INTERVIEW

Caspar Pfaundler über GEHEN AM STRAND.

 

Caspar Pfaundler im Gespräch über seinen neuen Spielfilm GEHEN AM STRAND.



Es ist eines der Kennzeichen Ihrer Filme, dass Sie mit einer Einstellung aufs Meer eröffnen. Auch diesmal ist dies der Fall. Mehr noch: Der Filmtitel führt bereits ans Meeresufer. Ist es für Sie DER magische Ort, wo sich für Sie das filmische Erzählen entfalten kann?
Caspar Pfaundler: Es ist ein Ort, der dem Film sehr entgegen kommt, weil er sehr reduziert ist. Das Bild ist quasi leer. Es gibt den Horizont, die Meeresebene und den Strand. Es ist ein Grenzbereich. Das Thema meiner Dissertation lautete Am Meer - im Film, ich habe mich also mit diesem Topos sehr intensiv auseinander gesetzt. Außerdem habe ich am Strand, an dem wir filmten, als Kind viel Ferienzeit verbracht. Meine Mutter war Holländerin und das Gehen am Strand ist Teil meiner Kindheit. Es hat mich immer fasziniert, auf diese große Fläche zu schauen, einen Endpunkt vor mir zu haben und gleichzeitig einen Raum, in dem sich etwas auftun kann. In Filmen- das habe ich im Laufe meiner Untersuchung festgestellt, ist das Meer ein Ort, wo die Menschen zu ihrer eigenen Wahrheit kommen, wo es um Tod und auch um Liebe geht. Also um die Kernbereiche filmischer Arbeit. Das Meer kommt sehr oft am Anfang und am Ende vor. Das soll jetzt nicht heißen, dass ich mein Leben lang Filme machen muss, die mit einem Blick aufs Meer beginnen. Ich halte es für einen schönen Ausgangs-, aber auch Endpunkt. Jeder, der einmal am Meer gestanden ist und hinausgeschaut hat, weiß, dass das ein sehr berührender Augenblick sein kann.

Haben Sie für GEHEN AM STRAND ein Drehbuch geschrieben oder entstand wie bei Schottentor zunächst ein Prosatext?
Caspar Pfaundler: Auch diesmal lag dem Drehbuch ein Prosatext zugrunde, allerdings einer, den ich schon vor langer Zeit geschrieben habe. Damals dachte ich nicht daran, dass es ein Film werden könnte. In den zehn Jahren habe ich mich hoffentlich verändert, insofern ist auch aus der Textgrundlage etwas anderes geworden. Ich habe basierend auf dem Prosatext ein Drehbuch geschrieben, das die Schauspieler aber nicht bekommen haben. Das war auch gut so.

GEHEN AM STRAND fokussiert auf einen Lebensmoment einer jungen Frau Ende 20. Welche Charakteristika schwebten Ihnen vor, als die Figur der Anja entstand?
Caspar Pfaundler: Es geht in GEHEN AM STRAND um einen inneren Widerstand. Ein Thema, das eigentlich in der Literatur besser aufgehoben wäre als im Film, wo es im Allgemeinen um Bewegung und das Finden seines eigenen Weges geht. Ich ahnte, dass es schwierig sein würde, den Widerstand, der in einer Person drinnen steckt, sichtbar zu machen, ohne besonders augenscheinliche Aktionen setzen zu müssen, damit der Zuschauer weiß, worum es geht.

Sehen Sie diese Kraft, die diese junge Frau an so vielem hindert, eher aktiv als Widerstand, weniger passiv als Blockade?
Caspar Pfaundler: Es ist gewiss beides. Mein künstlerischer Zugang zu Film ist, dass ich zwar beim Schreiben des Drehbuchs und im Moment des Drehens genau weiß, was ich will und mich auch ausführlich vorbereite, aber während der Arbeit nicht genau wissen muss, was am Ende rauskommt. Erst die fertige Arbeit offenbart, worum es mir wirklich geht.  Bei GEHEN AM STRAND war es in der Tat so, dass mich der Film eingeholt hat. Ich kannte Anjas Problem gut aus eigener Erfahrung. Auch ich hatte große Schwierigkeiten, mein Studium abzuschließen. Erst nach dem Film ist mir bewusst geworden, dass der Film viel mehr mit mir zu tun hat, als mir vielleicht lieb ist. Es geht letztendlich darum, dass man sich selber annimmt. Anja sagt das auch einmal in einer Therapiesitzung. Es geht darum, dass man nichts leisten muss, um da sein zu dürfen, dass es genügt, einfach da zu sein. Das sagt sich einfach, ist aber, wie wir alle wissen, etwas sehr Schwieriges. Wie zeigt man das, ohne etwas zu konstruieren? Procrastination war mein Ausgangspunkt – d.h. man tut Dinge, um ja nicht das zu tun, was man eigentlich tun sollte. Da zeigt sich schon ein Widerstand.

Wogegen richtet sich Anjas Widerstand?
Caspar Pfaundler: Da gibt es verschiedene Ebenen. Eine ist, dass sie ihre Diplomarbeit nicht abschließen kann. Sie will selber fertig werden und auch ihre Umgebung erwartet von ihr, dass sie fertig wird, sie kann aber nicht. Irgendetwas wehrt sich in ihr. Die Arbeit ist praktisch geschrieben, es fehlt das letzte Kapitel. Sie zeigt sich damit selber etwas. Der Widerstand führt ihr das wirkliche Selbst, oder wenn man so will, ihr wahres Selbst vor Augen, das von lauter Dingen zugedeckt ist, die mit ihr sehr wenig zu tun haben. Dieser Weg von der Erfahrung des Widerstandes bis zum Erleben des eigentlichen Selbst, das ist der Weg, der in einem stattfindet. Ihn nach außen zum Durchscheinen zu bringen war eine spannende Herausforderung.

Anja ist eine junge Frau und doch kein junges Wesen. Sie ist ein unheimliches Gewohnheitstier, lebt in einer alten, dunklen Wohnung, muss zur Telefonzelle telefonieren gehen, hat ihr Internet abgedreht. Ihren Figuren ist immer wieder etwas „Entrücktes“, „Weltfremdes“, „Zeitloses“ gemein. Warum?
Caspar Pfaundler: Sie hat kein Internet, um sich nicht vom Schreiben abzulenken. Sie hat sich deshalb zurückgezogen und begegnet so ihrem Widerstand besser. Es ist ein schmerzhafter Prozess. GEHEN AM STRAND ist mein dritter Spielfilm und man könnte auch sagen, es ist das Ende einer Trilogie des Verloren-Seins. Man kann es aber natürlich auch anders sehen. Der Film möchte jedenfalls zeigen, dass etwas scheinbar Unsichtbares in einem Menschen berührt wird und zu leben beginnt. Anja ist ja nicht allein mit dem Problem, dass sie nicht wirklich sie selbst ist. Es ist ein sehr archaisches Phänomen, dass man zwar als vollwertiges Wesen auf die Welt kommt, aber dann alles unternommen wird, nicht die Person zur Entfaltung kommen zu lassen, die man ja schon ist. Im besten Fall geht es darum im Kino. Das Kino ist ja auch ein archaischer Ort, wo man im Dunklen sitzt und auf eine helle Fläche hinschaut. Leider scheint das Kino zu verschwinden. GEHEN AM STRAND ist ein Film, der es nicht so leicht hat, seinen Ort zu finden. Es ist kein Handyfilm, den man en passant anschauen kann. Es gibt viele Totalen, auch weil sie Anjas Verlorenheit am besten zum Ausdruck bringen.


Ist Depression auch ein Thema des Films?
Caspar Pfaundler: Es ist gewiss kein depressiver Film. Depression, so, wie sie diese Frau hat, ist für sie der Normalzustand. Nur beginnt sie gerade erst zu begreifen, dass sie etwas in sich unterdrückt. Der Widerstand ist ja ein Lebenszeichen. Dieser depressive Normalzustand hat natürlich mit ihrer Familie zu tun, die Anja von sich fernzuhalten versucht, so gut es geht. Doch sie könnte auch ans andere Ende der Welt auswandern, ihre Familie trägt sie in sich. Das einzig Relevante ist, wie sie mit dieser Familie in sich umgeht. Es geht nicht darum, was die Eltern gerade machen, es geht darum, was sie mit sich selbst macht. Dem nähert sie sich. Es geht um die Wahrnehmung seines tiefen, wahren Selbst. Die Szene am Strand, bevor sie das Gespräch mit ihrem Vater hat, ist der Moment, wo sie beginnt, mehr von sich selber wahrzunehmen.

Ihre Kamera verliert sich immer wieder in Blicken auf Details, weist auf die Schönheit in der Alltäglichkeit hin, die wir oft nicht wahrnehmen, aber auch auf Anjas hohe Sensibilität, die sie auch auf beunruhigende Gedanken bringt. War die Anstrengung in der Bildersuche, die, Anjas Innenwelt und Außenwelt darzustellen und entsprechend ihrer Verfassung ineinander fließen zu lassen?
Caspar Pfaundler: Die Bilder suche ich nicht. Sie sind da. Ich muss mich eher gegen die Bilder wehren. Die Bilder, manchmal auch Töne – sind vor der Geschichte da. Das Bild am Filmende mit dem Zelt war schon lange da, ehe ich gewusst habe, welchen Platz es in der Geschichte einnehmen könnte. Mir stellt sich nicht die Frage: Wie verpacke ich das in Bilder? Die Frage ist eher:  Wie entwickelt sich die Geschichte?

Ich denke vielmehr an Detailbilder wie die Schnecke, die Einschlüsse in der Treppe aus Stein, die Schweinehälften...
Caspar Pfaundler: Das sind Tagtraum-Impressionen. Sicherlich auch Zeichen von Einsamkeit und Isolation, sie sind aber nicht nur unangenehm. Anja hat sich in ihre Welt eingesponnen, versucht, sich alle Ablenkungen vom Leib zu halten und es geht doch nichts weiter. Ich sehe diese Bilder nicht nur funktionell als Repräsentanten von Innen- oder Außenwelt, sie haben auch etwas Direktes, Unkontrolliertes. Wenn man den Hang zum Tagtraum hat, dann entstehen schnell Bilder. Bei mir geht es mehr darum: Was lasse ich weg? Was ist zumutbar? Es ist eben ein narrativer Film und kein Avantgarde-Film. Natürlich sagen diese Bilder auch etwas über Anja aus. Es geht auch bei ihr nicht alles über die intellektuelle Ebene. Es gibt auch andere Kräfte in ihr, die sie nicht leben darf. Sie würde gerne selbst künstlerisch tätig sein, schreibt aber eine Arbeit über Kunst, sozusagen vom anderen Ufer aus.

Kenzaburo Oe ist dezent wahrnehmbar als eines der Themen der Diplomarbeit im Hintergrund. Welche Rolle spielt er für Sie als Inspirationsquelle?
Caspar Pfaundler: Das lasse ich bewusst sehr offen. Es gibt ja viele Bücher auf Anjas Schreibtisch. Es könnte ein kunsthistorisches, aber auch ein literaturwissenschaftliches Thema sein. Ich wollte den genauen Hinweis auf das Thema vermeiden. Oes Schwager, Itami Juzo, ist übrigens der Regisseur von Tampopo und Die Steuerfahnderin. Das japanische Nachkriegskino ist für mich eines der eindrucksvollsten und prägendsten, wie zum Beispiel die Filme von Shimizu Hiroshi. Oe Kenzaburo selbst ist für einen Nobelpreisträger erstaunlich schwierig und unkommerziell. Abgesehen von Reißt die Knospen ab ist der Rest seines Werkes eher schwer zugänglich. Es liegen aber wirklich viele verschiedene Bücher auf Anjas Tisch. Es könnte vieles sein. Vielleicht wird das Denken zu stark bewertet. Lebendigkeit hat nichts mit Büchern zu tun, sondern immer damit, wie man mit sich selber umgeht. Dieses Alleine-am-Meer-Sein kann ich jedem nur empfehlen, weil es ein Moment ist, wo man auf sich zurückgeworfen wird, wenn man es aushält. Es ändert Anjas Leben nicht grundlegend, hat aber etwas in ihr berührt, das man nicht genau festmachen kann. Da hat auch die Schauspielerin einen gewissen Widerstand entwickelt. Ich habe vermutet, dass die Person, die den Film über seine ganze Länge hin tragen muss, selbst einen Widerstand erzeugen wird und das hat sie auch dann getan.


Wie haben Sie Ihre Schauspieler auf den Dreh vorbereitet?
Caspar Pfaundler: Der Regisseur war gut vorbereitet und konnte die Dialoge auswendig. Die Regieassistentin Lisa Wolf auch. Das Drehbuch war zur Gänze ausgeschrieben. Die Schauspieler bekommen aber von mir kein Drehbuch in die Hand. Die Vorarbeit am Set für einen Take dauerte nie sehr lange, da wir ja hauptsächlich natürliches Licht verwendeten. Ich lese den Schauspielern vor. Dann gibt es vielleicht Fragen und dann drehen wir. Auch da will ich nicht, dass zuviel gedacht wird. Nichts gegen das Denken, aber es kann auch sehr viel verhindern. Wir begeben uns direkt in die Sache hinein und in diesem Moment öffnet sich etwas.
Ich treffe die Schauspieler im Vorfeld in dem Aida-Café, in dem wir auch gedreht haben und führe längere Gespräche mit ihnen. Bei meinen Drehs ist die Persönlichkeit des Schauspielers sehr wichtig. Die versuche ich nach Möglichkeit in der Casting-Phase auszuloten. In einer zweiten Runde gibt es ein wenig Rollenspiel, ich bringe die Schauspieler in eine bestimmte Situation und schaue, wie sie damit umgehen können. Die Auswahl der Darsteller ist entscheidend dafür, ob der Film am Ende glaubwürdig ist. Wenn man so eine Art von Film macht, dann ist es ein Irrtum zu glauben, dass man alles unter Kontrolle haben kann. Da gilt es, offen zu sein und zuzulassen, was kommt. Es ist mir bei den Schauspielern wichtiger, sie als Menschen wahrzunehmen. Wichtiger als dass sie ihre Rolle gut verkörpern. Ich will sie als lebendige Menschen vor der Kamera.

Elisabeth Umlauft ist in ihrer ersten Filmhauptrolle zu sehen. Was hat den Ausschlag gegeben, dass sie diese tragende Rolle erhielt?
Caspar Pfaundler: Ich habe 30 Schauspielerinnen im Alter zwischen 20 und 30 getroffen und war sehr erstaunt, wie wenige Schauspielerinnen es gab, die für diese Rolle in Frage kamen. Fünf kamen in die engere Wahl. Elisabeth Umlauft war klar die Lebendigste. Ich wollte bewusst jemanden, der nicht zu Depression neigt, da hätte es viele gegeben. Das wäre ein Eigentor gewesen, denn der Film muss über 115 Minuten lang von einer Darstellerin getragen werden. Bei Elisabeth Umlauft war gewiss das bürgerliche Zuhause spürbar. Es ist ja auch ein bürgerlicher Kontext, wenn es darum geht, dass ein Studium abgeschlossen werden muss, weil erst das Diplom als Eintrittskarte in das „normale“ Leben gilt. Insofern passt es. Ein etwas ambivalenteres Zuhause wäre mir vielleicht lieber gewesen. Elisabeth ist nur in sehr wenigen Einstellungen nicht dabei. Das war auch eines der Risiken, die wir in diesem Film eingegangen sind. Ich finde Elisabeth trägt den Film sehr gut.

Originell, dass diesmal auch die Casterin, Rita Waszilovics, vor die Kamera tritt. Sie ist in der Rolle der Therapeutin zu sehen, Szenen, die eine gehörige Portion Humor und Selbstironie transportieren?
Caspar Pfaundler: Sie war zuerst sehr aufgeregt, dann ganz ruhig. Psychotherapeutin ist ihr zweiter Beruf, den sie auch ausübt. Ich finde, der ganze Film hatte immer wieder Momente des Humors, sonst würde ich es selbst nicht aushalten. Es ist sehr ernst, worum es geht, aber die ganze Situation hat ja auch etwas Komisches. Man kann es sehen wie man will.

Ein Thema kehren Sie nach Schottentor noch stärker hervor die Stadt Wien. Sie filmen die Stadt an vielen verschiedenen Orten, sie zeigen ihre Inseln. Es ist der Blick von jemandem auf die Stadt, der sie gut kennt und in ihrer Selbstverständlichkeit erfasst. Ist Stadt als Lebensraum ein wesentlicher Faktor in ihrem filmischen Erzählen?
Caspar Pfaundler: Wien ist eine Stadt mit vielen Gesichtern, die Film an sich sehr entgegen kommt. Wenn man wenig Geld für einen Film hat, muss man sich sehr genau vorbereiten. Die Orte per se erzählen schon einiges. Ich filme auch in einer Umgebung, die ich gut kenne. Sie ist unpathetisch und normal, mit einem gewissen poetischen Reiz. Bei GEHEN AM STRAND war es so, dass es auch Natur oder Land brauchte, einen nicht-urbanen Raum als Ort, wo Anja hin will. So konnten wir gottseidank auf die Insel El Hierro fliegen, obwohl dort gerade ein Vulkan im Ausbruch war. Die Orte sind uns sehr entgegen gekommen, das Drehen ist meistens unkompliziert verlaufen. Schwierigkeiten gab es erst danach in der Postproduktion.

Der Film hat offensichtlich ebenso Widerstand geleistet?
Caspar Pfaundler: Unglaublich, wie sich manchmal der Inhalt der Geschichte in die Arbeit hineinzieht. Es ist interessant, wie die Dinge Widerstand entwickeln und wie die Sachen miteinander verbunden sind. Als ich mit dem Schnitt fertig war, hat mich der Film eingeholt. Ich bin draufgekommen, wieviel mehr der Film mit mir zu tun hatte als ich wollte. Das ist mir gar nicht so recht, aber es ist nun einmal so. Für den Zuschauer ist es wichtig, dass der Film etwas mit ihm zu tun hat und dass er das auch zulässt. Der Film zwingt einen nicht dazu, aber vielleicht berührt er etwas. Meine Schule des Lebens war das Kino. Da bin ich auf wesentliche Sachen draufgekommen, die aufs Leben ihre Rückwirkungen hatten.

Nach welchen Landschaften haben Sie außerhalb der Stadt gesucht?
Caspar Pfaundler: Ich war als Kind viel in Holland und die Dünenlandschaft dort hat mich sehr fasziniert. Meine Großeltern haben ganz in der Nähe von Wassenaar, wo wir gedreht haben, gelebt. In fünfzehn Minuten waren wir mit dem Fahrrad am Meer. Es war für mich ein besonderer Moment, dass man zunächst nur Dünen vor sich hatte und von einer gewissen Anhöhe aus, tat sich dann das Meer auf. Man roch es schon davor, man hörte es schon und dann war plötzlich der Blick aufs Meer da. Ich habe mich auch mit der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts beschäftigt und viele Strandbilder und Dünenlandschaften angeschaut, das Verhältnis von Himmel und Erde, das Licht und die Erzeugung von Tiefe. Da ist eine große Liebe der Maler wie van Goyen zu dieser Landschaft sichtbar. Für die Insel am Ende des Films suchte ich nach einer kargen Landschaft. Die Insel El Hierro eignete sich deshalb, weil sie auf kleinstem Raum sehr verschiedene Landschaften zu bieten hat. Sie ist gebirgig, sie hat etwas Raues, es gab sogar einen Vulkanausbruch, als wir dort waren und der Nebel war mir sehr wichtig. Das mag man jetzt interpretieren wie man will – man lebt lange Zeit in einem Nebel, weiß vielleicht gar nicht, dass man depressiv ist und plötzlich kommt man raus und hat einen anderen Blick auf etwas. Es geht sehr stark um Wahrnehmung. Die Wahrnehmung weitet sich und die wachsende Lebendigkeit verhindert dann einiges andere.

Betrachten Sie die Selbstentfremdung als ein wachsendes gesellschaftliches Problem?
Caspar Pfaundler: Wenn man ein einmonatiges Baby anschaut, ist es ein vollwertiges Wesen. Nach fünf Jahren schaut es schon anders aus. Es wird ihm so vieles ausgetrieben, obwohl das ursprünglich niemand will. Es wurde mit den Eltern so gemacht, und die machen unbewusst so weiter. Entfremdung ist nichts Neues. Es ist ein archaisches Problem. Der Film hat mit Psychologisieren nichts zu tun, auch wenn eine Therapeutin vorkommt. Aber er hat mit Seele zu tun und mit dem Herzen, wie jeder Film. Film ist ein phantastisches Medium, um dem nahezukommen. Ich denke, es ist Mainstream geworden, nicht sich selbst zu sein. Die Menschen würden nie das machen, was sie machen, wenn sie sie selbst wären. Sie würden sich weniger manipulieren lassen und sie würden keine Arbeiten machen, die sie nicht machen wollen. Das System, in dem wir leben, hätte mehr Sand im Getriebe. Die Welt wäre eine andere, wenn die Menschen mehr sich selbst wären. Ich bin kein politischer Mensch, ich sehe aber die Selbstentfremdung als ein Potenzial für sehr viel Unglück in der Gesellschaft.

Sehen Sie das Gehen am Strand letztlich eher als Rückzug als Aufbruch?
Caspar Pfaundler: Es ist beides. Das Gehen an sich ist ein Anti-Depressivum. Gehen gibt es auch als Therapie. Das Gehen beruhigt und bringt die Menschen zu sich selbst. Der Rückzug geschieht ja nicht aus Verachtung oder Resignation, sondern um sich selbst zu werden. Das Gehen ist ein Gehen zu sich selbst.

 

Interview: Karin Schiefer

September 2013