INTERVIEW

Sabine Hiebler & Gerhard Ertl über ANFANG 80

 

 

«In unserer durchrationalisierten Gesellschaft braucht es heute in jeder Altersstufe ein gewisses Maß an Verrücktheit, um eine Liebesbeziehung einzugehen.» Sabine Hiebler & Gerhard Ertl über Anfang 80


Einen Film über das Leben im Alter zu erzählen ist immer noch ein eher seltenes Thema im Kino. Gab es Beobachtungen in eurem Umfeld, die euch veranlassten, alte Menschen zu den Protagonisten eures neuen Spielfilms zu machen? Gab es Themen, die euch in bisherigen Filmen zuwenig behandelt schienen?
Sabine Hiebler: Wir suchten schon länger nach einem Stoff für einen Liebesfilm. Gleichzeitig begannen wir, uns mit unserem eigenen Älterwerden zu befassen. Dazu kam noch, dass es in unserem Umfeld vermehrt Alters- und Pflegefälle gab. Je mehr wir uns damit beschäftigten, umso mehr wuchsen diese beiden Gedanken zusammen und wir beschlossen, einen Liebesfilm über zwei Achtzigjährige zu machen.

Würdet ihr ANFANG 80 eindeutig dem Genre des Liebesfilms zuordnen?
Sabine Hiebler: Ja, auf jeden Fall. Viele Liebesgeschichten handeln von einem Ideal, das sich gegen Normen, Einschränkungen, Konventionen oder feindselige Systeme durchsetzen muss. Diese Rolle sollte sie auch in Anfang 80 einnehmen.

Den Titel ANFANG 80 kann man in einem doppelten Sinn verstehen, nämlich in einem ersten Hinschauen als Altersangabe, aber auch „programmatisch“ als Geschichte über einen Neuanfang mit 80. Welcher Aspekt stand für euch im Vordergrund?
Sabine Hiebler: Wir wollten unbedingt den positiven, lebensbejahenden Aspekt in den Vordergrund stellen und haben bewusst diese doppelte Bedeutung gewählt.
Davor haben wir aber sehr lange mit einem englischen Arbeitstitel gearbeitet ? Coming of Age ? , dieser Titel ist auch der englische Verleihtitel geblieben. Als wir nach einem deutschen Titel zu suchen begannen, wurde uns klar, wie stark der englische bereits in unserem Bewusstsein verankert und mit dem Stoff verbunden war. Wir entschieden uns dann erst kurz vor Drehbeginn für Anfang 80. Coming of Age haben wir aus zwei Gründen gewählt: zum einen war das Buch, Das Alter, von Simone de Beauvoir, das in der englischen Übersetzung The Coming of Age heißt, für uns am Beginn unserer Recherche sehr wichtig, zum anderen wegen des Genres ? Anfang 80 ist ja auch ein Coming of Age-Film im hohen Alter. Der Genrebegriff schien uns jedoch dem deutschsprachigen Publikum nicht vertraut genug, um ihn als Titel zu belassen.

Wie und wo habt ihr recherchiert, um in diese Welt der alten Menschen hineinzufinden?
Gerhard Ertl: Wir waren natürlich in vielen Institutionen, Pflege- und Seniorenheimen. Sobald man aber auf diese Themen sensibilisiert ist und mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, stößt man ständig auf die damit verbundenen Probleme. Alter, Krankheit und Tod sind ja noch immer gesellschaftlich verdrängt und wir wollten diese Themen aus dieser tabuisierten Zone herausholen ? innerhalb der Institutionen jedoch, sei es auf onkologischen Stationen, Pflegestationen, in Altersheimen, gab es große Offenheit, auch zum Thema Sexualität im Alter. Da hatten wir eher mit Reserviertheit gerechnet und sind auf große Unterstützungsbereitschaft gestoßen ? vor allem als klar war, dass das Thema des Alt-Seins einmal aus einer anderen Ecke aufgegriffen wird und nicht nur dann, wenn vom nächsten Pflegeskandal berichtet werden kann.

Sabine Hiebler: Die Menschen, die in diesen Einrichtungen arbeiten, verausgaben sich. Es wird dort sehr viel kaputt- und totgespart und ich hatte das Gefühl, dass viele es als Erleichterung empfanden, über diese Probleme auch einmal mit Außenstehenden sprechen zu können.

Gerhard Ertl: Es kommen ja auch riesige gesellschaftliche Umwälzungen auf diese Institutionen zu. Es zieht ja jetzt eine ganz andere Generation in die Altersheime ein und die Institutionen werden nachziehen müssen. Das sind keine alten Leute mehr, die sich still auf eine Bank setzen und das goldene Herbstlaub betrachten. Es checken langsam die Alt-68-er ein ? eine Generation, die ein anderes Selbstbewusstsein und andere Ansprüche hat. Sexualität, zum Beispiel, ist in den Altersheimen ein sehr virulentes Thema geworden.

Das Umdenken und Umlernen betrifft ja nicht nur das Pflegepersonal und die Verwaltung, sondern auch die älteren Menschen als soziales Umfeld und die Familien.
Sabine Hiebler: Das Interessante ist, dass vor allem Familienmitglieder damit Schwierigkeiten haben, wenn sich neue alte Paare bilden. Da kommen dann tatsächlich immer wieder Forderungen, dass das unterbunden werden soll. Der Umgang mit Veränderungen ist für viele Menschen ohnedies schwierig, und wenn man seine Eltern fünfzig Jahre als verheiratetes Paar kennt, oder als treue Witwe oder Witwer, dann platzt eine neue Partnerschaft für viele Angehörige sehr unerwartet ins Leben.

Ihr habt gemeinsam das Drehbuch geschrieben und gemeinsam Regie geführt, wie sieht dabei die Arbeitsteilung aus?
Sabine Hiebler: Eine Arbeitsteilung gibt es eigentlich nicht. Die Arbeit am Buch ist bei uns ein stark diskursiver Prozess, wobei wir uns zuerst auf die genaue Struktur konzentrieren und dann ein präzises Briefing für die jeweiligen Szenen erarbeiten. Wir definieren die genauen Anforderungen für jede Szene: was sie für die Geschichte, das Thema und die Figuren leisten muss. Erst dann schreiben wir und nach der ersten Fassung gehen die Versionen dann noch hin und her. Das Schreiben selbst würde ich als den kleineren, wenn auch unterhaltsameren Teil bezeichnen. Die Knochenarbeit findet zuvor statt.

Wenn man alte Leute kiffen oder andere verbotene Dinge mit dem schelmischen Übermut junger Leute tun lässt, kann man sich da als Geschichtenerzähler so richtig austoben? War es ein befreiendes Schreiben, diese Szenen der Flucht, der Verliebtheit, der Komplizenschaft im Kontrast zur unerbittlichen Realität des Verfalls und der Herzlosigkeit der Umwelt zu schreiben?
Sabine Hiebler: Befreiend empfinde ich es, wenn wir eine Szene so geschrieben haben, dass sie funktioniert, egal ob sie einen emotionaler Hoch- oder Tiefpunkt für die Geschichte bildet. Lustige Szenen zu schreiben ist manchmal ganz schön kniffelig ? insofern würde ich nicht von austoben sprechen.

Gerhard Ertl: Im Gegenteil: Hier lag für uns eine besondere Schwierigkeit, den Übermut eben nicht plötzlich schelmisch werden zu lassen, nur weil es sich um alte Menschen handelt, sondern den ganzen Sektor an Verhaltensweisen und Emotionen zu zeigen, von dem alte Menschen gesellschaftlich oft abgeschnitten werden.

In ANFANG 80 geschehen im Positiven wie im Negativen viele unwahrscheinliche Dinge. Wolltet ihr den Stoff im Gewand eines Märchens erzählen?
Sabine Hiebler: Welche Liebesgeschichte hat keinen märchenhaften Aspekt? Natürlich geht es auch darum, die Entrücktheit des Verliebtseins zu zeigen. Durch das Liebesglück, das den beiden widerfährt, kippt dieses Paar ja auch aus der Realität heraus. In unserer durchrationalisierten Gesellschaft braucht es heute in jeder Altersstufe ein gewisses Maß an Verrücktheit, um eine Liebesbeziehung einzugehen. Diese Verrücktheit und Entrücktheit vor dem Hintergrund eines entfremdenden Systems wollten wir schildern. Was im Negativen mit Delogierung oder Besachwaltung passiert, ist leider tagtägliche Realität. Dabei war es uns aber sehr wichtig, dass niemand - weder Familienmitglieder noch Pflegepersonal - den beiden aus persönlichem Antrieb einen Strich durch die Rechnung macht.

Gerhard Ertl: Sie stecken alle in ihren Systemen fest. Durch familiäre oder berufliche Anforderungen stehen in Anfang 80 alle am Rande der Belastbarkeit. Die soziale Beschleunigung zwingt viele Menschen zu einem Leben im roten Bereich. Die „Flausen“ des Papas - und so wird Brunos Beziehung in der Familie zunächst ja wahrgenommen ? kommen da natürlich ungelegen. Der Sohn hat einfach keine Ressourcen mehr um für seinen Vater, der jetzt aus der Reihe tanzt, Verständnis aufzubringen und die Heimleiterin kann eben nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten agieren. Qualitätssicherung ist die Hauptsache, menschliche Bedürfnisse rücken in den Hintergrund.

Neben der Liebe als Kraft, die sich über jede Vernunft hinwegsetzt, steht in ANFANG 80 auch die Angst vor dem Verlust der Autonomie im Vordergrund. Und der Film enthält auch sehr starke Bilder von Ängsten, was das Alter mit sich bringen kann.
Sabine Hiebler: Anfang 80 ist ein Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung in jedem Alter und in jeder Lebenssituation. Angst vor Autonomieverlust betrifft ja alle Altersgruppen. Besonders groß ist sie aber wohl im Alter.

Gerhard Ertl: Es geht in diesem Film ja nicht nur um die alten Menschen. Es geht auch um uns in 20, 30, 40 Jahren. Welche Gesellschaft werden wir vorfinden? Wie werden und wie wollen wir als Achtzigjährige leben?

Hattet ihr beim Schreiben schon bestimmte Gesichter vor euch?
Sabine Hiebler: Wir haben uns natürlich intensiv umgesehen, wer in dieser Altersstufe in Frage kommt, aber keineswegs auf bestimmte Schauspieler hin geschrieben, schon alleine deshalb nicht, weil die beiden Hauptdarsteller in Kombination ein spannendes und stimmiges Paar ergeben mussten.

Gerhard Ertl: Für das Darstellerpaar Ostermayer/Merkatz, das sich sehr bald für uns herauskristallisiert hat, haben wir uns dann, neben der Tatsache, dass beide exzellente Schauspieler sind, auch deshalb entschieden, weil es in dieser Paarkonstellation vor allem auch diese starke Unterschiedlichkeit gibt, die wir für die Geschichte und die Figuren gesucht haben: Christine mit ihrem feinstofflichem Wesen und diesem besonderen Strahlen und Karl mit seiner starken, physischen Präsenz.

Mit Erni Mangold in der Rolle von Brunos Frau Hertha gibt es auch in einer Nebenrolle eine sehr starke Besetzung.
Sabine Hiebler: Es musste ja unbedingt glaubwürdig sein, dass Bruno fünfzig Jahre mit dieser Frau verheiratet war. Es erzählt ja viel über ihn, wenn er so lange mit einer starken Frau gelebt hat. Wir wollten keine unscheinbare Persönlichkeit und wir wollten keine Ehe zeigen, bei der man das Gefühl hat, der ergreift die erstbeste Gelegenheit um wegzugehen.

Wie sieht bei euch die Arbeit mit den Schauspielern aus?
Sabine Hiebler: Angesichts der wenigen Mittel, die wir für diesen Film zur Verfügung hatten, war die Drehzeit knapp und somit musste sehr vieles schon vor dem Dreh klar sein. Deshalb gab es intensive Vorbesprechungen.

Gerhard Ertl: Die Anforderungen an die Schauspieler waren in Anfang 80 sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht hoch. Diesem Buch mussten sich die Darsteller ausliefern. Allen war klar, dass wir das Thema gemeinsam aus der Tabuzone herausholen und damit schonungslos umgehen wollten. Es war dann in der Inszenierung eine sehr konstruktive Zusammenarbeit.

Der Film beginnt mit einem Close-up auf das Gesicht von Christine Ostermaier und als Zuschauer weiß man von Beginn an, dass ihr die alten Gesichter in aller Nähe und in ihrer Schönheit zeigen wollt. Wie seid ihr gemeinsam mit Kameramann Wolfgang Thaler an die Frage - Wie wollen wir die Gesichter, die Körper, die Sexualität alter Menschen zeigen? - herangegangen?
Sabine Hiebler: Ein Liebesfilm über alte Menschen löst verschiedenste Reaktionen aus. Für uns stand fest, dass wir die Haut, die Falten, die Alterserscheinungen als eigene Qualität, als Landschaft zeigen wollten. Wir wussten, worauf wir hinauswollten, wussten aber noch nicht genau wie. Wolfgang Thaler hat uns sehr rasch verstanden. Er ist jemand, der auf Menschen sehr intensiv zugeht und ein großer Menschenfreund ist, was sich in seiner Kameraarbeit ausdrückt. Der Arbeitsprozess war letztlich erstaunlich selbstverständlich.

Gerhard Ertl: Dass diese Liebesgeschichte auch die körperliche Liebe thematisieren und zeigen wird, war für uns immer klar. Wir wollten weder die Tabuisierung mitbetreiben noch das Klischee vom alten Paar, das Händchen haltend auf der Parkbank sitzt, bedienen.

Sabine Hiebler: ...aber eine Liebesgeschichte ist immer ein idealisierter Zustand. Auch in einer Liebesgeschichte von jungen Menschen zeigt man keinen pornografischen Akt, sondern ein emotionales Hochgefühl.

Der Film sticht am Ende noch ein weiteres Tabu an - das der Sterbehilfe, das der Freiheit, in Würde zu sterben. Hier bewegt man sich in Österreich auf einem Terrain der Illegalität. Warum wolltet ihr es ansprechen?
Sabine Hiebler: Der ganze Film dreht sich um Freiheit und Selbstbestimmtheit, in diesem Punkt zeigen wir die Freiheit bis in die letzte Konsequenz. Dazu kommt, dass es hier einen Graubereich gibt, denn Krebs im Endstadium wird mit so hohen Medikamentendosen behandelt, dass hier die Grenzen verschwimmen. Das Schlimme für Angehörige wie für Pflegepersonal ist das Alleingelassen-Sein in dieser Situation. Da wird sehr viel unnötiges Leid erfahren.

Wie waren die Reaktionen dazu bei den Kinovorstellungen in Österreich?
Sabine Hiebler: Sehr positiv. Es gibt natürlich auch manchmal militante Sterbehilfe-Gegner, was immer wieder zu heftigen Diskussionen führt, aber das ist schon o.k., wir plädieren ja für die Wahlfreiheit in jeder Hinsicht.

Gerhard Ertl: Auch in dieser Diskussion wird ein starker Wandel spürbar. Es muss eine neue Alterskultur, eine neue Kultur im Umgang mit dem Sterben geben und da tut sich sehr viel. Die strikten Sterbehilfegegner bilden eine Minderheit und es wird sehr deutlich, dass es ein großes Bedürfnis nach Diskussion gibt, weil sehr viele Menschen damit konfrontiert sind. Interessant war dann auch im Zuge des Kinostarts zu sehen, wie sehr das Thema auch jüngere Leute angesprochen und berührt hat. Und besonders die Menschen, die im Pflegebereich tätig sind, sind sehr offen für eine Diskussion. Sie leiden besonders unter dieser Tabuisierung, weil sie ständig diesen Fragen ausgesetzt sind.

Eure Arbeit zu diesem Film vermittelt den Eindruck, dass hier eine positive Entwicklung spürbar und Grund zum Optimismus gegenüber einem neuen Umgang mit diesen Themen gegeben ist?
Gerhard Ertl: Gerade im Pflegebereich und im Umgang mit dem Tod kommt sehr viel in Gang. Wir erleben erstmals zwei Generationen von Pensionisten. Wir werden nicht nur immer älter, wir bleiben immer länger jung. Es gibt die rüstigen, sportlichen und reiselustigen Rentner und dann jene, die in den Pflegebereich geraten. Ab Pflegestufe 1 wird man vom Menschen zum Pflege-Fall und da sind dann plötzlich Respekt und Würde antastbar.

Sabine Hiebler: Es werden nun aber wie gesagt alle Bereiche des Alterns verstärkt thematisiert, weil eine viel aktivere und selbstbewusstere Seniorengeneration nachrückt.
Diese Generation hat die Jugendkultur erfunden, die Midlife-Crisis in aller Öffentlichkeit hinter sich gebracht und macht sich jetzt daran eine Alterskultur zu entwickeln.
Wir haben diesen Wandel in den Jahren, in denen wir uns nun mit diesem Thema beschäftigen, sehr stark miterlebt.
Auch in den Medien spiegelt sich dieser Wandel. Anfangs gab es noch kaum Bilder von alten Menschen, inzwischen hat auch die Werbung die ältere Generation schon als Zielgruppe entdeckt. Das Thema ist innerhalb kürzester Zeit explodiert.


Interview: Karin Schiefer
Juli 2012