INTERVIEW

Anja Salomonowitz über KURZ DAVOR IST ES PASSIERT

 

«Ich finde es interessanter, wenn ich einen Laien habe, der innerhalb der Geschichte in seiner Funktion vorkommt. Das ist interessanter und kürzer, wenn die erzählenden Personen involviert sind. Es geht ja um diese Bewusstseinsarbeit, und darum, die Geschichten in unsere Gesellschaft hineinzubringen. Für mich ist der Film eine Verbildlichung der Tatsache, dass die Geschichten aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet werden. » Anja Salomonowitz über Kurz davor ist es passiert.
 

Stand am Anfang des Projekts eher der formale Ansatz – im Dokumentarfilm nicht die betroffenen Personen erzählen zu lassen oder das Thema des Frauenhandels im Vordergrund?
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Wie haben Sie die Geschichten recherchiert und nach welchen Kriterien wurden sie dann für den Film ausgewählt?
Warum haben Sie bei den Erzählern nicht mit Schauspielern gearbeitet?

ANJA SALOMONOWITZ:  Ich dachte, dass man den Leuten, die die Texte auswendig gelernt haben, ansehen wird, was in Ihnen vorgeht, während sie den Text sprechen. Es könnte beim Zöllner ja sein, dass gerade in diesem Moment tatsächlich eine Frau vorbeigeschmuggelt wird. Ich dachte, diesen Bewusstseinsprozess sieht man in den Augen und diesen schmalen Grat, wo sie realisieren, dass sie das sein könnten oder nicht, im Menschen zu sehen, fand ich sehr interessant. Das Ziel war aber, dass den Zusehern von dem Erzähler oder der Erzählerin diese Arbeit nicht abgenommen wird, man sollte als Zuseher auf sich selbst zurück geworfen werden. Der monotone Ton ist, damit man immer gleich wieder in die Geschichte hinein finden kann, damit man den roten Faden, sozusagen, nicht verliert. Das war eine der schwierigsten Aufgaben: den richtigen Rhythmus zu finden, dass die Zuseher sich die Geschichten gut vorstellen können. Beim Zöllner sollte die Wirkung entstehen, dass er einen Text gelernt hat, und dieser gleichzeitig auch Bilder evoziert. Unabhängig davon wie auswendig gelernt der Text wirkt, war es Aufgabe des Castings, Menschen zu finden, die es schaffen, trotzdem, während des Erzählens, Bilder zu evozieren. Ich finde es interessanter, wenn ich einen Laien habe, der innerhalb der Geschichte in seiner Funktion vorkommt. Das ist interessanter und kürzer, wenn die erzählenden Personen involviert sind. Es geht ja um diese Bewusstseinsarbeit, und darum, die Geschichten in unsere Gesellschaft hineinzubringen. Für mich ist der Film eine Verbildlichung der Tatsache, dass die Geschichten aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet werden. Ich wollte im Film das Gefühl erwecken, "das Böse ist immer und überall" nur keiner von uns merkt es, weil unsere Welt es nicht sieht. Man muss sich mit den Geschichten nicht auseinander setzen. Diese Geschichten schwirren die ganze Zeit zwischen uns, das sind Lebensbereiche, die einfach ausgeblendet werden können und mit denen wir uns nicht befassen müssen.


Es kommt zu einer Umkehrung in diesem Erzählkonzept. Das eigentlich Dokumentarische – die Geschichten der Frauen – , leben nur in der Phantasie und bekommen etwas Fiktionales, der "fiktionale" Part, die Erzähler, werden zum Gegenstand des Dokumentartischen, indem sie in ihrem Alltag dargestellt werden.

ANJA SALOMONOWITZ: Ja, es werden dokumentarische Strategien genau umgedreht. Es besteht innerhalb eines Genres ja eine Verabredung zwischen den Zusehern und der/dem FilmemacherIn, wie zum Beispiel ein Dokumentarfilm funktioniert: die Betroffenen erzählen einem ihre Geschichte selbst. Was ist, wenn ich diese Verabredung breche, indem ich die Geschichte von anderen Menschen erzählen lasse? Und vor allem: kann das ein Umdenken, einen politischen Prozess auslösen? Es gibt die klassischen Frauenhandels-Dokumentationen, wo eine Frau weint und ihre Geschichte erzählt. Das zeigt, wie die betroffene Person empfindet, bringt ihr aber nichts, vor allem keine Rechte. Was diese Frauen aber brauchen, ist Legalisierung und Rechte, damit diese Geschichten nicht mehr passieren können. Kurz davor ist es passiert handelt davon, was die Leute sich ausdenken, während sie den Film sehen. Etwas Unsichtbares wird erzählt und ist die Haupthandlung. Das ist kein Nebenprodukt, die Gedanken, die man sich dazu macht: die Geschichten, die man sich vorstellt, sind die eigentliche Haupthandlung des Films. Etwas, dass man nicht sieht. Das ist, wie schon gesagt, wie im richtigen Leben, denn diese Geschichten werden aus dem alltäglichen gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet.


Wie sah die Regiearbeit mit den Erzählern aus?

ANJA SALOMONOWITZ: Wir haben ein total breites Straßencasting gemacht, manche Figuren waren ganz schnell da, bei manchen hat es länger gedauert. Dann gab es verschiedene Schritte der Erarbeitung mit ihnen, es mussten alle bereit sein, mir ihren Alltag zu zeigen und mich überallhin mitzunehmen. Ich habe sie bei ihren Tätigkeiten begleitet, sehr viele Fragen gestellt, die ich dann wieder im Drehbuch verarbeitet habe. Das Leben festgehalten.
Für das Text erlernen gab es ganz verschiedene Methoden. Frau Tauchhammer, die Konsulin, zum Beispiel, hat das monoton sprechen in Hypnose geübt - meine Mutter kann hypnotisieren. Sie meinte, man kann das in Hypnose Erlernte dann auch in anderen Bewusstseinszuständen abrufen, und so war es dann auch. Der Zöllner wiederum hatte, passend zu seiner Funktion, den Text so akribisch und genau gelernt, dass wir verschiedene Takes lippensynchron anlegen konnten beim Nachsynchronisieren. Fast alle wurden über ein Jahr lang von mir ständig mit einer kleinen Videokamera begleitet, beim Drehen waren sie dann schon an das Gefilmt - werden gewöhnt. Leo, den Kellner, habe ich erst sehr spät gefunden. Er zeigte mir dann verschiedene Details im Bordell, auf die ich so nie gekommen wäre: dass zum Beispiel herum liegende Schuhe einfach weggeschmissen werden. Das zeigt auch die Brutalität und Schnelligkeit der Fluktuation der Arbeiterinnen an so einem Ort. Dann habe ich jeweils ausprobiert, zu welchen Szenen welche Textstellen passen, was etwas miteinander ergibt. Das war ein sehr langer Prozess das heraus zu finden. Ich hab mir immer gedacht, ein Film ist der Alltag der Personen auf der Leinwand, der zweite Film läuft so zwei Meter vor der Leinwand. Es sind eigentlich zwei Filme, die gleichzeitig ablaufen und beide brauchen einen dramaturgisch stimmigen Ablauf.


Wie funktionierte die Kameraarbeit?

ANJA SALOMONOWITZ: Der Kameramann war Jo Molitoris, der aus der Werbung kommt, davor schon u.a. auch eine 8x45-Episode gedreht hat. Ich wollte unbedingt mit einem Werbekameramann drehen, wegen einer bestimmten Ästhetik. Wir haben den ganzen Film mit zwei Kameras gefilmt. Jo filmt normalerweise in der Werbung alles mit 35 mm, für ihn war es eine große Herausforderung, mit Video zu arbeiten. Er wollte irgendein Spiel, irgendetwas, was ihm noch einen zusätzlichen Anreiz gab, mit Video zu arbeiten. Er meinte, etwas, was er sich nie leisten kann, ist, alles mit zwei Kameras zu drehen. Wir wollten, dass es so wirkt, als würde man mit zwei Augen schauen. Es hat leider nicht so funktioniert, es hat eher wie ein Fehler gewirkt, wenn man zwei Bilder nebeneinander legt und das eine ein bisschen verschiebt. Wir haben dennoch mit zwei Kameras gefilmt, weil so immer die Möglichkeit bestand, eine Totale und eine Nahe zu machen. Die Kameras waren auf einer leicht verstellbaren Platte zusammengeschraubt.


Interview: Karin Schiefer
2006
 

 
AFN: Sie haben bei Ulrich Seidls Theaterprojekt Vater Unser mitgearbeitet. Dort gibt es auch den Ansatz, dass Menschen in der Ich-Form von sich erzählen. War das ein Ansatz, den Sie weiterführen wollten? Worin besteht der Einfluss Ulrich Seidls auf ihre Arbeiten?Anja Salomonowitz: Ja, ich fand es in diesem Stück sehr schön, Erzählungen zuzuhören, die das Stück ausmachen. Es ging da aber um eine Beschreibung der Charaktere der Figuren selbst. Auch wenn ich nicht dieselben Sachen machen möchte, hat mich bei Ulrich Seidl der Weg interessiert, wie er zu seinen Ergebnissen kommt. Ich glaube, dass ich, dadurch, dass ich ihn begleiten durfte, ein Stück seines Geheimnisses verstanden habe. Er hat mir sehr viel beigebracht: wie man sich die Dinge erarbeitet, wie man mit Geduld, Zuhören und vor allem Zuschauen die einzelnen Versatzstücke, Ikonen an Szenen findet, die dann Geschichten erzählen. Ich hab mich schon als Jugendliche für Dokumentarfilmtheorien und auch Film- und Genretheorien sehr stark interessiert und habe mir alle Seidl-Filme, die es damals gegeben hat, angeschaut. Es war für mich umso schöner, als er mich angesprochen hat, für ihn zu arbeiten. Ich denke, er hat wertvolle Pionierarbeit geleistet auf dem Gebiet. Da war in erster Linie die ästhetische Komponente: ein Dokumentarfilm mit geraden Bildern vom Stativ? Ich möchte die Wirklichkeit in breiten, komponierten Bildern erzählen und sich darin ausbreiten lassen. Aber sie muss zuerst eingekastelt werden. AFN: Ist ein Kinostart von Kurz davor ist es passiert geplant?Anja Salomonowitz: Der Kinostart von Kurz davor ist es passiert ist für Anfang Mai geplant. In Wien beispielsweise so, dass man den Film ein paar Wochen lang ins Kino gibt und da alle zwei bis drei Tage eine Veranstaltung zum Thema macht. Dass der Film nicht einfach ins Kino gestellt wird, sondern begleitet wird. Dass es intensiv um eine Auseinandersetzung mit dem Thema des Films geht. Den/die InnenministerIn einladen und Fragen stellen, mit Lefö oder SOS Mitmensch gemeinsam Veranstaltungen machen, im Juridicum diskutieren oder ein Abend mit Alice Schwarzer? Dann soll er natürlich in die Bundesländer gehen.AFN: Wie sieht es bereits mit neuen Projekten aus?Anja Salomonowitz: Das eine ist ein Film zur restrikitiven Gesetzgebung bei binationalen Ehen. Ich stelle mir vor, dass man verschiedene - österreichische und binationale Paare - nach den Gründen fragt, warum sie geheiratet haben. Und diese Geschichten erzählt. Lauter nachgespielte kleine Episoden über das angeblich größte Glück. Das Interessante ist, bei den binationalen Paaren wird Liebe als Grund verlangt, um heiraten zu können. Bei ÖsterreicherInnen ist das egal, wenn man zum Beispiel einfach aus Geldgier heiratet.Mein zweites Projekt ist ein Spielfilm, den ich gemeinsam mit dem Schriftsteller Dimitré Dinev und als dramaturgischen Berater Doron Rabinovici schreibe. Eine richtig elegische Eifersuchtsoper, ein Drama der ersten Stunde, zu einem tagespolitischen Thema.Ich habe mich entschieden beide Projekte zu starten, weil es mit der Förderung meist lange dauert und es auch immer wieder Phasen gibt, wo man pausiert bei einem Projekt und dann kann ich am anderen Projekt weiterarbeiten.Interview: Karin Schiefer© 2007, Austrian Film Commission