INTERVIEW

Robert Schindel im Gespräch über GEBÜRTIG

 

Es ist kein Film über Vergangenheitsbewältigung, sondern ein Film über Gegenwartsbewältigung. Das ist entscheidend. Denn eine Vergangenheit kann man eigentlich nicht bewältigt haben. Man kann nur bewältigen, wie sie in die Gegenwart eingreift und wie heute die Leute damit umgehen und das haben sowohl der Film als auch der Roman versucht zu zeigen.

 

ROBERT SCHINDEL: Ich weiß nicht, ob das so ein direkter Weg war. Gebürtig war ein Filmexposé, bevor es ein Roman wurde. Ich plante das damals zusammen mit dem Lukas Stepanik, als Vorbild für Gebirtig schwebte uns Georg Kreisler vor. Daraus wurde dann nichts. Ich hab dann auf Drängen des Verlages aus einem Teil dessen, was jetzt in Gebürtig steht, den Roman gemacht. Axel Corti las ihn und war vollauf begeistert und gab eine Absichtserklärung ab, dass er ihn verfilmen wollte. Damit hatten wir Georg Stefan Troller, der eng mit Corti befreundet war, gewonnen, sich des Stoffes anzunehmen. Er hat ein fabelhaftes Drehbuchkonzept entwickelt. Wir wollten zuerst zwei Filme machen, entsprechend den zwei Ebenen im Roman. Er hat den Gordischen Knoten durchschlagen und gefunden, wie man im Film diese zwei Ebenen, die im Roman nie zusammen kommen, verbindet. Das hat den Ausschlag gegeben. Dann haben wir nur sechs noch Jahre bis zum endgültigen Produkt gearbeitet.

 

Wie sah die Arbeitsteilung nun bei drei Drehbuchautoren aus?

ROBERT SCHINDEL:  Georg Stefan Troller machte den Grundentwurf, den ich mit Lukas Stepanik überarbeitet habe. Ich hab mich auf die Dialoge konzentriert, Lukas auf die dramaturgischen Bögen. Die Änderungsvorschläge gaben wir Georges zurück, der lieber alleine arbeitete. Das ging hin und her. Insgesamt machten wir acht Versionen. Für die Regiefassung haben Lukas und ich allein gearbeitet, aufbauend auf dem, was da war. Das endgültige Drehbuch entstand also zu zweit zunächst unter Protest, dann mit Zustimmung von Georges.

 

Hat es viel mit Aderlass zu tun, wenn man am Drehbuch des eigenen Romans arbeitet?

ROBERT SCHINDEL: Nachdem die Herangehensweise eine andere war, war ich ganz im Film und es passierte mir sogar, dass ich den Roman zeitweilig ganz vergessen hatte. Im Film waren Danny Demant und Susanne Ressel am Anfang ein Paar. Das hat sich so verfestigt, dass ich beinahe vergaß, dass die sich im Roman nie begegnen. Mit Lukas Stepanik bilden Sie schon seit langem ein Team. Wir haben miteinander acht oder neun Fernsehfilme gemacht, darunter eine ganze Reihe von Geschichten aus Österreich, eine Serie kurzer 50-Minuten-Filme. Ich immer als Dramaturg und Drehbuch-Polisher, Lukas als Regisseur. Film war also kein Neuland für mich, aber Regisseur war ich zum ersten Mal. Da Lukas und ich uns so lange gut kennen, auch Krisen der Zusammenarbeit schon miteinander bewältigt haben und beide in einem Alter sind, wo wir keine Profilierungssucht haben, hat das bestens funktioniert. Wir waren wie die Brüder Taviani oder die Brüder Coen, nicht dass ich mich jetzt von der Qualität des Films her mit ihnen vergleichen möchte, aber von der Art der Zusammenarbeit. Es gab eine wunderbare Arbeitsteilung, ich war hauptsächlich für die Schauspielführung zuständig und Lukas fürs Bild. Das heißt nicht, dass der eine nicht auch beim anderen mitgeredet hätte. Wir haben miteinander die Kostüme ausgesucht, gemeinsam gecastet. Wir haben alles zu zweit entschieden.

 

Wie verlief das Casting?

ROBERT SCHINDEL:  Es ist eine ganze Reihe von großartigen Schauspielern aufgetreten. Als erste Wahl für Gebirtig hatten wir Mario Adorf, das hat nicht geklappt. Dann haben wir lange mit Armin Müller-Stahl verhandelt. Ihm hat das Drehbuch sehr gut gefallen, er sagte jedoch "mit meiner Piefke-Schnauze kann ich das nicht spielen". Wir schlugen ihm vor, ihn zu coachen, es hätte genügt, hie und da einmal etwas Wienerisches zu sagen und sonst in einem Emigranten-Deutsch zu bleiben. Er hat lange überlegt und schließlich doch abgesagt. Dann sah ich den Fernsehfilm Weg in die Dunkelheit über einen an Alzheimer erkrankten Bühnenarbeiter mit Peter Simonischek und wusste, das ist der Gebirtig. Ein steirischer Naturbursche als jüdischer Emigrant, das hat mir total gepasst. Als wir ihn hatten, hat sich um ihn herum die Besetzung ergeben. Sie haben auch einen sehr renommierten Kameramann engagiert.

 

Wie sah das visuelle Konzept aus?

ROBERT SCHINDEL:  Visuell wollten wir lakonisch erzählen. Wir wollten nicht, dass die Kamera eine eitle Selbstbespiegelung von Bildern liefert. Dazu brauchten wir einen Regie führenden Kameramann. Einen, der sich einmischt in alle Belange, der auch mitdenkt, der nicht sagt, "Wenn ich dieses Bild mache, werden die anderen glauben, ich kann kein schöneres Bild machen". Deswegen haben wir Edward Klosinski gesucht und gefunden. Er ist ein sanfter, wütender, engagierter, zorniger, leidenschaftlicher Kameramann, der am Zustandekommen des Films genauso beteiligt war wie Lukas und ich. Eigentlich ist Gebürtig von vier Leuten gemacht. In Gebürtig geht es um Personen, die alle mit oder trotz ihrer Geschichte einen Modus Vivendi finden, bis sie eines Tages durch ein Ereignis mit sich selbst und der Vergangenheit konfrontiert werden. So ist es. Insofern ist es auch kein Holocaust-Film. Es ist kein Film über Vergangenheitsbewältigung, sondern ein Film über Gegenwartsbewältigung. Das ist entscheidend. Denn eine Vergangenheit kann man eigentlich nicht bewältigt haben. Man kann nur bewältigen, wie sie in die Gegenwart eingreift und wie heute die Leute damit umgehen und das haben sowohl der Film als auch der Roman versucht zu zeigen. Die Juden und die Nicht-Juden trennt die gemeinsame Geschichte.

 

Es gibt diese sehr irritierende Eröffnungssequenz, wo Menschen, die eigentlich zwei Gegenpole darstellen, plötzlich menschlich miteinander umgehen. Man fragt sich, was ist da los?

ROBERT SCHINDEL: Es geht natürlich um Simulation von Wirklichkeit, wie ja der ganze Film eine Simulation ist. Und diese Szene ist ein Film im Film. Um das nicht gleich zu verraten, haben wir die erste Passage vor dem Todestor in Birkenau ansiedelt. Diejenigen, die damals nicht verrückt wurden, können das jetzt werden. Genau diesen Blick wollten wir aufzeigen, dass es sich in Wirklichkeit um Menschenkinder handelt, die durch ihre getrennten Gebürtigkeiten auf der Seite des Todes oder auf der Seite des Lebens, auf der Seite des Verbrechens oder auf der Seite des Opfers stehen, ohne irgendetwas dafür zu können. Die Opfer sind ja, weil sie sind, wer sie sind, zu Opfern gemacht worden. Und bis zu einem gewissen Grad sind ja auch die Täter Opfer. Das waren oft 18-, 20-jährige Burschen, die keinen Ahnung hatten und in einem autoritären System einfach dachten – "Na, wenn es erlaubt ist." Ich meine, ich verzeihe deswegen nicht. Denn es gibt ja ein Gewissen und die Täter hatten alle ein Gewissen, das merkt man daran, dass diese KZ-Aufseher ununterbrochen betrunken waren. Die konnten ohne Alkohol das gar nicht machen. Es sind halt beide, die Opfer und die Täter, vom gleichen Stamm trotz der unterschiedlichen Gebürtigkeiten. Das wollte ich auch zeigen: der Aufseher gibt dem KZ-Häftling Feuer, damit die Leute sagen "Was?!" Und dann sieht man, es handelt sich um einen Film im Film und um Komparsen, und deswegen gibt er ihm Feuer.

 

Ist Ihnen Versöhnung in Bezug auf die Zukunft/auf die Vergangenheit ein Anliegen?

ROBERT SCHINDEL:  Zum Teil gibt der Roman darauf eine Antwort. Ich bin kein großer Hasser. Ich konnte das nie. Ich kann nicht einmal Hitler hassen, auch wenn er ein Massenmörder war, der meine ganze Familie umgebracht hat. Aber ich kann mich auch nicht versöhnen im Namen der Toten. Simon Wiesenthal hat einmal zu Recht gesagt: "Verzeihen können nur die Toten". Ich kann nicht für meinen Großvater Salomon, für meinen Vater, meine Onkel und Tanten versöhnen. Ich kann aber persönlich versuchen in der Auswahl meinesgleichen - Leute meiner Generation und Jüngere, deren Eltern vielleicht Mitläufer oder Nazis, Wegschauer oder sogar Täter waren - auf gleich zu kommen. Und zwar durch ein offenes Gespräch. Dadurch, dass ich mich nicht auf die Anklageseite stelle, sondern dass ich zu vermitteln versuche, dass sie keine Schuld an der Sache haben, aber eine Verantwortung für die Nachkommen der Opfer. Dass sie eine Verantwortung dafür übernehmen, dass, alle hier ohne Angst leben können. Sie sind selbst aus Ihrer biografischen Situation an der Schwelle, Überlebender und Nachkomme zugleich.

 

Ist Gebirtig insofern, als er eine andere Konsequenz gezogen hat, indem er sagt "Ich verlasse diese Stadt, verachte sie und kehre ihr den Rücken" eine Art Alter Ego, das einen anderen Weg als Sie gewählt hat, um mit diesem Schicksal umzugehen?

ROBERT SCHINDEL:  Eigentlich nicht. Es gibt zwar einiges, was Gebirtig und ich gemeinsam haben, was irgendwelche Marotten anlangt oder in einer gewissen Zeit meines Lebens meine Art mich gegenüber Frauen zu verhalten. Da gibt es schon Sachen, die ich ihm geliehen hab. Die Konsequenz, die er gezogen hat, die gehört einer Kunstfigur. Mich hat gereizt, dass jemand so vereist und als er dann doch aus irgendeinem Grund zurückkommen muss, plötzlich die Liebe zu dieser Stadt wieder entdeckt und eine Liebe in dieser Liebe, noch dazu zu einer Schickse, einer Nicht-Jüdin. Etwas, was für ihn undenkbar war, nach 1945. Und dass er enttäuscht wird. Dass er sieht und glaubt, alles hat sich geändert und in Wirklichkeit ist der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch. Viele der Leute sind nicht wirklich einsichtig. Er tut der Stadt auch unrecht, denn wenn die Geschworenen Pointner freisprechen, heißt es ja nicht, dass diese Stadt jetzt so ist wie damals. Aber er kann es nicht mehr aufhalten und fährt wieder weg.

 

Wie sieht Ihr Verhältnis zu Wien aus?

ROBERT SCHINDEL:  Ich liebe ja Wien. Ich hab ja mein ganzes Leben sozusagen in dieser Stadt verbracht. Ich bin, auch wenn ich da nicht geboren bin, ein Wiener. Ich bin seit meinem vierten Lebensmonat hier. Meine Auslandsreisen beschränken sich auf ein Jahr in Spanien und ein halbes Jahr in Mexiko. Ich war eigentlich immer hier und beziehe meine ganze Kraft, auch meine Sprachkraft, so ich eine habe, aus der Auseinandersetzung mit der Stadt. Das Wienerische ist ja von selber schon eine derartig literarische Sprache. Wenn man den Wienern im Wirtshaus zuhört, wenn die reden, das ist ja zum Teil schon Literatur. Deswegen kann ich also nicht sagen, dass ich mich mit der Stadt versöhne oder nicht versöhne, sondern sie ist tief in mir. Und ich auch, hoffentlich, ein bissl in ihr.

 

Welche Rolle spielt der Humor angesichts der Auseinandersetzung mit dem Grauen?

ROBERT SCHINDEL:  Ich sage immer, Humor ist ein Bestandteil meines Stammes. Ich meine, dass man ohne Humor sich diesem Thema nicht nähern kann. Es geht nur mit Humor. Jurek Becker hat es gezeigt, Spielberg hat es mit Schindler's List gezeigt, der ist mit unglaublicher Herzenswärme gemacht. Das geht nicht mit Lachverbot. Ich jedenfalls könnte kein Buch schreiben, keinen Film machen, ohne dieses Schmiermittel, dass diese sperrigen Sachverhalte besser in die Seele oder in die Aufmerksamkeit wandeln lässt. Im Roman heißt es "Kann ein Mensch überhaupt bei sich selbst anfangen, wenn er mit sich lebt". Muss ich in meine Vorzeit hineinhängen, um nun dazustehen?

 

Welche Rolle spielt dieser Aspekt der kollektiven Vergangenheit für Sie in der Auseinandersetzung mit der Thematik von Gebürtig .

ROBERT SCHINDEL: Es gibt eine Legende bei den Juden, dass wir alle herum- und dabei gestanden sind, als Moses die Gesetzestafeln vom Sinai herunter getragen hat. Gemeint ist, dass wir uns alle nolens volens, und gerade die jüngste Geschichte zeigt es, wie eine Intarsie in den Geschichtsteppich selber hineintun müssen. Wir müssen uns als Schöpfer von Gegenwart und Zukunft sehen, also in der Geschichte, die wir selber gestalten, und gleichzeitig als Geschöpf, dass wir Resultat einer langen Reihe bis zu den Barbaren hinauf oder hinunter sind, die alle in uns – historisch, nicht biologisch gesehen – die Gene gebildet haben. Es sind ja, scheint es, bis zu einem gewissen Grad viele Jahrtausende in uns drinnen. Es ist ja eine sehr wichtige Erkenntnis, um zu verstehen, warum Baby schaukelnde und Schäferhunde liebende junge Männer imstande sind, tausende Menschen abzuschlachten. Weil plötzlich der in ihnen wirksam war, der einmal ein Mammutjäger war. Der Film der Zivilisierung der eigenen Wolfsnatur ist dünn, für uns alle. Nicht nur für die Täter, auch für die Opfer. Wir alle müssen immer diesen Kampf in uns selber um unsere eigene Pazifizierung führen, es heißt bei Renan, "Demokratie ist ein tägliches Plebiszit in einem selbst". Wenn ich das nicht beachte, dann renne ich nur mehr als Zombie herum, dann schneide ich mich ja von meiner eigenen Geschichte ab und dann tu ich so, als würde ich die Welt erschaffen haben. Das gibt es natürlich. Solche Gedanken hat man schon auch, in Glücksmomenten hat man das Gefühl, man hat die Welt als Sandkorn in den Fingern. Aber man kann ja das nicht wirklich glauben.

 

Interview: Karin Schiefer

2002