INTERVIEW

Fridolin Schönwiese über VOLVER LA VISTA

 

«Mit der Idee der umgekehrten Kamera sind Bilder entstanden, die ich ganz willkürlich mit den Erzählungen der Leute verknüpfe. Diese Leute verschmelzen zu einem künstlichen Erzähler, man hat so viele (Off-) Stimmen im Film, die man – wäre es ein klassischer Dokumentarfilm – ganz anders auflösen müsste. Das tue ich nicht. Es stand die Idee dahinter, dass ein Land die Summe von verschiedensten Eindrücken verschiedenster Leute ist. Es sollte "ein Erzähler" aus dem Off entstehen, der sich aus den Stimmen der Leute zusammensetzt und eine Geschichte aus diesen Ländern erzählt.» Fridolin Schönwiese über mexikanische und österreichische Perspektiven auf das Eigene und das Fremde in seinen neuen Film Volver la Vista.

 

Ihr Ansatz, diese Wechselwirkungen, diese gegenseitigen Blicke zwischen zwei Ländern zu thematisieren, kann man wahrscheinlich mit vielen Ländern untereinander vollführen. Wie kam es zur Entscheidung für Mexiko?

 

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Österreich/Mexiko ist natürlich nur ein Beispiel und beruht auf reinem Zufall. Man könnte diesen Film natürlich auch zwischen Finnland und Kolumbien oder Nigeria und Australien machen. Ich erhielt vor sechs Jahren das Angebot, als einer von 21 artists in residence im Rahmen eines Austauschprogramms nach Mexiko-Stadt zu gehen. 21 Österreicher verschiedenster Kunstrichtungen waren dort im Rahmen dieses Zweijahresprojektes eingeladen worden und konnten dort ihre Arbeiten ausstellen. Für einen Filmemacher ist es sehr schwierig, in einer so kurzen Zeit Resultate zu zeigen. Ich hatte aber in Österreich noch genug Zeit, mich vorzubereiten und ging der Frage nach, wie man Mexiko in Österreich sieht. So habe ich dann vor der Abreise in Österreich alles gesammelt, was einen Bezug zu Mexiko hatte – Lebensmittel mit Sombrero-Männchen drauf, im Filmarchiv habe ich in alten Wochenschau-Beständen das österreichische Mexiko-Bild der vierziger bishin zu den achziger Jahren zurückverfolgt. Ich habe eine Anthologie zum österreichisch-europäischen Mexiko-Bild erstellt, bin dann mit riesigen Koffern nach Mexiko und habe dieses Spiel mit den Klischees im Rahmen der Ausstellung dort präsentiert. Zurück in Österreich dachte ich mir, es wäre interessant, dieses Projekt nun filmisch weiterzuführen und auch die Gegenseite zu zeigen. Mit einem erneuten Stipendienaufenthalt bin ich dann nach Mexiko zurück, bekam dann mit Johannes Hammels "hammelfilm" eine Projektentwicklungsförderung vom Filmfonds Wien und Amour Fou Film stießen dann zum Projekt. Es gab es eine sehr lange Finanzierungsphase - ich glaube der Film hat 19 Förderungsstellen - es war schwierig, aber auch sehr lustig, das zu produzieren.
 

Um die Klischees eines Landes überhaupt reflektieren zu können, muss man sie sehr gut kennen.

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Ich bin selbst in einen Mechanismus geraten und habe zunächst einmal Österreich über Mexiko für mich neu entdeckt. Ich glaube, dass Klischees erste Hilfsbrücken sind, um etwas, was anfangs viel zu komplex ist, dingfest zu machen. Klischees sind eigentlich lächerlich, aber jeder verwendet sie und distanziert sich dann gleich wieder davon, weil sie eigentlich peinlich sind und sie können sehr gefährlich werden, weil sie schnell zu Vorurteilen werden. Klischees füllen einen Grenzbereich, der sich zwischen lustig und peinlich bewegt, aber auch bedenklich werden kann.

 

Und wie es im Film deutlich wird, haben sie auch ihre positiven Aspekte. Wenn man dann im anderen Land lebt, hält man auch wieder daran fest.

FRIDOLIN SCHÖNWIESE: Natürlich, Klischees sind im Prinzip nicht nur negativ. "Heimatpflege" (das Wort allein ist ja schon wieder ein Klischee) dient in der Emigration auch dazu, eine Identität irgendwie zu erfassen. Die in Mexiko lebende Protagonistin z.B., die im Film Wiener Zeitungsausschnitte für ein Mitteilungsblatt ausschneidet und aufklebt – für sie ist das ein Mittel, ihr Heimatbild weiterzuführen. Bei zwei Ländern, die so wenige Berührungspunkte haben, wie Österreich und Mexiko, überwiegen auch die positiven Klischees, weil es da keine "Bedrohung" gibt. In Nachbarschaftsbezügen, wo es Arbeitsmigration gibt, da gibt es viel häufiger Negativklischees, ich denke an USA und Mexiko. Am Ende geht der Film an die Grenzen der Länder und verlässt Mexiko. Da stellt man dann schon fest, dass es zwischen USA und Mexiko ganz andere Reibungsflächen und vor allem negative Klischees gibt.

 

Der Film gilt als Dokumentarfilm, hat aber sehr fotografische Elemente und collageartige Passagen und folgt auch einem sehr klaren Konzept?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE: Ein Genre, welches ich in diesem Zusammenhang nicht einbringen will, ist Experimentalfilm. Ich stehe zum Dokumentarfilm, versuche aber mit ungewöhnlichen Mitteln eine sehr emotionale, fast spielfilmhafte Erzählweise zu führen, die jedoch nicht einer klassischen Dramaturgie entspricht. Mit dieser Idee der umgekehrten Kamera sind Bilder entstanden, die ich ganz willkürlich mit den Erzählungen der Leute verknüpfe. Diese Leute verschmelzen zu einem künstlichen Erzähler, man hat so viele (Off-) Stimmen im Film, die man – wäre es ein klassischer Dokumentarfilm - ganz anders auflösen müsste. Das tue ich nicht, man erfährt auch nicht, wie die Menschen heißen. Es stand die Idee dahinter, dass ein Land die Summe von verschiedensten Eindrücken und Impressionen verschiedenster Leute ist. Es sollte "ein Erzähler" aus dem Off entstehen, der sich aus den Stimmen der Leute zusammensetzt und eine Geschichte aus diesen Ländern erzählt. Ich habe dann ein Jahr lang mit Johannes Hammel und Rafael Ortega, den beiden Kameraleuten, den Film gedreht. Von der Idee her ist das ganz gut aufgegangen, dass alles umgedreht wird: Die MexikanerInnen, die in Österreich leben, reden deutsch, die ÖsterreicherInnen, die dort sind, reden Spanisch. Begleitet wird alles von visuellen Bildketten, die von zwei Personen stammen, die nie zuvor im jeweils anderen Land gewesen sind. Johannes hätte in Österreich Schnee nie so gefilmt, wie Rafael es getan hat, weil der das einfach nicht kannte. Dieser schärfere Blick auf das Fremde und Unbekannte war eigentlich der Motor in den Filmbildern. Collage ist im weitesten Sinn eine mögliche Bezeichnung, Essay vielleicht ein anderer. Man kann gar nicht wirklich ein präzises Genre finden. Es ist ein Dokumentarfilm mit melodramatischen Elementen.
 

Die Präsentation der Protagonisten erfolgt in einer sehr fotografischen Weise.

FRIDOLIN SCHÖNWIESE: Ich wollte Tableaux vivants schaffen. Im Ambiente, das man sieht, ist immer auch die Person zu sehen, die spricht. Ich wollte die Leute aus einer klassischen Interviewsituation herausholen, wo sie vor der Kamera im On Dinge sagen, und eine Art Entrückung schaffen. In diese Schautafeln mit den Familien kann man sehr viel interpretieren und die Protagonisten sind keine "wirklichen" Protagonisten. Es war mir wichtig, eine weiterführende, nicht klassische Dokumentarfilm-Erzählweise zu finden.

 

Wie haben Sie die Menschen ausgewählt und gefunden?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Ganz unterschiedlich. Das beginnt natürlich mit einem Weg zu den Botschaften in Wien und in Mexiko-Stadt. Dort bekommt man allerdings eine sehr einseitige Auswahl an Persönlichkeiten vorgeschlagen. Teils habe ich dann die Leute zufällig auf der Straße gefunden, wie den achtzigjährigen Herrn Fritz, der im Boot sitzt und – metaphorisch gesehen - fast schon ins Jenseits fährt. Er hat nicht wirklich etwas zu erzählen gehabt, aber gerade die Tatsache, dass er sich nur in Fragmenten ausgedrückt hat, war mir wichtig. Mich hat es interessiert, diese ganz einfachen Leute gleichzusetzen mit einer jüdischen Emigrantin, mit einer 102-jährigen Frau, die noch eine Verbindung zur Monarchie herstellt, mit den mexikanischen Sängern. Ich hatte eine sehr offene, willkürliche, letztendlich auch sehr stimmige Zugangsweise.

 

Sind die Protagonisten im Film sehr stark auf Identitätssuche fern ihrer Wurzeln? Kann sich nicht auch der Heimatbegriff umkehren?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Ich glaube nicht, dass man so einfach sagen kann: "Ich bin im eigenen Land, also bin ich verwurzelt." "Ich bin in einem anderen Land, also bin ich verloren und auf der Suche." Es hat natürlich sehr viel damit zu tun, unter welchen Umständen man wo hinkommt, wie lange und mit welchen Interessen man woanders ist. Die Leute, die zwangsweise emigriert sind, haben besonders Schwierigkeiten, sich zu verwurzeln. Diese Generation der Emigranten hat sehr stark gelitten, aber sehr stark auch etwas Neues gesucht, um das auszugleichen. Es gibt Leute, die das sehr sichtbar machen, aber auch die, die das sehr unbewusst zelebrieren und sich beispielsweise zu Heurigenabenden treffen, wo die Herstellung des Liptauers bereits zu einem Ereignis wird. Der Akt des Imports der eigenen Identität zeigt sich oft an ganz absurden Sachen. Es gibt große Unterschiede zwischen den Generationen, die Kinder erleben das viel unkomplizierter. Sie fühlen sich da und dort verbunden. Es ist interessant zu entdecken, dass weltweit die gleichen Prozesse stattfinden. Stellt man die Kids der zweiten und dritten Generation neben die 102-jährige Frau, die noch im Monarchiedeutsch spricht, dann werden Veränderungsprozesse sichtbar, und es lässt sich der Wandel der Zeit ablesen. Auch der Begriff von Ferne hat sich gewandelt. Ich glaube, dass es heutzutage gar keine wirkliche Form der Emigration mehr gibt. Es gibt sehr viel kalkulierte Wirtschaftsmigration. Der Begriff der Ferne ist durch die schneller werdenden Reisemöglichkeiten geschrumpft. Ich selbst bin jetzt in fünf Jahren 19 Mal zwischen Wien und Mexiko-Stadt hin- und hergereist und ich merke, dass sich die Perspektiven zu verschieben beginnen. Es sind plötzlich zwei Realitäten da, die nebeneinander existieren und die man untereinander kaum kommunizieren kann. Klischees schaffen dann auch wieder die Brücken zwischen den Ländern. Zeitbegriffe z.B. sind in Mexiko völlig unverbindlich, es steht im Klischeebuch an erster Stelle, dass es immer "mañana" heißt. Wenn ich länger dort bin, muss ich damit leben, ohne dass ich es als lästig empfinde. Solche Dinge entziehen sich dem Prozess der Globalisierung, da muss man schon lange wo leben, wenn man die Substanz einer Kultur verstehen will. Je schneller man wo sein kann, desto oberflächlicher wird es natürlich. Im Film habe ich nun zwei Orte - Mexiko und Österreich - und mit beiden fühle ich mich verwurzelt und verbunden. Das macht seine Dichte aus. Der Film ist ein Produkt dieses Prozesses, den ich selber erlebe.
 

Sie haben sich entschieden, in Mexiko zu leben, das hat sicher damit zu tun, dass Sie dort etwas gefunden haben, das Ihnen ein Gefühl wie Heimat gibt.

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Am Anfang war es eine exotische Sache. Es schwinden auf der einen Seite Dinge, die zum Leben in Österreich gehört haben und gleichzeitig wächst etwas Neues auf der anderen Seite. Das ist ein sehr spannender Prozess. Man glaubt aber gar nicht, wie gleich und globalisiert das Leben bereits ist. Ich kann nicht sagen, Mexiko ist so wunderbar, Es gibt da und dort ähnlich gelagerte Probleme. Die Menschen haben dort einen ganz anderen Umgang untereinander. Aber es ist sehr schwer, das auf einen Punkt zu bringen. Mexiko hat ganz einfach eine andere Geschichte als Österreich.

 

Wie kann man das Österreich-Bild der Mexikaner umreißen?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Man kann es zunächst auf eine erschreckend einfache Formel bringen: Es ist so, wie es die Amerikaner hergestellt haben. Österreich in Mexiko ist zunächst einmal Sound of Music. Das war der Film, der das ganze Bild geprägt hat. Ein bisschen Schweizverwechslung kommt mit Heidi auch dazu und dann "pasteles", also Sachertorten gibt es in Mexiko auch. Die heile Produktwelt um die Alpen, die Freundlichkeit. Das von Habsburg herrührende Imperiale spielt da eher eine marginale Rolle.

 

Hat es sich zufällig so ergeben, dass beide Kameraleute ihren ersten, "unschuldigen" Blick auf das jeweils andere Land geworfen haben, das sie beide zum ersten Mal betreten haben?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE: Das war das einzige Experiment, das ich für diesen Film angestellt habe. Man kann natürlich nicht davon ausgehen, dass jemand Alles neu erfinden wird, wenn ich ihn von da nach dort bringe. Beide hätten sicherlich auch schöne Bilder ihres eigenen Landes gemacht. Es ist nur so: Was man täglich sieht, nimmt man nicht mehr in seiner Dichte und Poesie wahr. Woanders habe ich einen schärferen Blick, genauso wie die ÖsterreicherInnen in Mexiko das Österreichische aus der Ferne oft viel schärfer und trefflicher beschreiben konnten.

 

Die Bilder von Mexiko haben durchgehend eine sehr üppige Farbigkeit, während man in Österreich auch sehr viel düsteres, winterliches Grau sieht.

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Das ist ein Teil des Spiels. Wir haben ein Jahr gedreht, um alle Jahreszeiten durchzumachen. Ich bin im Winter mit Rafael hergekommen und er war völlig sprachlos, dass es hier keine Farben gibt. Es war sehr wichtig für ihn, festzuhalten, dass es eine Schwarz-Weiß-Welt gibt, die man im Sommer in triefenden Grüntönen wieder finden kann. Ich habe Johannes und Rafael sehr frei arbeiten lassen und es hat funktioniert, dass ein intensiverer Blick auf das Andere gegeben war.

 

Ein Jahr lang zu drehen bedeutet wahrscheinlich auch eine große Menge an Material und sehr viel Arbeit am Schnitt?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Der Schnitt mit Karina Ressler war eigentlich die Fortführung des Ganzen. Es war wunderbar. Sie hat sich das gesamte 200-Stunden Material angeschaut und ich holte sie dann für den Rohschnitt nach Mexiko, aus der Überlegung heraus, dass es dem Blick auf das Material gut tun muss, wenn die Cutterin in ein Ambiente gelangt, wo sie jeden Tag etwas anderes sieht. Es hat bewirkt, dass sie bei den mexikanischen Materialien einen Bezug zur Außenwelt herstellt und gleichzeitig das Österreichische aus der Ferne betrachtet. Wir haben sehr rasch aus diesen 200 Stunden vier Stunden gemacht, in Wien fanden dann Feinschnitt und Postproduktion statt. Insgesamt hatten wir acht Schnittwochen. Es hätte mich auch abgeschreckt, monatelang zu schneiden. Ich habe mich von sehr viel verabschieden müssen, das war aber auch befreiend. Karina hat das sehr resolut, vernünftig und mit einer unglaublichen Poesie gemacht. Den Prozess der Umkehrung habe ich dann bei der Musik nochmals wiederholt. Michael Palm hat Musik und Sounddesign für die mexikanischen Teile gemacht und ein Mexikaner hat sich mit dem Österreichischen auseinander gesetzt.
 

Es gibt im Film eine Passage, wo eine Frau sagt: "Ich habe noch nie einen Österreicher sagen hören "Ich bin stolz auf Österreich". Aber eine gewisse Zuneigung empfinde ich schon."

FRIDOLIN SCHÖNWIESE: Das bringt das schizophrene Verhältnis sehr genau auf den Punkt. In Mexiko hört man andauernd - patria! patria und wie stolz sie darauf sind! Die Mexikaner erzählten mir das auf Deutsch. Aus mexikanischem Mund klingt das alles sehr plausibel. ÖsterreicherInnen nach ihrem Österreich-Bild befragt - Da wird es kompliziert. Es ist mir bewusst geworden, dass sehr viel kaputt gegangen ist. Traditionelle Dinge, die im Vorkriegs-Dasein noch eine Normalität besaßen, haben durch die ideologische Übernahme der Nazis Schaden erlitten. Das Wort "Heimat" setzt man gleich unter Anführungszeichen oder betont es anders, weil man es nicht einfach entspannt aussprechen kann. Es herrscht hier eine Schwierigkeit, so einen Begriff wieder ungezwungen in den Mund nehmen zu können, weil er immer von ideologisch geprägten Leuten benutzt worden ist. In Österreich kommt dieser höchst komplexe und schwierige Umgang mit dem Eigenen zum Vorschein. In Mexiko hat man da einen natürlicheren Umgang mit Traditionen. Ich wurde in Mexiko oft gefragt: "Was tanzt ihr?" "Was singt ihr?" und ich war da ziemlich peinlich betreten. Die jungen Leute dort können so eine Frage beantworten, bei uns ist diese Tradition kaputt und wird wenn überhaupt, dann künstlich, fast krampfhaft betrieben und liefert Nährfutter für die so genannten Konservativen. Ich glaube das rührt aus einem kollektiven Schuldbewusstsein her, durch die völlig exzessartige Übertreibung im Zuge der Nazi-Propaganda. Das Wort "Heimat" ist einfach kaputt, weil es etwas ganz anderes impliziert als Heimat. Wenn ich auf Spanisch "patria" sage, dann klingt das befreit. Auch der Umgang mit Symbolen ist bei den Mexikanern entspannt. Die Mexikaner zelebrieren ihren Nationalfeiertag mit einer lässigen Unbedarftheit. Die Mexikanerin, die in der Frage angesprochen wurde, spürt, dass hier etwas kaputt ist. Den Bewusstseinsakt, dass man darüber redet, wie man es vielleicht wieder "gut" machen kann, kann erst die dritte Generation leisten. In gewisser Weise ersetzt der Sport dieses Gefühl, da bekommt es aber gleich wieder so eine Wichtigkeit. Schön ist es ja, wenn in einem Land die Fahne einfach dahängt und das ist es auch schon. Diese Normalität und Beiläufigkeit gibt es bei uns nicht. Wenn ich in Wien ein T-Shirt trage, wo "Austria" draufsteht, kann es passieren, dass ich als Verrückter oder als Rechter angesehen werde. Wenn man hier ein T-Shirt mit dem stars and stripes Symbol trägt, dann ist das völlig ok. Das Eigene ist verpönt. Im Zuge meiner Recherchen ist mir diese Verunmöglichung des Eigenen bewusst geworden, ohne dass ich dafür lösende Antworten finde. Ich glaube, dass im Prozess der Aufarbeitung gewisse Fragen erst von späteren Generationen gestellt werden können, sie können erst die Brücke schlagen, indem sie weit davon weg sind und trotzdem die Fragen aufwerfen. Ich glaube aber dass ein Prozess, wo man wieder eine ungezwungene Haltung zum Eigenen finden kann, am Beginnen ist.

 

Haben Sie durch die Arbeit am Film auch den wunden Punkt bei den Mexikanern entdeckt?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Die Mexikaner haben umgekehrt bis heute noch diesen Minderwertigkeitskomplex, der aus der Conquista herrührt::: nämlich weniger zu bedeuten, als ein hellhäutiger und blauäugiger Mensch. Das ist nicht auszumerzen. Dort zu leben heißt, sich auch mit diesen Dingen zu konfrontieren, als weißer Europäer permanent angestarrt zu werden. Dort schmiert man sich Bleichungscremes, bei uns Bräunungscremes ins Gesicht. Reisebüroprospekte werben bei uns mit Latino-Schönheiten auf weißen Sandstränden, dort geht es um das barocke, kultivierte Europa. Es herrscht ein großer Respekt gegenüber Europa, besonders Frankreich. Mexiko schätzt an Europa die Kultur, Europa an Mexiko die Exotik.

 

Sie arbeiten inzwischen bereits an einem neuen Projekt?

FRIDOLIN SCHÖNWIESE:  Ich denke der Film hat nicht alles klar beantwortet. Filmemachen ist auch ein Prozess, ein halbes Jahr später hätte ich ihn schon anders gemacht, vielleicht schärfer. Ich möchte längerfristig eine Trilogie erarbeiten - Volver la Vista spielt zwischen Mexiko und Österreich, mein neues Projekt ist ein sehr mexikobezogenes Thema über das problembehaftete Verhältnis zu den USA, über die Grenzmauern. Es wird ein Dokumentarfilm über ein Dorf in Veracruz, welches es zweimal gibt. Einmal als Stammdorf in Mexiko und einmal als Neugründung in den USA. Thema ist, dass Menschen emigrieren, sich dort aber wieder zu einem Dorf zusammenschließen. Eine Migrationsgeschichte aus der Emigrationsperspektive gesehen. So ein Problem von einem komplett anderen Blickwinkel aus zu betrachten, das kann ich jetzt, weil ich nun seit fünf Jahren in Mexiko bin. Man sieht solche Problematiken sonst immer mit den eigenen Augen. In weiterer Folge würde ich gerne einen dritten Teil machen, aus der Erfahrung des zweiten, der wieder Österreich mit einem Emigrationsland in Verbindung bringt. Da möchte ich wieder auf das eigene Bild von Österreich kommen, erzählt über den Konflikt der Migration.

 

Interview: Karin Schiefer (2005)