INTERVIEW

Juri Rechinsky über SICKFUCKPEOPLE

 

Juri Rechinsky about SICKFUCKPEOPLE, Gewinner des Wiener Filmpreises 2013 in der Kategorie Dokumentarfilm.


In SICKFUCKPEOPLE richten Sie Ihre Kamera auf Menschen, von denen die Gesellschaft normalerweise ihren Blick abwendet. Wie sind Sie ihnen begegnet?
Juri Rechinsky: Diese Begegnung hat mit dem ganz simplen Umstand zu tun, dass ich damals innerhalb sehr kurzer Zeit mit massiven familiären Problemen konfrontiert war. Das war der Grund, warum ich dieses Projekt begann. Für mich war es eine Art Flucht. Nach der ersten Begegnung mit ihnen, war mir, als ich diesen Keller verließ, klar, da hatte ich es mit etwas absolut anderem zu tun. Und ich hatte nur eine Wahl - darüber einen Film zu machen. Die erste Kontaktaufnahme war spontan und kurz, es reichte aber, um mir darüber klar zu sein, dass ich diesen Film machen musste. Mir wurde ihre Existenz zwei Tage vor dem ersten Treffen bewusst, am nächsten Tag war der erste Drehtag. Sie sind in gewisser Weise meine Nachbarn, insofern als wir die gleichen öffentlichen Verkehrsmittel, dieselben Infrastrukturen benutzen, in dieselben Geschäfte gehen, denselben Radiosender hören. Sie waren ganz nah, ich hatte sie einfach nicht bemerkt. Meine familiäre Situation zwang mich, die Augen rund um mich zu öffnen und Dinge in meiner Nähe wahrzunehmen.

Entstand auch sehr spontan ein Vertrauensverhältnis?
Juri Rechinsky: Natürlich gab es kein spontanes Vertrauensverhältnis. Aber am zweiten Tag hatte ihr Anführer einen epileptischen Anfall und ich war da, um seine Zunge zu halten. Das brachte uns ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit und Vertrauen. In der Folge verbrachten wir so viel Zeit miteinander, sodass wir am Ende irgendwann... einander total ähnlich wurden. Wir schauten gleich, wir handelten gleich, wir waren uns sehr nahe. Ich will diese Nähe nicht Freundschaft nennen, aber diese Nähe ist immer noch spürbar. Und es ist mir schwer gefallen, dann einfach zu sagen „Der Dreh ist vorbei, auf Wiedersehen. Ich hoffe, wir sehen uns in fünfzig Jahren wieder“. Das geht natürlich nicht. Wir sind natürlich noch immer in Kontakt. Das hat auch mit meiner Art, mit Figuren zu arbeiten, zu tun. Wenn man will, dass sich eine Figur öffnet, dann muss man auch sich selbst exponieren. Wenn ich will, dass eine Person etwas Intimes von sich gibt, dann muss man etwas sehr Persönliches, Schmerzvolles miteinander teilen.

Es gibt einen zeitlichen Bruch nach dem ersten Teil, wo es heißt „zwei Jahre später“. Es scheint ein Projekt über einen langen Zeitraum gewesen zu sein.
Juri Rechinsky: Es gab keine wirkliche Unterbrechung. Wir waren kontinuierlich in Kontakt und drehten immer wieder phasenweise – ein Monat im Sommer, ein Monat im Winter, ein Monat im Herbst. Der Zeitraum vom ersten bis zum letzten Drehtag erstreckte sich über genau drei Jahre, bis zum ersten Screening vergingen dann noch einmal neun Monate. Als ich nach der Fertigstellung den Filmfestivals anbot, bekam ich zunächst nur Ablehnungen. Das war eine wirklich harte Zeit, den ich durchstehen musste. Ich war überzeugt, dass dieser Film gezeigt werden sollte, dass es jemandem etwas bringen konnte, ihn zu sehen. Wir mussten wirklich sehr harte Kritik einstecken, nur ganz wenige Leute haben an diesen Film geglaubt. Es war sonderbar, dann plötzlich doch Erfolge zu haben.

Wie waren die Reaktion des Publikums?
Juri Rechinsky: Sehr überraschend. Ich habe sehr viel Dankbarkeit erlebt, die von Herzen kommt. Das ist der schönste Preis, den ich bekommen kann. Ich glaube nicht, dass der Film diesen Kids etwas nützt oder ihre Lage verbessert. Wenn der Film aber die Zuschauer dazu zwingt, etwas zu spüren oder über etwas nachzudenken, dann ist das ein Ergebnis, das mir bestätigt, dass es richtig war, diesen Film zu machen. Diesen Leuten nahe zu kommen und grundsätzlich von ihrer Existenz und ihrer Lebensform zu erfahren, war für mich eine Erfahrung, die mich grundlegend verändert hat. Ein Wendepunkt. Es löste in mir viele Gedanken, Gefühle und Befindlichkeiten aus. Diese Erfahrung wollte ich teilen, in der Hoffnung, bei anderen Menschen könnte es ähnlich funktionieren.

Sie sagten zuerst, dass Sie selbst in einer emotional sehr schwierigen Situation waren. Hatte diese radikale Erfahrung eine Art heilende Wirkung?
Juri Rechinsky: Ganz offen gesagt, löste es in mir Verzweiflung und große Hoffnungslosigkeit aus. Gleichzeitig barg es große Überraschungen hinsichtlich der menschlichen Natur. Für mich ist es ein Film über drei Figuren. Es geht um eine Figur, der niemals die Fähigkeit zu vergeben abhanden gekommen ist: ich meine damit Jegor. Es geht um eine Figur, die in einer Situation stark geblieben ist, wo ich persönlich kapituliert hätte: damit meine ich Anna. Und es geht um Denis, der so schwach und innerlich so verkommen war, dass er in einem Moment, wo er die einzige Person war, die in höchster Not hätte hilfreich sein können, unfähig war, einen Schritt vor seine Tür, ja nicht einmal aus seinem Bett heraus zu machen. Der Film erzählt von Überraschungen und vom Verlust von so mancher Illusion. Als ich den Film begann, hatte ich den festen Glauben, dass es in jedem menschlichen Wesen etwas gibt, das ich verstehen kann. Seit diesem Film weiß ich, dass das menschliche Wesen niemals wirklich zu verstehen sein wird.

Es ist interessant, dass Sie stets von Figuren sprechen, was mich an fiktives Erzählen erinnert. Gleichzeitig haben Sie einen Dokumentarfilm gedreht, der nicht tiefer in eine Realität hätte eindringen können als SICKFUCKPEOPLE es getan hat. Bringen Sie damit Ihren Zugang zum Filmemachen auf den Punkt, indem Sie sich zwischen diesen beiden Ebenen bewegen?
Juri Rechinsky: Das ist eine schwierige Frage. Ich kann sie gewiss besser beantworten, wenn ich den Film beendet habe, den ich gerade vorbereite. Es handelt sich um einen Spielfilm, der eine Menge an dokumentarischen Elementen beinhalten wird. Ich weiß nicht, was ich zu meinem Zugang sagen soll. Für mich sind Filme dazu da, etwas zu zeigen und nicht um etwas zu erzählen. Es fällt mir immer schwer, eine Idee zu formulieren. Ich habe keine Message, ich habe Bilder. Ich habe ein Gespür dafür, welche Bilder es wert sind, gezeigt zu werden. In Bildern gesprochen ist Sickfuckpeople für mich ein Film über ein Paar Schuhe, über das Injizieren von Drogen, über das Gesicht des Jungen auf der Zugfahrt. Ich kann diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Als ich diesen Film begann, hatte ich keine Figur, ich sammelte nur Bilder. Ich war inmitten ihres Alltagslebens und ich erfasste ihre Lebensweise in Bildern. Figuren kristallisierten sich viel später heraus, erst im zweiten Teil. Der erste Teil besteht in erster Linie aus Beobachtung, er zeigt eine Gruppe von Leuten. Figuren gibt es erst später. Das hat sich auf natürliche Weise so ergeben.

Der Anfang des Films ist sehr nahe an der Fotografie.
Juri Rechinsky: Ich bin ein großer Fan von Fotografie, insbesondere dokumentarischer Fotografie. Ich war immer fasziniert von der Art der Fotografen, Geschichten zu kreieren – mit nur einem Bild, das keiner Worte, keiner Szenen betraf und dieses eine Bild dennoch in sehr konkreter Weise vermittelt, was los ist. Dann entdeckte ich die Filme von Michael Glawogger und stellte fest, dass man auch im Film so etwas Ähnliches schaffen konnte. Er war eine wichtige Inspirationsquelle für mich.

Wie kam es für SICKFUCKPEOPLE zur Zusammenarbeit mit der Wiener Novotny&Novotny Filmproduktion?
Juri Rechinsky: Für mich als jungen Filmemacher, ohne Geld, ohne ukrainische Produktionsfirma, die Interesse an einer Zusammenarbeit mit mir gezeigt hätte, kam die Zusammenarbeit mit der Novotny Film einem Märchen gleich. Sickfuckpeople existierte zunächst als Kurzfilm, den sie gesehen haben und der sie sehr beeindruckt hat. Eines Tages im Winter tauchten sie in Kiew auf und schlugen mir vor, von diesem Film eine Langversion zu drehen. Er entstand mit der Hilfe von Klaus Pridnig, der in den letzten zwei Jahren mein Koautor und jetzt der Executive Producer meines neuen Films ist: eine österreichisch-ukrainische Koproduktion, für die wir schon Förderungen bekommen haben. Es wird eine Geschichte über mich und meine Familie mit dem Titel Ugly. Es ist meine persönliche Geschichte mit meiner Familie, die ich eingangs erwähnt habe, die mich zwang, auf der Suche nach Flucht oder Rettung in den Keller hinabzusteigen. Es ist mein ganz persönliches Prequel zu Sickfuckpeople.

Wie geht es Anna und ihrem Baby?
Ich hatte noch keine Gelegenheit, das Baby persönlich kennen zu lernen, aber ich bin immer wieder telefonisch mit ihnen in Kontakt. Es sieht so aus, als würde alles gut funktionieren. Ich habe ein Gefühl, dieses Baby hat sie verändert.

 

Interview: Karin Schiefer

November 2013