INTERVIEW

«Es ist das menschliche Maß abhanden gekommen.»

Während die SPÖ nach und nach an Bedeutung als Arbeiterpartei einbüßt, legt die FPÖ in der Wählerschaft der „kleinen Leute“ kontinuierlich zu. Warum der Weg der Wähler von links nach rechts außen so ein kurzer ist, wollte die Filmemacherin Ulrike Gladik in ihrem Dokumentarfilm Inland herausfinden und hat über eineinhalb Jahre hinweg drei Wiener FPÖ-WählerInnen aufmerksam zugehört.
 
 

FPÖ-Wähler, die in INLAND zu Wort kommen, haben das Gefühl, dass vor den Wahlen viel mehr Menschen versprechen, FPÖ zu wählen, als es tatsächlich tun. Nicht-FPÖ-Wähler haben eher das Gefühl, dass FPÖ-Wähler sich selten als solche deklarieren. Wie offen bekennen sich aus der Erfahrung Ihrer Recherche FPÖ-Wähler zu ihrer Wahlentscheidung?
 
ULRIKE GLADIK: Ohne Kamera deklarieren sich relativ viele Leute; je bürgerlicher, desto weniger. Bei höherem Bildungsgrad handelt es sich bei denen, die sich offen zur FPÖ bekennen, oft um sehr überzeugte FPÖ-Wähler. Bei Wechsel- und ProtestwählerInnen habe ich das Gefühl, dass es eines längeren Gesprächs bedarf, bis sie sich zur FPÖ zu bekennen.
 
 
Sie haben INLAND im 10. und im 17. Wiener Gemeindebezirk gedreht. Warum fiel die Wahl auf diese beiden Bezirke?
 
ULRIKE GLADIK: Wir haben sehr breit in Simmering (11. Bezirk) und in Floridsdorf (21. Bezirk) recherchiert, weil es dort die meisten FPÖ-WählerInnen gibt. Es sind dann leider bereits fest stehende ProtagonistInnen wieder ausgestiegen. Dass ich nun in diesen beiden Bezirken gedreht habe, ist eher dem Zufall zuzuschreiben. Wir haben auch in Favoriten (10. Bezirk) Interviews gemacht, wo ich Christian Chalupecky kennen gelernt habe. Am Brunnenmarkt wiederum bin ich auf eine Dame getroffen, die gerne in das Café geht, in dem wir gedreht haben. Alexander Steinhofer, der damals auch zufällig im Obdachlosenheim gewohnt hat, bin ich auf einer FPÖ Veranstaltung begegnet. Grundsätzlich habe ich mich auf die Außenbezirke konzentriert, weil dort die FPÖ-Wählerschaft größer ist, Hernals (17. Bezirk) ist da eher eine Ausnahme, dort ist die Wählerschaft sehr gemischt, mit einem hohen Anteil an Grün-WählerInnen. Im 10. und 11. Bezirk ist am stärksten jene Wählerschaft vertreten, die sich von der SPÖ zur FPÖ bewegt hat.
 
 
Hat Sie die FPÖ-Wählerschaft in ihren Schattierungen oder in erster Linie jene Wähler interessiert, die der SPÖ Richtung FPÖ den Rücken gekehrt haben?
 
ULRIKE GLADIK: Mich hätte durchaus ein breiteres Spektrum interessiert. Tatsache ist, dass ich bei den Rot-zu-Blau-WechslerInnen leichter Zugang gefunden habe. Es ist viel schwieriger, bürgerlichere FPÖ-WählerInnen auf Wahlveranstaltungen zu treffen, ihre Skepsis Medien gegenüber ist höher und sie bekennen sich nicht gern zu ihrer politischen Haltung aus Furcht vor Konsequenzen. Wenn sich in diesem Milieu jemand zu seiner FPÖ-Affinität bekennt, dann stehen diese Menschen meist sehr weit rechts und transportieren faschistischen Content, dem ich keinen Raum geben wollte. Was ich wollte, war das „normale“ Wahlvolk, keine extremen Positionen. Dazu kam, dass ich von meinen GesprächspartnerInnen über ihre politische Haltung hinaus, mehr über ihren Lebenshintergrund erfahren wollte. Darüber vor einer Kamera zu sprechen, ist nicht jedermanns Sache. Gerade unter den jüngeren FPÖ-WählerInnen hatten viele auch Angst vor beruflichen Konsequenzen, manche wären bereit gewesen, mitzumachen, allerdings nur anonymisiert. Dafür wiederum hätte ich mein filmisches Konzept umstoßen müssen.
 
 
Die Dreharbeiten beginnen mit dem Wahlkampf 2017, die Vorbereitungen liegen wohl entsprechend weiter zurück. Wann war der ausschlaggebende Punkt in der politischen Situation in Österreich, der Sie veranlasst hat, diesen Film zu drehen?
 
ULRIKE GLADIK: Ich habe für die Straßenzeitung Augustin eine Reportage über die jeweiligen Wahlsprengel mit dem höchsten Anteil an Grün-WählerInnen und dem höchsten Anteil an FPÖ-WählerInnen gemacht, d.h. in Neubau (7. Bezirk) und in Simmering. Dabei ist mir aufgefallen, dass es enorme Unterschiede gab, weniger in ökonomischer Hinsicht als viel mehr in der Lebensgrundhaltung. Im 7. Bezirk hatten auch prekär beschäftigte Studierende eine positive Einstellung zur Zukunft und knüpfen Hoffnungen an eine Partei; in Simmering hingegen waren die Menschen schwer frustriert, wollten gar nicht mehr wählen oder wenn, dann die FPÖ in der Meinung, dass wenigstens diese Partei noch etwas bewegen könnte. Es gab einen großen kulturellen Unterschied. Und da ich mich ja eher in der linksliberalen Blase bewege, wollte ich mir das näher anschauen, auch deshalb, weil ich bei der Recherche  rausfand, dass nicht alles nur am Thema Migration festzumachen war. Mir ist im Zuge dieser Reportage bewusst geworden, dass hinter dem Migrationsthema, das sowohl den Wien-Wahlkampf als auch den Bundespräsidenten-Wahlkampf dominiert hatte, auch andere Themen von Bedeutung sind: soziale Themen, aber auch Anerkennung, Wertschätzung. Gerade die Leute, die von der SPÖ zur FPÖ gewandert sind, haben das Gefühl, dass die SPÖ eher auf die MigrantInnen oder auf sich selbst achtet und fühlen sich vergessen, im Stich gelassen. Das habe ich auch selbst in Gesprächen mit SPÖ-Politikern erlebt, dass sie das bestehende Sozialsystem für gut halten und bei den MigrantInnen einen höheren Handlungsbedarf sehen. Dabei verlieren sie völlig aus den Augen, dass es in der österreichischen Bevölkerung und auch unter Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger hier leben, sehr viel Unzufriedenheit und Ängste gibt: Existenzängste, Ängste, sozial nicht mehr aufsteigen zu können, Ängste, von anderen, die gerade nachkommen, überholt zu werden. Es herrscht ein enormer Konkurrenzdruck am Arbeits- wie am Wohnungsmarkt. Dazu kommt der Verlust des sozialen Umfelds, weil sich alles so schnell ändert. Die Leute fühlen sich allein gelassen. In den siebziger und achtziger Jahren gibt es ein starkes Bewusstsein für den Sozialstaat und der SPÖ ist es gelungen, den Menschen zu vermitteln, „für sie da zu sein“. Das ist in den späten achtziger und neunziger Jahren verloren gegangen. Franz Vranitzky hat den Begriff der Leistungsgesellschaft eingebracht, in der jeder mehr auf sich selbst schauen müsse und in der der aufgeblähte Sozialstaat nicht mehr leistbar sei. Da begannen die Menschen sich vor den Kopf gestoßen zu fühlen.
 
 
Ihre drei ProtagonistInnen haben eigentlich sehr unterschiedliche Motive, die FPÖ zu wählen. Wie kann man sie kurz charakterisieren?
 
ULRIKE GLADIK: Alexander Steinhofer ist ein FPÖ-Fan, der Wahlveranstaltungen besucht und dort gerne fotografiert. Er hat eine schwierige Lebensgeschichte, war wegen Gewaltdelikten im Gefängnis, hat danach nicht wirklich Fuß fassen können und war immer wieder obdachlos. Während der Dreharbeiten hat er in einem Obdachlosenheim gelebt, nimmt Sozialleistungen in Anspruch, u.a. kostenlose Psychotherapie, die ihm sehr hilft. Er geht auf FPÖ-Veranstaltungen, weil er sich dort bestätigt fühlt. Das Narrativ der FPÖ funktioniert perfekt:„Wir schauen auf euch, wir sind eine Familie“. Menschen, die in der Gesellschaft ganz unten sind und wenig Wertschätzung erhalten, die erleben die Abwertung der MigrantInnen als Wertschätzung ihrer selbst. Dass er als Langzeitarbeitsloser unter der ÖVP/FPÖ-Regierung nicht mehr als förderungswürdig eingestuft wird und ihm die Notstandshilfe gestrichen würde, das ist ihm nicht so bewusst. Dieser politische Diskurs erreicht ihn nicht. Christian Chalupecky arbeitet bei der Straßenreinigung und Abfallwirtschaft und ist Beamter der Stadt Wien. Er hat selbst einen weit zurückliegenden Migrationshintergrund, seine Vorfahren sind als so genannte Ziegelböhmen Ende des 19. Jhs. nach Wien gekommen. Seine Familie hat auch dank der sozialdemokratischen Politik einen gewissen Aufstieg geschafft, trotzdem wählt er jetzt die FPÖ. Er findet, dass er viel und schwer arbeitet und fühlt sich betrogen, wenn andere ohne Gegenleistung finanzielle Unterstützung bekommen, die er durch seine Arbeit mitfinanzieren müsse. Die Sozialschmarotzer-Debatte ist ebenfalls in den neunziger Jahren aufgekommen und hat mittlerweile sehr gut gegriffen. Nicht mehr Solidarität bestimmt die Haltung, sondern das Treten nach unten, wohl auch niemand auf die Idee kommt, nach oben zu schauen. Brigitte Beyer ist Kellnerin in einem Café, mit dem sie sich stark identifiziert und wo sie viele unbezahlte Überstunden macht, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Sie hat ein geringes Einkommen und eine hohe Miete. In ihrer Wahlentscheidung ist sie nicht ganz sicher. Sie hat eine Tendenz zu Sebastian Kurz, da sie in seine Botschaft „Ich bin die Veränderung“, die Veränderungen hineinprojiziert, die für sie relevant sind. In dem Lokal, in dem sie arbeitet, merkt man, dass dort viele früher SPÖ gewählt haben und nun durch Frühpensionierung, Arbeitslosigkeit mit einem extrem geringen Einkommen zu kämpfen haben und an die FPÖ viele Hoffnungen knüpfen wie z.B. die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
 
 
Sie haben nicht nur über einen relativ langen Zeitraum gedreht, der Faktor Zeit hat gewiss auch eine sehr wichtige Rolle in der Annäherung an Ihre Gesprächspartner gespielt. Welche Strategie haben Sie sich überlegt, um konstruktive und offene Gespräche führen zu können? 
 
ULRIKE GLADIK: Die Dreharbeiten haben sich über eineinhalb Jahre erstreckt, von Frühling 2017 bis Herbst 2018. In dieser Zeit habe ich meine ProtagonistInnen sehr oft getroffen, nicht nur vor jedem Dreh, sondern auch immer wieder dazwischen, ohne Kamera. Ich habe sehr viel Zeit in diesem Café verbracht, wir haben uns sehr rege ausgetauscht und ich mir angeschaut, wer als InterviewpartnerIn interessant sein könnte, wer seine Motive zur Wahlentscheidung gut auf den Punkt bringen könnte.
 
 
Haben Sie anfangs auch Ablehnung erfahren?
 
ULRIKE GLADIK: Eigentlich sehr wenig. Von meinen ProtagonistInnen nie, von anderen ein wenig. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute sich freuen, wenn jemand Zeit hat zuzuhören und nicht gleich zu diskutieren beginnt. Das Zuhören war das Wichtigste. Ich habe ihnen, sie haben dann auch mir zugehört. Es war für mich anfangs schwierig, wenn jemand mit ausländerfeindlichen Aussagen losgelegt hat, nicht gleich einzuhaken und dagegen zu argumentieren. Das war für mich ein Lernprozess.
 
 
Wie intensiv haben Sie sich inhaltlich vorbereitet, um argumentativ gegenüber den populistischen Diskursen gut gewappnet zu sein?
 
ULRIKE GLADIK: Ich habe mir die Parteiprogramme angeschaut, nach der Angelobung der Regierung Kurz/Strache das Regierungsprogramm gelesen und die Berichterstattung in den Medien verfolgt. Im Film argumentiere ich nur ganz selten dagegen. Ich habe mir sehr viel Gedanken darüber gemacht, wie ich unterbrechen und so formulieren kann, dass es auch ankommt. Ich habe die drei ProtagonistInnen auch deshalb ausgesucht, weil sie mir sympathisch waren. Denn mit Menschen zu drehen, die man nicht mag, ist sehr schwierig.
 
 
Sie setzen den Fokus auf ihre drei ProtagonistInnen und ausgewählte Orte ihres Umfelds und Alltags. Punktuell lassen sie den Wahlkampf in einigen sehr beeindruckenden Szenen mitschwingen. Welche Funktion sollten diese Wahlkampfbilder erfüllen?
 
ULRIKE GLADIK: Eigentlich hatte ich die Absicht, den Wahlkampf stärker einfließen zu lassen. Oft war es dann so, dass meine ProtagonistInnen gerade dann, wenn eine Wahlveranstaltung war, nicht kommen konnten. Es hat einfach nicht funktioniert, das stärker einzuflechten. Mich hätte die Wechselwirkung zwischen den Auftritten und den Einzelpersonen sehr interessiert. Sowohl beim Auftritt von Sebastian Kurz in der Stadthalle als von H.C. Strache am Viktor-Adler-Markt im 10. Bezirk wird die Emotionalisierung, die „Politik der Gefühle“ durch die Inszenierung deutlich. Da sind Sequenzen auch an den Musikrechten gescheitert, die von der John Otti Band, der Hausband der FPÖ, nicht freigegeben wurden, mit dem Argument, dass sie nicht mit der FPÖ in Verbindung gebracht werden wollten. Abgesehen von diesen Ausschnitten aus den Wahlkämpfen, war es mir besonders wichtig, nur wenige ProtagonistInnen zu haben und diese aber tiefgründig zu gestalten. Sonst wäre es zu sehr an der Oberfläche geblieben. Ich habe vor den Drehs meine ProtagonistInnen getroffen und besprochen, über welchen Themenbereich wir beim Drehen sprechen. Ich musste mich für diesen Film natürlich einarbeiten, aber es hat unheimlichen Spaß gemacht: der Wiener Schmäh..., in den Beisln herrscht auch unheimlich viel Humor, ich hab mich in diesem Milieu sehr wohl gefühlt.
 
 
Sehr frappierend ist der Umstand, wie das Wahlpotenzial mancher Ihrer GesprächspartnerInnen das gesamte politische Spektrum von der KPÖ bis zur FPÖ abdeckt. Welcher Faktor gibt Ihrer Meinung nach letztlich den Ausschlag zur Entscheidung?
 
ULRIKE GLADIK: Die Aussagen meiner GesprächspartnerInnen sind diesbezüglich widersprüchlich. Das Parteiensystem erweist sich für viele als grundsätzlich schwierig zu durchschauen. Aber egal, ob wir nun Rechts- oder LinkswählerInnen sind, viele Menschen stecken im selben Rad, in dem sie viel leisten müssen. Viele leiden unter Stress und Leistungsdruck. Der Druck am Arbeitsplatz hat enorm zugenommen.  Und wer hat da genügend Zeit um sich ein umfassendes Bild über politische Zusammenhänge zu machen. Ich kann mich da nicht ausnehmen. Geschweige denn für politisches Engagement, Diskussionsrunden, gelebte Demokratie? Viele strudeln dahin, gleichzeitig verändert sich die Welt sehr rasch und viele Menschen fühlen sich durch die Politik nicht mehr repräsentiert. Früher hatte die SPÖ Arbeiterbildungsvereine und die Sektionsmitglieder gingen zu den Leuten, um die Beiträge einzukassieren. Dabei führte man Gespräche und die Leute fühlten sich wahrgenommen und es gab mehr Austausch und Kontakt. Das macht die SPÖ heute nicht mehr, dafür hat die FPÖ den Ruf erlangt, Kontakt zu den Menschen zu haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Grazer KPÖ, die viele Menschen bei ihrer Abkehr von der SPÖ für sich gewinnt. Sie machen eine starke Wohnpolitik und eigentlich auch Sozialarbeit. Sie arbeiten mit offenen Büros, man kann mit den FunktionärInnen direkt in Kontakt treten und sie geben einen beträchtlichen Teil ihres Gehalts her, um Menschen zu helfen, verkehren nicht in Nobellokalen, schicken ihre Kinder nicht in Elite-Schulen. Erst kürzlich habe ich bei einer Veranstaltung jemanden kennen gelernt, der auf Bundesebene FPÖ, in der Steiermark aber KPÖ wählt, weil er sich durch sie vertreten fühlt. Dass die KPÖ nicht „ausländerfeindlich“ ist, stört ihn gar nicht, Hauptsache sie macht eine gute, soziale Politik und ist glaubwürdig, meinte der Herr.
 
 
Wie haben sich die drei Portraits im Schnitt gut ineinander bauen lassen?
 
ULRIKE GLADIK: Wir haben nach den Drehabschnitten immer wieder Material aussortiert, bereits geschnitten und immer wieder überlegt, wie wir den nächsten Dreh ansetzen sollten. Ich hatte einen sehr begabten Dramaturgen und Cutter – Gerhard Daurer. Mit ihm hatte ich stets das Gefühl, am selben Strang zu ziehen, was die Arbeit sehr erleichtert hat. Er war sich nicht gleich sicher, ob er an diesem Projekt mitarbeiten und über so lange Zeit mit Aussagen von FPÖ-WählerInnen konfrontiert sein wollte, sein Zweifel legte sich aber, als ihm klar wurde, wie ich arbeiten wollte und er stieg voll ein. Mir war der Dialog mit jemandem, mit dem ich den grundlegenden Zugang zum Film so klar teilte, sehr wichtig, umso mehr als sich Gerhard mit gewaltfreier Kommunikation auseinandergesetzt hatte und ich sehr viel Input für meine Gesprächsführung bekommen habe. Ihn wiederum hat mein Zugang, diese Menschen nicht bloßzustellen, sondern mit ihnen in Dialog zu treten, sehr angesprochen. Es war eine lange Tüftelei, einen gut funktionierenden Bogen zu spannen. Am Ende hat nun alles seinen richtigen Platz gefunden, auch wenn ich nie zu 100 Prozent zufrieden bin. Irgendwann muss ein Schlusspunkt gesetzt werden und ich hatte auch das Gefühl, dass ich mich lange genug mit dem Thema und dem Film beschäftigt hatte.
 
 
In einem Kommentar in der Tageszeitung Der Standard haben Sie unlängst die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus als die politische Aufgabe unserer Zeit genannt und einen Begriff des Soziologen Wilhelm Heitmeyer – den der „rohen Bürgerlichkeit“ zitiert? Was bringt dieser Begriff für Sie auf den Punkt
 
ULRIKE GLADIK: Ich glaube, man muss es noch ein bisschen präziser formulieren. Die genaue Frage ist: Warum funktioniert der Rechtspopulismus so gut? Ich glaube, er funktioniert so gut, weil die Leute aus dem letzten Loch pfeifen. Wir leben in einer schnellen Zeit, die Globalisierung schreitet voran und verändert so viel, wir stehen unter Leistungsdruck, haben wenig Zeit für soziale Beziehungen, die Digitalisierung schreitet voran, dazu kommt der Klimawandel. Auch wenn wir in einer sehr abgesicherten Welt leben, sind wir von vielen Bedrohungsszenarien umgeben. Es ist das menschliche Maß abhanden gekommen. Viele Leute suchen gar nicht unbedingt aus einer materiellen Not heraus einen Retter, der für schwierige, große Fragen Antworten hat, es genügt zu sagen, die „Ausländer" sind schuld und die „Sozialschmarotzer“. Weil dieses menschliche Maß verlassen wird, kommt es zu einer Verrohung, zur „rohen Bürgerlichkeit“ und auf diesem Boden funktioniert der Rechtspopulismus so gut
 
 
Sie plädieren vehement für einen anderen Umgang mit dem Rechtspopulismus.
Wie könnte der aussehen?
 
ULRIKE GLADIK: Bei der Bundespräsidentenwahl hat man erleben können, dass der Kampf zwischen Rechts und Links ein regelrechter Krieg ist, weil beide Lager den anderen gegenüber extrem abwertend eingestellt sind. Es kommt zu einer Spaltung in der Gesellschaft. In Zuge der Recherche ist mir bewusst geworden, wie viele Themen es gibt, bei denen wir zusammenstehen sollten. Vom Auseinander-Dividieren profitieren die Herrschenden. Das Wichtige wäre, dass wir gemeinsam schauen, wie sich etwas im gemeinsamen Interesse verbessern lässt. Die Dame in meinem Film zum Beispiel zahlt € 700,- Miete für 40m2. Sie weiß nicht, wie sie mit ihrer Pension einmal das Auslangen finden wird. Und sie ist feindlich gegenüber MigrantInnen eingestellt: In ihrem Wohnhaus leben viele migrantische Familien, viele Wohnungen sind überbelegt. Sie hat das Gefühl, je mehr Menschen nach Österreich kommen, desto weniger bleibt für sie selbst. Dieses Gefühl wird von Medien und Rechtspopulisten geschürt. Wenn hingegen jemand in einem bürgerlichen Bezirk mit einer geräumigen Wohnung lebt und abgesichert ist, derjenige kann die Sorgen der Dame nicht verstehen. Ich sag ja auch im Film: Die einen sind gegen „Ausländer“ und die anderen sind gegen die, die gegen „Ausländer“ sind. Statt dessen sollten die  Menschen gemeinsam darauf schauen und dafür kämpfen, dass alle bessere Lebensbedingungen haben. Ich glaube also, dass eine Gesellschaft umso stärker ist, je mehr Dialog, je mehr Öffnung, je mehr Zuhören es über Gräben hinweg gibt. Wenn wir in Kommunikation treten und voneinander lernen, würde die Einstellung sowohl der FPÖ-WählerInnen als auch der Links-WählerInnen differenzierter werden. Dann kann man die Dinge anders angehen. Unser Grundproblem ist, dass wir alle sehr wenig Zeit haben für den Austausch darüber, was wir eigentlich wollen und brauchen. Und  der Zeitmangel ist das erste gemeinsame Thema, unter dem vom SpitzenfunktionärIn bis zur ArbeiterIn alle leiden.


Interview: Karin Schiefer
Juni 2019
 
 
«Ich glaube also, dass eine Gesellschaft umso stärker ist, je mehr Dialog, je mehr Öffnung, je mehr Zuhören es über Gräben hinweg gibt. Wenn wir in Kommunikation treten und voneinander lernen, würde die Einstellung sowohl der FPÖ-WählerInnen als auch der Links-WählerInnen differenzierter werden.»