INTERVIEW

Constantin Wulff über IN DIE WELT

 

«Für mich war die Geburt meiner Töchter ein ganz stark emotionales Ereignis, gleichzeitig ist man in der Klinik mit etwas konfrontiert, was diesem individuellen Ereignis scheinbar völlig gegenüber steht - nämlich dass es überhaupt nicht einmalig ist.» Constantin Wulff  im Gespräch über seinen Dokumentarfilm In die Welt.



In die Welt widmet sich dem Thema Geburt. Das Besondere daran ist, dass es das Elementarereignis mit einem "entmystifizierten" Blick betrachtet und das Ereignis vielmehr in seiner Alltäglichkeit darstellt. Hat das Erleben der Geburt Ihrer eigenen Kinder diesen Blickwinkel aufgetan und auch den Auslöser geliefert, dieses Thema von dieser Warte aus zu betrachten?

CONSTANTIN WULFF: Rückblickend betrachtet, waren sicherlich zwei Gründe wirksam, diesen Film zu machen. Das eine war, dass ich durch die Geburt meiner beiden Töchter überhaupt erst auf dieses Thema gekommen bin. Meine zweite Tochter ist auch in der Semmelweis-Klinik, wo der Film gedreht wurde, zur Welt gekommen. Es geht den meisten Menschen so, dass sie, wenn sie nicht durch Familie, bzw. eigene Kinder mit dem Ereignis Geburt in Berührung kommen, die ganze Welt rund um die Geburtshilfe eigentlich überhaupt nicht interessiert. Wenn man dann direkt damit zu tun hat, ist man mit etwas konfrontiert, das man vorher nicht kannte und was ich in meinem Fall sehr spannend fand. Ein zweiter Auslöser war, dass ich mich in den letzten Jahren sehr stark mit den Arbeiten von Frederick Wiseman beschäftigt habe, der ganz speziell sein Augenmerk auf Institutionen-Porträts richtet und ich finde, dass das Thema rund um die Geburt und die Methode Wiseman sehr gut zusammengefunden haben.


Wie würden Sie die Methode Wiseman näher beschreiben?

CONSTANTIN WULFF:  Die Methode, wie In die Welt gedreht ist, folgt dem Direct Cinema, d.h. es ist eine Form des dokumentarischen Arbeitens, die ich sehr schätze. Es ist ein dokumentarisches Arbeiten, das darauf verzichtet zu inszenieren, d.h. alles was vor der Kamera passiert, wird nicht abgesprochen, wird nicht wiederholt und wird auch nicht für die Kamera gemacht. Der Rahmen, den die Kamera und das Tonband vorgeben, wird von etwas erfüllt, was Nicolas Philibert einmal als "den Zufall programmieren" bezeichnet. Alles, was vor der Kamera passiert, ist etwas, was die Leute vor und hinter der Kamera nicht vorwegnehmen können. Wir sind der Direct Cinema sehr gefolgt, es gibt weder Kommentare noch Musik. Ich gewann zunehmend den Eindruck, dass diese Methode, die dem Unerwartbaren eine gewisse Struktur gibt, sehr gut mit dem Thema Geburt korrespondiert, weil man da auch nie weiß, was passieren wird. Es gibt zwar etwas Planbares, Wiederholbares, Eingrenzbares – innerhalb dieser Grenzen ist es aber immer völlig unvorhergesehen.


Warum haben Sie sich inhaltlich für einen Blick in die Routine entschieden und nicht für den in die Emotion, den man zunächst einmal erwarten würde. Warum hat sich der Fokus auf den Apparat rund ums Ereignis Geburt gerichtet.

CONSTANTIN WULFF: Es gab auch da wieder zwei Gründe, der eine ist ein sehr persönlicher: Bei der Geburt meiner Töchter habe ich sehr stark den Apparat dahinter wahrgenommen. Für mich war es ein ganz stark emotionales Ereignis, gleichzeitig ist man mit etwas konfrontiert, was diesem individuellen Ereignis scheinbar völlig gegenüber steht – nämlich dass es überhaupt nicht einmalig ist. Dass man sich in einer Institution befindet, die damit permanent konfrontiert ist und die bestmöglichen Rahmenbedingungen dafür zur Verfügung stellt und dass dahinter sehr viel Arbeit und Aufwand steckt, damit alles reibungslos abläuft. Der zweite Grund ist wahrscheinlich der, dass mich vom filmischen Standpunkt aus weniger die Frage interessiert hat, wie zeige ich Emotion, sondern – was mich immer wieder sehr interessiert – das Darstellen von Arbeit. Dinge abzubilden, die unseren Alltag prägen, ist etwas, was dem Dokumentarischen sehr nahe steht. In so einer Geburtsklinik stehen der Alltag und die Routine im Vordergrund und das, finde ich, ist durch Film sehr gut darstellbar.


Wie kam es zur Entscheidung, nicht auf einer breiten Basis rund ums Thema Geburt zu recherchieren, sondern alles an einem Ort zusammenlaufen zu lassen und einen Ort zu wählen, wo alles geballt vorhanden ist.

CONSTANTIN WULFF:  Die Semmelweis-Klinik ist eine der wenigen Einrichtungen, wo sich alles, worum sich Geburt dreht, an einem Ort befindet. Es ist nicht eine Abteilung in einem Krankenhaus, wo auch andere Dinge passieren, sondern es ist eine Frauenklinik, die sich auf die Dinge rund um die Geburt spezialisiert hat. Ich hielt es auch für interessant, diesen Gegensatz zwischen dem Einmaligen und dem Massenhaften, zwischen dem Individuellen und dem Seriellen darzustellen. Das kann man besser in einer Institution wie der Semmelweis-Klinik, wo jährlich 2.500 bis 3.000 Kinder zur Welt kommen. Dort wird alles gemacht - von der ersten Untersuchung bis zum Wochenbett und zur Entlassung. Das ist das Spannende.


Wie einfach war es, die Verantwortlichen dort zu überzeugen, in der Klinik einen Film zu drehen?

CONSTANTIN WULFF: Das war ein längerer Prozess. Wenn man heutzutage Dokumentarfilme machen will, so, wie ich es und auch andere Kollegen machen, dann ist man sehr oft mit Dingen konfrontiert, mit denen man vorher nie gerechnet hätte. Will man an öffentlichen Orten drehen, gelangt man immer an Plätze, wo schon einmal gedreht worden ist. Als wir unser Projekt vorgestellt haben, hatten wir mit Betroffenen zu tun, die schon von Filmerfahrungen erzählen konnten und das waren sehr oft keine guten Erfahrungen. Gerade das Thema Geburt, findet sich im Fernsehen wieder, in Serien, in Soap-Operas, wo die Dreharbeiten für die Beteiligten oft nicht sehr befriedigend ablaufen. Das ist das eine. Das andere Problem ist, dass alles, was mit dem Themenkomplex Krankenhaus zu tun hat, sehr stark mit dem Beigeschmack von Skandal aufgeladen ist. Neben dem eher oberflächlichen Fernsehformat sind sie auch mit Reportage, mit News konfrontiert und haben dort auch schlechte Erfahrungen gemacht. Die Überzeugungsarbeit, dass man etwas anderes machen möchte und weder an der Sensation noch an der Dramatik, sondern am Alltäglichen interessiert ist, war ein ziemlich langer Weg. Ich habe insgesamt vier Jahre am Film gearbeitet, mehr als die Hälfte dieser Zeit hat der Annäherungsprozess in Anspruch genommen. Dass wir letztendlich drehen konnten, verdanken wir der Unterstützung weniger Leute, die von Anfang an dem Projekt sehr positiv gegenüber standen und es bis zum Schluss auch getragen haben.


Es hat sicherlich viele Aspekte gegeben, an die man als Außenstehender gar nicht denken würde, dass sie mit einem Teil dieses Apparates sind und die schließlich auch im Film berücksichtigt wurden. Wie hat die Recherche-Arbeit – Beobachtungen, Interviews – ausgesehen.

CONSTANTIN WULFF:  Ich habe eine ziemlich ausgedehnte Recherche gemacht - da ging es in erster Linie um Kennenlernen und Themen abstecken. Den Ort so richtig erschlossen haben wir uns bei den Dreharbeiten. Ich finde, dass eine gewisse Frische immer besser ist, als wenn alles schon ausrecherchiert ist, das hat sich auch bei den Dreharbeiten bewahrheitet. Das Gespräch z.B., wo es um die Optimierung der Kontrollmöglichkeiten in der Dokumentation geht - das gehört zu den Dingen, die in der Drehphase passiert sind. Das ist ein Aspekt, der spontan Aufnahme gefunden hat, weil ich finde, dass er auch dazu gehört. Dass es so etwas gibt, wusste ich vorher selber nicht.


Wie lange dauerten die Dreharbeiten in der Klinik?

CONSTANTIN WULFF: Wir haben fünf bis sechs Wochen dort gedreht von Mai bis Juli, dann haben wir ca. ein Jahr geschnitten. Mit Johannes Hammel hatte ich einen sehr einfühlsamen und flexiblen Kameramann. Es stand für uns auch von Anfang an fest, mit einem kleinen Team und einer sehr unaufwändigen Technik zu drehen, was bei diesem Thema und in dieser Arbeitsmethode notwendig war. Wir haben ohne Licht gedreht und waren in der Drehsituation selbst dann nur zu zweit, weil ich den Ton selber gemacht habe. Vor Ort waren wir zu dritt, wir hatten eine sehr wichtige Aufnahmeleitung und Assistentin. Dass wir während des Drehs nur zu zweit waren, hat, glaube ich, überhaupt erst zu diesen Situationen der Vertrautheit (Vertrautheit bis zu einem gewissen Grad) und Direktheit, die man in den Bildern spürt, geführt.


Gab es im Vorfeld eine Arbeitsphase, wo ihr am Kamerakonzept gearbeitet habt ? ich denke an Einstellungen, wo die Kamera ganz bewusst nicht dorthin schaut, wo man es erwarten würde, wo sie plötzlich schwenkt etc.

CONSTANTIN WULFF: Das war ein gemeinsamer Prozess, wir hatten uns entschieden, im sehr ungewöhnlichen Format 4:3 zu drehen, was uns jetzt viele Schwierigkeiten mit Fernsehsendern eingeträgt. Ich glaube, dass das 16:9-Format gewisse Vorteile bietet, aber auch Nachteile hat. Das 4:3-Format referiert an eine filmische Tradition, die ich sehr schätze, nämlich das 16 mm-Bild und das hat den Kameramann auch gezwungen, gewisse Dinge zu tun. Das war eine Herausforderung für uns beide. Die Frage, wo er nun den Blick hinwendet, das hat natürlich etwas mit Regie zu tun. Dadurch, dass ich als Tonmann ganz nahe am Geschehen war, folgt der Kameramann natürlich den Bewegungen der Situation oder natürlich auch den Anweisungen des Regisseurs.


Diese Arbeitsmethode heißt auch, dass man sich weitgehend von der Wirklichkeit und damit auch vom Zufall tragen lässt. Wie hat euch dieser Zufall mitgespielt?

CONSTANTIN WULFF:  Grundsätzlich ist das für herkömmliche Produktionsvorstellungen eine risikoreiche Methode, weil man nichts erzwingen kann. Das einzige, was man tun kann, ist bereit und möglichst frisch zu sein, versuchen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Während dieser sechs Wochen hatte ich seltsamerweise nie das Gefühl, es würde uns nicht gelingen, einen Film aus dem vorhandenen Material zu bauen. Meinerseits herrschte da ein Grundvertrauen in diese Methode  - gewisse Vorbilder zeigen, dass es funktioniert und man muss dem Spektakulären auch nicht hinterher rennen. Es gab von Anfang an ein dramaturgisches Konzept, wo klar war, dass wir gewisse Dinge haben wollten. Um diese Dinge haben wir uns sehr bemüht, daran haben wir auch sehr gearbeitet. Im Wesentlichen waren das die Geburten, gewisse Ultraschall- und gewisse Gesprächssituationen, die wir im Film haben wollten und wo man Geduld haben muss, dass die auch geschehen. Grundsätzlich war ich mit dem Material sehr zufrieden, es ist auch nie so weit gekommen, dass wir das jetzt forcieren mussten. Wir haben da sehr viel Glück gehabt.


Diese Methode erfordert es auch, dass man – konkretisiert sich eine Situation – schnell die Bereitschaft der Menschen, gedreht zu werden, abklärt?

CONSTANTIN WULFF: Alle Menschen, die im Film zu sehen sind, sind nicht nur zuerst gefragt worden und haben auch eine schriftliche Einverständniserklärung unterschrieben. Es gab keinen Blick durchs Schlüsselloch, es war alles im Vorfeld klar abgesprochen. Ab dem Moment dieser Vereinbarung war aber alles offen. Eine große Sonderstellung haben natürlich die drei Geburten, wo es uns wichtig war, eine Beziehung zu den Protagonisten über mehrere Wochen aufzubauen. Ich fand es auch sehr schön, dass es die verschiedensten Gründe gibt, weshalb Frauen oder Paare ihre Zustimmung geben, bei einer Geburt gefilmt zu werden. Ein interessantes Beispiel war das einer Frau, die ihr viertes Kind zur Welt gebracht hat, sie hatte ihr Einverständnis gegeben, weil es bei ihren ersten beiden Geburten dazu kam, dass sie für eine für sie subjektiv endlos lange Zeit allein im Kreißzimmer war. Das wollte sie nie mehr erleben und wusste, wenn ein Filmteam dabei ist, dann könnte das nicht mehr passieren, wenn ein Filmteam da ist. Wir haben grundsätzlich relativ wenig Ablehnung erfahren.
 

Es entsteht der Eindruck, dass es Ihnen sehr wichtig war, eine wertfreie Haltung zu bewahren. Es gibt nie einen denunzierenden Blick?

CONSTANTIN WULFF: Ja, das war mir sehr wichtig, dass man nie die vordergründige Kritik weiter trägt. Jeder weiß, dass Organisationen wie Krankenhäuser immer verbesserungsfähig sind, dass dort Menschen arbeiten und Menschen auch Fehler machen ? das zu zeigen hat mich nie interessiert, es ging mir um eine möglichst direkte Weise, die Wirklichkeit in dieser Klinik zu zeigen, dass man auch eine Form des kritischeren Blicks bekommt - auf seine eigenen Meinungen und natürlich auch auf das, was passiert. Schwangere Frauen oder Paare, die ein Kind erwartet haben, haben auf den Film sehr positiv reagiert, weil sie fanden, dass er endlich zeigt, was einen da erwartet. Oft ist es so, dass man in eine Klinik kommt und von den Prozessen, von der Komplexität der Strukturen völlig überfahren ist.


Haben Sie sich in der Vorbereitung auch Gedanken darüber gemacht, welche Rolle den Vätern im Film zukommen wird?

CONSTANTIN WULFF: Dass Väter bei der Geburt dabei sind, ist ein relativ neues Phänomen. Ich war auch ein Vater, der bei der Geburt dabei war -  wir sind eine Generation, die das als selbstverständlich ansieht. Rückblickend finde ich es nicht mehr so selbstverständlich, man sollte auch klarer reflektieren, was das eigentlich bedeutet. So, wie das meiste im Film, sind auch die Väter hineingeschneit, hineingeweht. Die Wirklichkeit hat sie dorthin positioniert, wo sie hingehören. Was ich schön finde, dass sehr deutlich wird, dass Männer bei der Geburt eine Statistenrolle spielen und dass ihre Funktion bis zu einem gewissen Grad eine unterstützende sein kann, diese Unterstützung hat ein sehr breites Spektrum, aber die Rolle der Männer bei der Geburt wird sehr deutlich.


Mit wie viel Material hat sich Dieter Pichler ans Werk gemacht?

CONSTANTIN WULFF: Ich denke, es waren ca. fünfzig, sechzig Stunden. In dieser Methode ist es sehr spannend, das Material zu analysieren, weil es sehr offen ist. Man muss sehr stark versuchen herauszufinden, was das Material sagen will und was wirklich in einer Szene passiert, was der Punkt einer Szene ist, weil die Wirklichkeit und solche Situationen im Besonderen sehr komplex sind. Nun ist ein Film, der 88 Minuten dauert, eine ganz strenge Strukturierung und eine ganz starke Vereinfachung dieser Komplexität, was total spannend ist. Der größte Teil der Schnittzeit ist in die Zeit geflossen, wo wir das Material analysiert haben. Das Tolle ist dann, wenn man mal weiß, was diese Szenen heißen, dann hat man das ziemlich schnell geschnitten. Das eigentliche Schneiden und Zusammenstellen der Szenen ging sehr schnell. Ich war selbst die meiste Zeit dabei, ich mag die Arbeit im Schneideraum sehr gerne, das ist neben der Drehsituation, das, was ich am meisten mag.


Frederick Weisman ist ein Filmemacher, der Sie sehr beeinflusst hat, er ist auch in den Danksagungen erwähnt, hat er im Entstehungsprozess des Films Feedback gegeben?

CONSTANTIN WULFF:  Ich will den Bezug zu Frederick Weisman nicht überstrapazieren. Wir sind befreundet, sein Werk ist mir auch sehr wichtig und ich versuche mich natürlich auch zu emanzipieren. Er hat den Film gesehen, mochte ihn sehr gern. Was mich sehr gefreut hat, er sagte - "eine Szene fand ich besonders lustig, nämlich jene, wo der Putztrupp über den Korridor geht". Das ist sein Blick, seine Form von Alltagskomik. Und er hat noch etwas gesagt, was ich sehr schön fand. Er ist selber Vater von zwei Kindern, der aus seiner Generation heraus nie die Gelegenheit hatte, einer Geburt beizuwohnen und er hatte - so sagte er - den Eindruck, zum ersten Mal bei einer Geburt dabei gewesen zu sein. Das fand ich ein sehr schönes Kompliment.


Interview: Karin Schiefer
2008