Meistens suchen Filmemacher nach Bildern, um ihre Geschichten zu erzählen. Gustav Deutsch geht den umgekehrten Weg. In viel
beachteten Arbeiten wie Film ist oder Welt Spiegel Kino hat er aus Found-Footage-Material durch Montage und Komposition einen eigenen vielschichtigen filmischen Kontext geschaffen.
Seiner Methode ist er auch für seinen ersten Spielfilm treu geblieben: In Visions of Reality hat der Filmemacher dreizehn Gemälde von Edward Hopper zum Ausgangspunkt für die Geschichte einer amerikanischen Frau im
20. Jh. gewählt und sie in einem minutiösen Spiel mit Hoppers Malerei für die Leinwand inszeniert.
Eine geeignete Drehhalle musste erst mal gefunden werden. Um Edward Hoppers Sunlight on Brownstones in eines der dreizehn
Filmsets von Visions of Reality zu wandeln, brauchte es allein sieben Meter Höhe für die Kulisse, die auch noch subtil von oben beleuchtet werden wollte.
Auf der Wiener W@lz wurde man fündig, die elf Meter hohen Räumlichkeiten boten sich an, den nötigen Spielraum für ein außergewöhnliches
filmisches Unternehmen zu schaffen. Dass sie an den ersten Tagen des Bühnenaufbaus im vergangenen Februar bei minus fünfzehn
Grad außen nicht wirklich auf eine angenehme Arbeitstemperatur zu bringen waren, ist nur anekdotisch ein Hinweis dafür, welch
Tücken und Tüfteleien es zu bewältigen galt, um ein ganz besonderes Spielfilmexperiment zu realisieren.
Gustav Deutsch hat es sich zum Ziel gesetzt, dreizehn Gemälde Edward Hoppers aus den Jahren 1931 bis 1965 in ein Filmset zu
transponieren und narrativ zueinander in Bezug zu setzen. Die Entstehungsgeschichte nahm bereits vor Jahren ihren Ausgang,
als 2004 ein erstes Treatment entstand und Hanna Schimek, Gustav Deutschs Partnerin in Kunst und Leben, mit der Arbeit am
Farbkonzept begann. 2008 zeigte die kunsthalle wien die Installation Western Motel, einen Prototypen für die ursprünglich 13 geplanten Filmsets von Visions of Reality. Grünes Licht für den Dreh gab es erst im letzten Jahr. Die etwas über 40 Dreh- und Einleuchttage zwischen Februar und April
2012 muten dabei fast wie ein winziges Zeitfenster in der epischen Produktionsgeschichte an, die abgesehen von der minutiösen
Vorbereitung auch auf die lange Zurückhaltung der Fördergeber gegenüber der experimentellen Spielfilmidee zurückzuführen ist.
Dreizehn Gemälde von Edward Hopper, die zwischen den Jahren 1931 (Hotel Room) und 1965 (Chair Car) entstanden sind, bilden die Basis für Gustav Deutschs ersten Spielfilm. „An Edward Hopper“, erläutert der Filmemacher seine
Wahl, „haben mich zweierlei Dinge fasziniert: zum einen ließ er sich als begeisterter Kinogeher in seinen Perspektiven, seiner
Ausschnittswahl vom Film stark beeinflussen, es gibt bei ihm ganz klare Referenzen zum film noir. Zum anderen gilt Hopper
als realistischer Maler, was sich in der näheren Auseinandersetzung mit seinen Gemälden nicht bewahrheitet. Er bildet Wirklichkeit
nicht ab, er inszeniert sie, und dies ist wiederum dem Wesen des Films inhärent.“ Inspiriert von den in chronologischer Abfolge
aneinander gereihten Bildern erzählt Visions of Reality die Lebens- und Liebesgeschichte der Schauspielerin Shirley und ihres Lebenspartners Stephen, einem Fotojournalisten, und
damit gleichzeitig auch dreißig Jahre amerikanischer Geschichte. „Bei mir stand die Idee“, so Gustav Deutsch, „Bilder zum
Leben zu erwecken im Zentrum. Ich begann mir zunächst auszudenken, was kurz vor und kurz nach diesem Moment, wo das Bild in
Hoppers Gemälde eingefroren ist, passiert.“ So wie in Hoppers Gemälde oft eine (meist seine) Frau eine zentrale Rolle spielt,
so steht auch in Visions of Reality Shirley, dargestellt von der Tänzerin und Choreografin Stephanie Cumming, im Mittelpunkt.
Dass die Wahl auf eine Tänzerin fiel, hatte zum einen maskenbildnerische Gründe. Der Regisseur wollte die dreißig Jahre Altersunterschied
eher durch einen Wandel in Haltung und Bewegung zum Ausdruck gebracht sehen, zum anderen wurde der Text - meist ist es ein
innerer Monolog - vor dem Dreh aufgezeichnet. „Es war mir ein Anliegen“, so der Filmemacher, „dass der Ton die Bewegungen
steuert und die Einsätze gibt. Ich wollte nicht „Action“ ins Set hineinschreien, sondern etwas filmen, was mehr mit Musik
und Tanz zu tun hat und eher eine choreografische Sache ist“.
Wiederkehrender Fixpunkt in der Narration ist das Datum, an dem jede Episode spielt: es ist der 28. August oder die darauffolgende
Nacht, ausgehend vom 28.8.1963, dem Tag des ersten Marsches der Bürgerrechtsbewegung auf Washington. Hier setzt der Regisseur
eines seiner unausgesprochenen Gegenstatements zur Person Edward Hopper, mit dem er in keiner Weise dessen konservative und
klar rassistisch geprägte politische Haltung teilt.
Jeweils ca. sechs Minuten dauern die dreizehn Episoden, die manchmal in nur wenigen, manchmal in bis zu 15 Schnitten aufgelösten
Sequenzen erzählt sind. Ein Frame stimmt dabei in der Totale stets exakt mit dem Hopper-Bild überein. So exakt, wie es durch
die Transformation des Mediums Leinwand (als Malgrund) auf digitale bzw. Filmbilder erlaubt. „Visions of Reality“, so Producerin Marie Tappero, „soll von dieser feinen Diskrepanz zwischen dem genauen oder doch wieder nicht ganz genauen
Wiedergeben des Bildes leben, da wir ja mit echten Körpern und Menschen und auch Masse drehen“. Wer um die akribische Arbeitsweise
Gustav Deutschs und Hanna Schimeks weiß, ahnt auch, in welch feinen Nuancen sich hier die Unterschiede bewegen. Im Laufe einer
Amerikareise haben die Künstler, alle Bilder, die in Museen zu besichtigen waren, aufgesucht und mit Farbfächerkarten die
Farben vom Originalgemälde abgenommen. Die enorme Vergrößerung der Bilder in der Kulisse, die Auseinandersetzung mit Hoppers
Pinselstrich und vor allem mit seinem Umgang mit Farbe machten das Projekt zu einem intensiven Spiel mit der Malerei, die
sich der Umwandlung durchs digitale Bild stellen muss. „Bei Hopper“, so Gustav Deutsch, „entdeckt man eine sehr raffinierte
Kombination der Farben und dieses faszinierende Spiel von Warm und Kalt, was Hopper eigentlich ausmacht, möchte ich auf die
Leinwand tragen.“
Hopper konfrontierte aber auch den Architekten Gustav Deutsch mit manch kniffliger Aufgabe. Die Anordnungen der Hopper’schen
Interieurs erweisen sich bei näherer Betrachtung als äußerst subversiv. Würde man sich nach seinen Schattenwürfen orientieren,
so müsste es in manchem Bild drei Sonnen geben, Betten in ihrer Proportion weitergedacht, würden drei Meter Länge haben oder
Fauteuils so schmal sein, dass man kaum darin Platz nehmen könnte. „Um seine Darstellungsweise zu erhalten,“ erinnert sich
Gustav Deutsch, „mussten wir in manchen Fällen die Möbel so stark kippen, dass durch die Schrägstellung nichts mehr auf den
Tischen hielt“. Die Machbarkeit schwebte als oberstes Kriterium über allen inhaltlichen Aspekten - mit einem kleinen Team
und dessen engagierter Arbeit gelang es dem Regisseur diese Grenzen der Machbarkeit dem Original in bestechender Weise anzunähern.
Ob Kulissen, Kostüme, Requisiten - alles wurde eigens für dieses Projekt hergestellt und gilt als künstlerisches Objekt, das
nicht nur über die Kinoleinwand, sondern auch in Ausstellungen seine Betrachter finden soll. „Edward Hoppers Bilder zum Leben
zu erwecken, Gustav Deutschs ersten Spielfilm zu produzieren„waren primäre Gründe für die KGP Filmproduction, sich für dieses
Projekt einzusetzen. „Es ging uns aber auch darum“, so Marie Tappero, „dass hier die Geschichte einer starken Frau erzählt
wird, die sich in bewegten Zeiten emanzipiert und nicht zuletzt auch darum, in Zeiten, wo das Kino als Abspielort für Film
immer mehr in Frage steht, auch zwischen Kunst und Kino und deren Projektionsflächen zu experimentieren“.
VISIONS OF REALITY
geplante Fertigstellung: Winter 2012/13
Regie, Buch und Schnitt: Gustav Deutsch
Kamera: Jerzy Palacz
Musik: Christian Fennesz, David Sylvain
Ton: Christoph Amann
Malerei und farbliches Gesamtkonzept: Hanna Schimek
Ausstattung: Gustav Deutsch, Veronika Merlin, Rudi Hospig
Architektur: Franz Berzi
Kostüme: Julia Cepp
Licht: Dominik Danner
Karin Schiefer
Juni 2012