FEATURE

DER GLÄSERNE BLICK von Markus Heltschl

 

Ein toter Archäologe wird unweit von Lissabon an den Strand gespült. Ein verbissener Kommissar nimmt den Fall in die Hand. Eine herrenlose Videokamera liefert erste Hinweise und eine französische Musikerin wird zur geheimnisvollen Schlüsselfigur in einem vielschichtigen Verwirrspiel zwischen Realität und Erinnerung.

 

Regisseur Markus Heltschl hat in seinem zweiten Langfilm Der gläserne Blick keine klassische Kriminalgeschichte entworfen, die zur mysteriösen Leiche am Beginn nach und nach die Klarheit über das Verschwinden des Toten liefert. Der gläserne Blick erzählt vielmehr von Menschen auf der Suche nach der Wahrheit und der Vergeblichkeit dieses Unterfangens. "Es geht in diesem Film", so Markus Heltschl, "um Liebe und Verrat, Vertrauen und Misstrauen, Lüge und Wahrheit. Ich glaube, dass der Film sehr offen ist und viele Lesearten zulässt. Das war jedenfalls die Intention des Films." Ein Kommissar und ein Mädchen geraten aneinander. Er besessen davon, sein Gegenüber zu einem Geständnis, wie er es sich in seinem Kopf zurecht gerückt hat, zu zwingen. Sie weltfremd und traumwandelnd, zwischen bruchstückhaften Erinnerungen, trotzigen Lügen und der beklemmenden Unwissenheit über das unaufgeklärte Verschwinden einer guten Freundin. Ihr gelingt es, bis zum Schluss Ungewissheit darüber aufrecht zu erhalten, ob sie in der Rolle des naiven Opfers oder der sanften Rächerin zu betrachten ist. Ihm gleitet, je mehr er sich an seinen fixen Vorstellungen von der Wirklichkeit festklammert, sein Privatleben ebenso wie seine berufliche Souveränität aus der Hand. "Wer die Wahrheit sagt, hat schon verloren" heißt es in einem begleitenden Texts zu Der gläserne Blick. "Gewinnen kann in diesem Lügenspiel nur der, dem es gelingt, mit der Wahrheit zu lügen." Wer die Wahrheit sucht, muss mit der Lüge rechnen- die Wahrheit findet also nur der, der die Lüge hinter der Lüge richtig interpretiert. Das Verhör dient in erster Linie als Metapher der Wahrheitssuche, die der Regisseur als ebensolche Endlosschleife entwirft: der Kommissar verfolgt das Mädchen, das für den Tod von Hans, dem Archäologen, verantwortlich sein könnte, der wiederum am Tod der Freundin des Mädchens schuld sein könnte und den das Mädchen deshalb als Objekt seiner eigenen Spurensuche ausfindig gemacht hat.

"Ein wichtiger Begriff -, so der Regisseur, -ist mir bei diesem Film der Begriff der Überblendung. Zwischen dem Polizisten und dem Archäologen kommt es im Zuge der fortschreitenden Untersuchung zu einer Art Überblendung, indem der eine immer mehr die Verhaltensweisen des anderen annimmt". Übereinander liegende Schichten gelangen auch in der komplexen Bildsprache des Films zutage: Film- und Videosequenzen überlagern einander und schaffen zwei Ebenen der Realität, die in sehr knappen Schnitten eine permanente Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit erzeugen. Video in allen seinen Eigenheiten eingesetzt, prägt durch Vorspulen und Rückspulen, Dekomposition und Rekomposition des vorhandenen Materials und auch seine beliebige Wiederholbarkeit die visuelle Struktur des Films, die Michael Galassos eindringliches musikalisches Hauptthema mit suggestiver Intensität unterstreicht. "Ich bin", so der Regisseur, "ein sehr visueller Mensch, das Drehbuch war sehr genau geschrieben und in gewisser Weise schon vormontiert, auch wenn man Der gläserne Blick eindeutig als Schnittfilm bezeichnen kann, der sehr konzentriert und kadergenau mit einer größeren Zahl an Schnitten als üblich montiert ist."

Die Aufnahmen aus der gefundenen Videokamera sind die einzigen Hinweise zur Lösung des Rätsels. Sie entlarven den Archäologen als pathologischen Voyeur, führen das Mädchen auf die Spuren ihrer Freundin, und schließlich in die Falle und legitimieren für den Kommissar als Aufklärer des Falles die verbotenen Blicke im Namen des Gesetzes. Observieren, Spionieren, Voyeurismus sind die Leitmotive dieser eigenwilligen Reise in Richtung Wahrheit, bei der ein Protagonist nach dem anderen selbst zum Voyeur wird. "Der gläserne Blick", erklärt Markus Heltschl, – bedeutet für mich zweierlei: den Blick durch die Optik der Kamera und in einem alt hergebrachten Sprachgebrauch ist darunter auch der Blick des Toten zu verstehen. Beim Schreiben des Drehbuchs stand aber eindeutig der voyeuristsche Blick durch die Kamera im Vordergrund, jener voyeuristische Blick, der die Liebe zerstört". Mit Kameramann Christian Berger, für den Heltschl bereits für dessen Film Raffl (1984) als Ko-Autor tätig war, besteht eine seit langem gewachsene künstlerische Übereinkunft in der Bild- und Lichtgestaltung. Bergers Kamera wirft immer wieder Blicke durch halb geöffnete Türen, liefert nur Teilaufnahmen eines menschlichen Körpers und unterstreicht damit den fragmentarischen Charakter von Heltschls Erzählung, der einzelne Szenen oft vor ihrem vorhersehbaren Ende abschneidet oder in eine andere übergehen lässt. Christian Berger sprang mit seiner TTV Film schließlich auch als österreichischer Produzent ein, als die ursprünglich als rein deutsch initiierte Produktion finanziell ins Stocken geriet. Nach einer längeren Durststrecke, da trotz der Dreharbeiten in Portugal kein dortiger Produzent ins Projekt einstieg, ging Der gläserne Blick nun letztlich als mehrheitlich österreichische Produktion ins Finish. Portugal ist bereits zum zweiten Mal Schauplatz von Heltschls filmischen Arbeiten. Neben der persönlichen Vorliebe für Europas südwestlichstes Gefilde gaben schlichtweg auch Kostengründe bei der Wahl des Drehortes den Ausschlag. So entstand bereits in einer der finanziell bedingten kreativen Pausen zu Der gläserne Blick Heltschls erster Langfilm Am Rande der Arena, ein improvisierter Essay über den Stillstand der Zeit und der Liebe zwischen zwei Menschen.

Eine Wanderung, die ihn von den Klippen von Cabo de Rocca vorbei an aufgelassenen Latifundien nach Sintra führte, inspirierte Heltschl zu Der gläserne Blick, den er international und polyglott besetzte und seine Protagonisten zumeist in Englisch, kaum in ihrer Muttersprache agieren ließ. Sylvie Testud, die in Österreich bereits für In Heaven (1999) vor der Kamera stand, in Frankreich mit einem César ausgezeichnet und für den European Film Award 2000 nominiert wurde, nahm eine geringe Gage und Terminstress mit einer parallel laufenden Produktion in Kauf, um bei diesem Projekt dabei zu sein, Klaus Pohl (Hans) und Portugals Publikumsliebling Michel Guilherme (der Kommissar) ergänzen ein intensives und spannungsreiches Schauspielertrio. Die Frage, wer ist das Opfer, wer ist der Täter, wer der Verfolger, wer der Verfolgte ist am Ende von Der gläserne Blick offener denn je, denn alle Figuren in Heltschls Film bewegen sich am Rande des Abgrunds zur steilen Felsküste, alle sind sie Existenzen an der Kippe zwischen zwei Welten, die alle auf ihre Art und Weise versuchen, am schmalen Grat zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Licht und Schatten, sich selbst zu retten.

 

Karin Schiefer (2003)