es Ihnen wichtig, diese Reibungsflächen sichtbar zu machen.
ANDREAS HORVATH: Ja. Das Filmen an sich zu thematisieren, schien mir wichtig - gerade in Zusammenhang mit dem Islam. Frau Wally hat diese Anweisungen
auch meist im vollen Bewusstsein gegeben, dass die Kamera eingeschaltet ist. Da hat es noch mehr spontane Beeinflussungsversuche
ihrerseits gegeben, die ich aber aus Zeitgründen im Film nicht unterbringen konnte. Frau Wally strahlt eine unglaubliche Aura
von Autorität aus. Diese autoritäre Attitüde steht ein bisschen im Gegensatz zu ihrem künstlerischen Hintergrund. Sie hat
zum Beispiel oft davor gewarnt, eventuell Zensur üben zu müssen, wenn im Film Dinge angesprochen werden, die Khadher oder
seine Religion verletzen könnten. Das wirkt natürlich für die Leiterin einer Sommerakademie etwas anachronistisch. Wenn Sie
etwas durchsetzen will, ist sie meist sehr freundlich, aber bestimmt. Durch ihre jahrzehntelange Spitzenposition an der Sommerakademie
war sie, glaube ich, nicht wirklich daran gewöhnt, Widerspruch zu dulden.
Unser Verhältnis war nicht immer leicht. Es war wahrscheinlich zum Teil auch von Skepsis auf beiden Seiten bestimmt. Das wollte
ich im Film deutlich machen. Unser Umgang war höflich distanziert. Sie hat immer darauf bestanden, dass wir per Sie bleiben,
was mir sehr recht war. Aber meine Frau hat sie sehr bald schon mit der größten Selbstverständlichkeit geduzt. Im Nachhinein
denke ich aber auch, dass Frau Wally womöglich unter einem großen Druck gestanden ist, allein schon deswegen, weil sie sich
durch das bloße Gefilmtwerden in Khadhers Augen an der Grenze des Erlaubten bewegt hat ? selbst in Österreich. Sie hat ständig
Krisen mit ihm befürchtet, weil das Filmen an sich eigentlich schon sehr weit ging. Wie sie im Film selbst sagt, war es nur
möglich seine Einwilligung zu bekommen, weil der Film schließlich auch zeigt, dass seine Frau erfolgreich zum Islam konvertiert.
Dieser missionarische Gedanke war ihm so wichtig, dass er bereit war, dafür einiges in Kauf zu nehmen.
Kadher ist jemand, den Sie im Gegensatz zu Barbara Wally eher beobachtend filmen, der nur während Ihrer gemeinsamen Fahrt
im Auto und bei der Präsentation seiner Familie zu Ihrem Gesprächspartner wird. Das hat möglicherweise nicht nur sprachliche
Gründe?
ANDREAS HORVATH: Es hat glaube ich vor allem kulturelle Gründe. Als Muslim ist es für ihn alles andere als selbstverständlich, Privates nach
außen zu tragen. Aber im Wesentlichen war das natürlich von Anfang an ganz klar ein Film über Barbara Wally. Das funktioniert
nur, wenn alle anderen – selbst Khadher – Nebenfiguren bleiben. Ein Film über ihn wäre sicher auch sehr ergiebig, aber das
müsste ein komplett anderer Film sein.
Als einziger weiterer Dialogpartner tritt der Scheich auf. Welche Funktion haben Sie ihm im Film übertragen, warum lassen
Sie ihn zu Wort kommen?
ANDREAS HORVATH: Dass wir zum Scheich gegangen sind, hat auch mit Khadher zu tun: auf die meisten meiner Fragen zur Religion hat er immer nur
auf den Scheich verwiesen. Er sah sich nicht in der Lage oder wollte nicht mit mir darüber reden, warum es zum Beispiel für
mich unmöglich war, seine erste Frau kennenzulernen. Irgendwann fand ich es auch folgerichtig, dass diese – für viele von
uns so unverständlichen - Regeln von einem Experten erklärt werden. Also sind wir am Ende unseres Jemenaufenthalts zum Scheich
gegangen. Ich war zunächst überrascht, dass Frau Wally überhaupt mit wollte. Das war nicht meine Idee. Aber letztlich ist
das dann gerade auch durch ihre Präsenz beim Scheich eine sehr spannungsgeladene Konfrontation geworden. Frau Wally hat ja
eine sehr eigene Interpretation vom Islam, die für mich oft nicht nachvollziehbar ist. Ich wollte einige - vielleicht auch
unbequeme – Fragen an eine religiöse Autorität richten. Im Grunde rechtfertigt der Scheich ja die Todesstrafe für Muslime,
die sich vom Glauben abwenden, auch wenn er beteuert, dass schon "seit vielen Jahren niemand mehr deswegen umgebracht wurde".
Wenn Frau Wally im Raum sitzt, während solche Sätze gesprochen werden, und das widerspruchslos zur Kenntnis nimmt, ist das
ja ein nicht unerhebliches Detail. Ich erinnere mich noch, dass sie mir nachher vorgeworfen hat, den Scheich überhaupt mit
so einer Frage konfrontiert zu haben, wo doch die katholische Kirche vor Jahrhunderten auch im Namen der Religion gemordet
und gefoltert hat, usw. Das mag ja sein, aber da hat mich dann doch gewundert, wie unkritisch diese Intellektuelle sich einer
? zumindest in dieser Frage – so fanatischen Ideologie unterordnet.
Können Sie ein bisschen etwas über die Episode in Rumänien erzählen, warum war es Ihnen bzw. Barbara wichtig, dort zu filmen,
dieses Haus Teil des Films zu machen?
ANDREAS HORVATH: In der Rumänienepisode sieht man sehr schön, wovon ich vorhin gesprochen habe: das Bedürfnis zur Flucht, das Streben an die
Ränder, weg vom Zentrum, das Barbara Wallys Leben seit einiger Zeit entscheidend geprägt hat. Ihr Haus am Donaudelta war ihr
erster Ausbruchversuch aus dem westlichen Kulturleben. Auch war es mir wichtig zu zeigen, dass Frau Wally sich ein solches
Haus leisten kann – und bewusst leistet. Im Grunde hat die Idee, sich in einem armen rumänischen Fischerdorf von einer Stararchitektin
ein Designerhaus am besten Platz planen zu lassen, auch etwas sehr Elitäres. Das sagt ja sehr viel aus über einen Menschen,
dessen Selbstbild und Hintergrund. All das macht die Entscheidung, freiwillig in den Jemen zu gehen, noch rätselhafter, faszinierender.
Über welchen Zeitraum haben Sie Barbara Wally mit der Kamera begleitet. Wieviele Reisen in den Yemen haben Sie unternommen?
Wie groß war das Team?
ANDREAS HORVATH: Das war mit Unterbrechungen fast ein Jahr. Im Jemen waren wir nur einmal für etwa drei Wochen. Im Jemen und in Salzburg habe
ich mit Monika Muskala gefilmt, sonst war ich allein unterwegs.
Der Film erzählt von verschiedenen Lebensweisen, verschiedenen Kulturen, erzählt aber auch die Geschichte einer Liebe, die
mir nicht unmittelbar nachvollziehbar geworden ist. Wie haben Sie im Zuge der Arbeit am Film dieses Gefühl zwischen diesen
beiden Menschen erlebt und gespürt?
ANDREAS HORVATH: Ich weiß, dass für viele Menschen diese Beziehung grundsätzlich nicht nachvollziehbar ist. Dieses Unverständnis schlägt oft
in Zynismus, Abneigung und sogar blanken Hass um. Aber was kann irgendjemand schon über eine Beziehung sagen? Selbst zwei
Menschen, die in einer Beziehung zueinander stehen, sind sich oft nicht bewusst, wie intensiv – oder eben auch nicht – ihre
Gefühle sind. Dann kommt plötzlich eine Trennung und erst im Rückblick wird vieles anders bewertet. Gefühle sind sehr komplex.
Der Titel Arab Attraction verdeutlicht diese Ambivalenz der Gefühle. Vielleicht steht ja auch eher das Exotische - auf beiden
Seiten - im Vordergrund dieser Beziehung. Letztlich ist diese Frage für mich aber nicht so interessant, weil sie ohnehin nicht
zu beantworten ist.
Trotzdem: ich habe schon immer wieder sehr intensive Gefühle wahrgenommen. Frau Wally ist ja sehr extrovertiert und kann ihre
Emotionen sehr gut beschreiben. So sehr, dass man als Filmemacher fast schon wieder skeptisch werden muss. Aber vor allem
bei Khadher, der viel verschlossener ist, war ich oft überrascht von gewissen Gesten oder - vielleicht auch unbewussten -
Liebesbezeugungen.
Barbara Wally bezeichnet diesen Mann als ?ihr Lebensschicksal?, haben Sie im Laufe dieser Arbeit herausgefunden, was sie bewogen
hat, einen so großen Schritt und einen Schnitt in ihrem Leben zu setzen? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass in ihr auch
ein Gefühl von Kulturpessimismus und einem Bedürfnis nach Rückzug spürbar ist.
ANDREAS HORVATH: Ja, sie sagt ja im Film sehr deutlich, wie sehr sie von den politischen Entwicklungen rund um die EU und von der zeitgenössischen
Kunst enttäuscht ist. Befreundete Psychologen haben auch C.G. Jung erwähnt: wenn jemand lange Zeit extrem einseitig ausgerichtet
lebt, kann das irgendwann durch Kompensation ins totale Gegenteil umschlagen. Gefühle, die lange unterdrückt oder vernachlässigt
wurden, brechen dann plötzlich umso drastischer hervor. Aus einer überzeugten Feministin, Atheistin und Alleinerzieherin könnte
demnach ohne weiters die liebevolle Zweitfrau und Teilzeitmutter in einem streng islamisch orientierten Familienclan werden.
Im Film erwähne ich auch ein Zitat von Paul Bowles, das mich in seiner Prägnanz schon immer sehr fasziniert hat. Ich glaube,
dass ihr Alter und die Angst vor dem Tod eine große Rolle spielen. Es ist wahrscheinlich ein bisschen von allem. Selten basieren
gefühlsbetonte Entscheidungen auf einer einzigen Überlegung.
Der Film zeichnet das Portrait einer Frau, die Widersprüche in sich vereint, der Film als Ganzes baut sehr stark auf Oppositionen
und Kontrasten auf. Wie sieht es aus, wenn Sie Ihr Gefühl vor den Dreharbeiten und gegenüber dem fertigen Film vergleichen?
ANDREAS HORVATH: Das Widersprüchliche war ja der eigentliche Ausgangspunkt für diesen Film. Dieses Gefühl ist geblieben. Das löst sich bei
mir selten auf. Jeder Mensch ist in höchstem Masse widersprüchlich. Bei manchen treten die Widersprüche offener zu Tage, das
ist alles. Ich glaube die Ursache für die Abneigung, die Frau Wally durch ihren Schritt vielfach widerfährt, ist ganz einfach
Neid: der Neid der anderen, dass ein Mensch diese Widersprüche in sich überhaupt zulässt, dazu steht. Aber der Hass, den Frau
Wally teilweise auf sich zieht ? vor allem aus feministischen Kreisen ? den kann ich nicht nachvollziehen. Jeder Mensch hat
doch das Recht sich im Leben immer wieder neu zu positionieren. Ich glaube nicht, dass Frau Wally durch ihre persönliche Vita
die Bewegung des Feminismus verrät, wie ihr immer wieder vorgeworfen wird. Und wer weiß, vielleicht hören wir in Zukunft noch
einige erstaunliche Dinge von ihr und ihren diversen Projekten im Jemen.
Barbara Wally spricht einen interessanten Punkt an, nämlich, dass in der islamischen Gesellschaft die Männer unter einem so
starken sozialen Druck sind, der als Konsequenz zur Unterdrückung der Frauen führt. Jetzt fällt es mir als westlicher Frau
mit einer Außensicht aus der Distanz etwas schwer, die Männer als die ersten «Opfer» des Systems wahrzunehmen. Wie sieht nach
einer langen Auseinandersetzung mit dem Thema Ihre Einschätzung diesbezüglich aus?
ANDREAS HORVATH: Es ist auch mir unmöglich dieser Logik zu folgen. Wenn man sich die Ausführungen des Scheichs zum Thema Polygamie anhört,
wie er sich auf biblische Figuren beruft, um das Recht eines Moslems auf vier Frauen abzuleiten, gewinnt man schon den Eindruck,
dass die Freiheit der Männer nur auf Kosten der Lebensqualität der Frauen möglich ist. Frau Wallys Sichtweise, dass es für
Männer entehrend ist, wenn ihre Frauen ohne Schleier gesehen werden, und sich daher eigentlich die Männer gegen diese Tradition
zur Wehr setzen müssen, halte ich für eine rhetorische Spitzfindigkeit. Genauso wie die Ansicht, dass es eigentlich ein Zeichen
für die Schwäche des Mannes ist, dass Frauen immer hinter den Männern beten müssen (weil der Mann in seinem Gebet nicht durch
den Anblick der Frau sexuell abgelenkt werden soll). All diese Regeln sehen den Mann im Mittelpunkt ? wenn auch vielleicht
aus hehren Zielen. Das ist ja die Schwierigkeit, dass die meisten Gesellschaftsformen im Grunde eine bessere Welt anstreben.
Nur wie man dorthin gelangt, darüber ist man sich nicht einig.
Auf Wikipedia kann man lesen, dass Barbara Wally im Jemen die Gründung einer Medienakademie für Frauen betreibt. Kann man
es so betrachten, dass Barbara Wally mit ihrem Schritt, der aus westlicher Sicht nach einer nicht unerheblichen Selbstaufgabe
und Unterordnung aussieht, dort – sei es für Kadhers erste Ehefrau, sei es für Frauen in ihrem Umfeld – durch ihr Vorbild
etwas in Bewegung setzt?
ANDREAS HORVATH: Ich glaube Frau Wally wäre mit dieser Betrachtungsweise sehr einverstanden. Sie hat ihren Mann überredet, in die Ausbildung
seiner Kinder zu investieren. Sie beteiligt sich auch finanziell daran, unter der Bedingung, dass die Töchter genauso in die
Schule gehen und Privatunterricht bekommen, wie die Söhne. Das ist ein erster kleiner Schritt, in einem Land, in dem 70 Prozent
der Frauen Analphabetinnen sind, und das in Bezug auf die Frauenrechte in den meisten Statistiken an letzter Stelle rangiert.
Interview: Karin Schiefer
November 2010