FEATURE

Michael Glawogger dreht SLUMMING

 

Kallmann versteht nur Bahnhof, als er ganz steifgefroren am Morgen auf der Bank erwacht. Es gibt Busse, aber in einer anderen Farbe als in Wien, geschäftige Menschen, aber er versteht kein Wort von dem, was sie sagen, eine Kassenhalle, aber nichts ist dort so, wie er es gewohnt war. Er kann sich schon vorstellen, dass er sich am Vorabend am Wiener Westbahnhof herumgetrieben hat und möglicherweise auf einer Bank eingeschlafen ist. Was er aber vielleicht nie erfahren wird, ist, dass ihn zwei von der Lebenslangeweile geplagte 30-Jährige am Vorabend vom schnapsbetäubt auf einer Bank beim Westbahnhof vorgefunden, in den Kofferraum ihres Wagens gehievt, ihm seinen Pass genommen, ihn jenseits der tschechischen Grenze am Bahnhof von Znaim ausgeladen und dort wieder auf eine Bank gebettet haben. Für Kallmann beginnt – ohne Geld und Papiere – eine Odyssee durch ein eiskaltes Niemandsland. Die Passanten und Flaneure, die sich an einem strahlend sonnigen Februar-Vormittag auf ihren Weg durch die Mariahilfer Straße machen, wissen auch nicht so recht, wie ihnen geschieht, als sie plötzlich ein blasser Herr mit zerschlissenem Gabardine-Mantel und dunkler Fellmütze mit einem Papier in der Hand im Nacken kitzelt, ihnen Gedichte unter die Nase hält und nicht gerade höflich auffordert, sie im vorzulesen, weil er selbst keine Brille dabei hat oder gar mit einem wütenden Tritt gegen die nächste Mülltonne eine Frau und ihr zartes Hündchen durch Mark und Bein erschreckt.

 

Manche Szenen seines neuen Spielfilms Slumming dreht Michael Glawogger semidokumentarisch. Eine davon spielt in Wiens belebtester Einkaufsstraße, wo Hauptdarsteller Paulus Manker in der Rolle des Kallmann versucht, sich mit eigenen Texten ein bisschen Kleingeld zu verschaffen. Die Leute reagieren unterschiedlich, die Kamera scheint sie nicht besonders zu verschrecken, das rüpelhafte Benehmen des Straßendichters auch nicht wirklich. Den einen genügt schon das aufmerksame Auge der Kamera, andere erwarten sich für ein bisschen Einsteigen auf die Provokation wenigstens ein Bier, manche können den unflätigen Quälgeist einfach nicht abwimmeln und eine Dame vertieft sich bereitwillig in die Texte und drückt ihm sogar eine Münze für sein kleines Büchlein in die Hand. Nur der ältere Herr, der als "Arschloch" beschimpft wird, ist auf den verbalen Ausritt vorbereitet, er ist einer von zwei Komparsen, die sich unter die anonyme Menge mischen, wenn Paulus Manker die Rolltreppe der U3 verlässt und dann auf einem ganzen Straßenabschnitt laut pöbelnd mehrere Minuten ohne Schnitt vor Riccardo Brunners geschulterter Steadycam improvisiert.

 

Improvisationen eines Straßendichters

"Slumming," so Michael Glawogger, "ist ein klar definierter Spielfilm. Aber bei manchen Dingen greife ich auf meine Erfahrung als Dokumentarfilmer zurück und weiß, dass ich mich das trauen kann. Es gefällt mir oft besser so, als mit Komparserie zu arbeiten, da geht es mir nicht um dokumentarische Methoden, sondern vielmehr um eine Realismusgenauigkeit, die ich walten lassen möchte." Insgesamt sechs verschiedene Geschäftslokale sind für den Dreh in der Mariahilfer Straße vorgesehen. Die Sonne, die unbeirrbar durch die Geschäftsvitrinen dringt, macht dem geplanten Ablauf mit sechs verschiedenen Geschäftsadressen einen Strich durch die Rechnung, die kleine mobile Crew mit Kameramann Martin Gschlacht entscheidet jedoch spontan, wo es weitergeht, innerhalb weniger Minuten sind an einem Geschäftseingang die Warenkörbe beiseite geräumt, das Nötigste aufgebaut und keine halbe Stunde und drei, vier Takes später die Spuren der filmenden Störenfriede auch schon wieder beseitigt. Paulus Manker stand für den Regisseur schon seit langem als Wunschbesetzung für die ambivalente Rolle des Kallmann fest – "Paulus Manker ist," so der Filmemacher, "für sein großes Können im österreichischen Film fast unterrepräsentiert. Dieser Kallmann ist ein hochintelligenter Mensch und aggressiv auf die Welt, in der er keinen Platz findet. Er lebt an der Grenze zwischen völlig versandelt Sein und genialem Tun.

 

Das Schwierige an seiner Rolle war – das scheint mir wie eine Königsdisziplin – , dass er fast 80 Prozent seiner Rolle mit sich selbst spielen muss. Das war wie ein Monologisieren durch die Landschaft. Kallmanns Outfit allein spiegelt bereits seine Widersprüchlichkeit wider – ein abgerissener Mantel stempelt ihn zum Sandler, ein zerknitterter Papiersack von der Gourmet-Adresse Zum schwarzen Kameel verrät ihn als einen, der sich möglicherweise im Milieu verlaufen hat. Absichtlich im "falschen" Milieu verkehrt Sebastian (August Diehl). Er hat auch nicht wirklich einen Platz in dieser Welt, jedoch die finanziellen Mittel, um etwas spielerischer als Kallmann mit dieser Situation umzugehen. Er streift meist mit seinem Freund Alex (Michael Ostrowski) durch ganz Wien auf der Suche nach seinen schäbigsten Lokalen und hat trotz seiner 30 Jahre noch immer ein diebisches Vergnügen, mit fremden Leuten seine Späße zu treiben. Manchmal sind sie harmlos – er verkuppelt oder beschenkt wildfremde Leute, arrangiert Dates im Chatroom und geht dann selber hin oder schickt einen Freund unter seinem Namen- , manchmal subversiv - er wirft eine Menge Geld in die Automaten einer Spielhalle, damit die Kinder gratis spielen können -, manchmal überschreiten sie jedoch geschriebene und ungeschriebene Gesetze. So wie Kallmanns Erwachen in Znaim. Sein fieses Spielchen könnte Kallmann ums Haar Kopf und Kragen kosten, wären da nicht noch eine Reihe anderer, nicht von Sebastian gesteuerte Zufälle. "Im Grunde ist es" erläutert Michael Glawogger, "eine sehr dunkle Komödie. Es geht hier nicht um den Kontrast zwischen zwei Generationen. Nur weil jemand zynisch ist, ist nicht eine ganze Generation zynisch. Und um mit einem Zitat von Sebastian zu sprechen "So einfach ist die Welt nicht". Ich möchte verdeutlichen, dass eine Aktion, die zynisch motiviert war, sich für jemanden zu etwas Positivem entwickeln kann. Dass oft die richtigen Entscheidungen aus den falschen Gründen getroffen werden und umgekehrt." Gedankenexperimente Gedreht wird Slumming seit Ende Jänner. Nach drei Wochen Schnee und sibirischen Temperaturen in Tschechien, übersiedelte das Team nach Wien, den Schlusspunkt setzt ein dreitägiger Dreh in Jakarta - Destination eines von Sebastians spontanen Zufallsaktionen.

 

"Ich glaube," erläutert der Filmemacher, es ist der Dreh mit den meisten Drehorten, den ich je gemacht habe. Wir waren einmal drei Tage lang an einem Drehort, ansonsten müssen wir oft an einem Drehtag drei oder viermal übersiedeln." So auch nach den Improvisationen durch die Mariahilfer Straße. Nächster Fixpunkt ist am späten Nachmittag der Äußere Gürtel, im Souterrain einer jugoslawischen Disco: August Diehl und Michael Ostrowski auf Lokaltour, der jugoslawische Schlagerstar Dragana Mirkovic life in concert. Der Ortswechsel heißt auch wieder Methodenwechsel: statt Zufall und Offenheit bestimmen jetzt wieder exaktes Timing und präzise Vorstellungen des Regisseurs das Geschehen am Set. Der Wechsel zwischen diesen beiden Ansätzen innerhalb des Drehs ist Michael Glawogger ebenso willkommen wie zwischen seinen Projekten. Mit Slumming entsteht nach Nacktschnecken bereits der zweite Spielfilm parallel zum 2003 gestarteten Dokumentarfilmprojekt Workingman's Death, das kurz vor seiner Fertigstellung steht und von körperlicher Schwerarbeit in der Ukraine, Indonesien, Nigeria, Pakistan, China und Deutschland erzählen wird. "Ich mache beides gern." so der Filmemacher, "der Dokumentarfilm bringt ein sehr interessantes Leben während des Drehs mit sich, der Spielfilm erlaubt Gedankenexperimente, man muss jedoch bei der Umsetzung viel genauer sein und kann es weniger fließen lassen. Ich wäre unglücklich, wenn ich nur eines davon machen könnte."

 

Karin Schiefer
2005