INTERVIEW

Sherry Hormann über WÜSTENBLUME

 

«Ich musste zwei Versprechen machen: zum einen, das Thema weibliche Genitalverstümmelung zu zeigen und respektvoll zu behandeln und zum anderen, eine Balance zwischen Lachen und Weinen zu halten». Sherry Hormann im Gespräch über Wüstenblume



Die Verfilmung eines Buches, zieht immer automatisch mit sich, dass der Film an der literarischen Vorlage gemessen wird. Umso heikler ist das wahrscheinlich bei einem Bestseller, wo Millionen Menschen über den Inhalt Bescheid wissen. Wie wagt man sich trotzdem, an die Adaptation eines solchen Stoffes?
Sherry Hormann: Grundvoraussetzung war, dass Waris Dirie und ich einen Konsens finden und das war nach dem ersten Treffen bereits klar, da ich ihr zwei Versprechen machen musste: zum einen, das Thema weibliche Genitalverstümmelung zu zeigen und respektvoll zu behandeln und zum anderen, eine Balance zwischen Lachen und Weinen zu halten. Das war die viel größere Herausforderung. Zunächst steht das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung im Vordergrund, wenn man dann beginnt, es zu hinterfragen, stellt sich heraus, dass Die Wüstenblume auch ein Stück Leben erzählt und das Leben will umarmt werden, vor allem, wenn man eine solche Vorgeschichte hat.

Damit hatten Sie zwei hohe Vorgaben zu bewältigen.
Sherry Hormann: Ja, absolut. Meine erste Fassung war 380 Seiten lang, Peter Herrmann sagte zu mir – „Sherry, das lese ich erst gar nicht, ich lese erst ab 200 Seiten.“ Und man hat ja immer die Leserpolizei im Nacken, elf Mio LeserInnen das klingt so gigantisch. Es ist eine Geschichte, die universell den Menschen anspricht, nicht nur Frauen, auch Männer, die Frauen lieben und jeden Menschen, der sich für den Respekt zwischen den Menschen einsetzt. Als ich schrieb, reiste ich viel und war u.a. in Thailand auf einer winzigen Insel. Am Flughafen entdeckte ich drei Bücher, eines davon war Wüstenblume oder man sitzt in der Berliner U-Bahn und die Person gegenüber liest gerade das Buch. Dazwischen liegen Welten und es ging darum, den Kern herauszufinden.

Hält man sich noch dazu die Geschichte vor Augen, dann ist es eine Aneinanderreihung von Zufällen – vielen glücklichen und auch sehr fatalen Zufällen. Hätten Sie die Geschichte von Waris Dirie als fiktiven Stoff angeboten, wäre er wahrscheinlich abgelehnt worden?
Sherry Hormann: Es freut mich, dass der Aspekt der Zufälle angesprochen wird, das macht die Aufgabe für die Autoren sehr schwierig, weil der Held, sei es in Form eines glücklichen oder eines unglücklichen Zufalls, immer alles geliefert bekommt und damit zu einer passiven Hauptfigur wird. Es war mir aber sehr wichtig zu sagen, Waris Dirie hat ihr Leben selber in die Hand genommen, daher ist sie auch zur Leitfigur für so viele Menschen geworden, weil sie sich nicht zum Opfer gemacht hat, sondern weil sie in die Tat gegangen ist. Auch wenn sie zufällig bei McDonalds gejobbt hat und dort zufällig der Modefotograf vorbeikam. Das Leben ist jeden Tag voller Zufälle. Ich denke immer, dass Augenblicke im Leben einen auffordern, einen zu bereichern ? sei es gedanklich oder in der Phantasie oder in der Tat. Es war schließlich mein Ziel, auf eine vernünftige Drehbuchlänge zu kommen und ich sagte mir: um dieses Stück Leben zu erzählen, muss man von ihrer Kindheit erzählen. Daher ist Afrika immer der Herzschlag für Waris’ Geschichte und es ging mir auch um diesen Blick von außen auf die westliche Welt zu, deshalb spielt London diese große Rolle. Die Figur der Marilyn gibt es im Buch gar nicht, sie nahm die Rolle des Spiegels für uns westliche Zuschauer ein. Man macht ja die Dinge nie allein, sondern immer irgendwie im Verbund. Das Boarding House wird daher ihre Ersatzfamilie, Marilyn führt zu Waris’ großem Erwachen ihrer selbst, was ihr da zugefügt worden ist, was sie für selbstverständlich hingenommen hatte.

Die Figur der Marilyn dargestellt von Sally Hawkins bringt auch das leichte, komödiantische Element in die Geschichte?
Sally Hormann:  Ja, und vor allem auch das Lebensbejahende, sich zu sagen - es ist nicht verboten, Spaß zu haben, es ist nicht verboten, sich zu verlieben oder mal nichts zu tun, wenn man aus dieser ewigen Pflichterfüllung und dem Funktionsdenken herauskommt, aus der Waris kam, wo es täglich ums Überleben ging. Ich war am Anfang mit meinem Versprechen überfordert, denn es gibt nichts Schwierigeres als etwas so Hochdramatisches mit komödiantischen Elementen zu durchwirken. Unterm Strich und jetzt auch nach der ersten Resonanz durch das Publikum ? es geht ja auch darum, das Thema der Genitalverstümmelung auch an jene heranzutragen, die es nicht hören wollen. Und das Lachen öffnet. Dann schlägt man zu. 

Eine Schlüsselszene ist die des Aktes der Genitalverstümmelung, mit welchen Gedanken sind Sie an die filmische Umsetzung herangegangen?
Sally Hormann: Als Filmregisseurin war es mein dunkelster Drehtag. Wir haben in Djibuti gedreht. Es war auch ein Teil des Versprechens, dass es authentisch aussehen musste, die Menschen vor der Kamera sind Somalis, die zum Teil noch nie einen Weißen und auch noch nie eine Kamera gesehen hatten. Es waren Umstände, die im 21. Jh. sehr erstaunlich erscheinen. Wir haben mitten in der Wüste gedreht, dort, wo das Ritual der Beschneidung wirklich stattfindet. Natürlich ist alles nachgestellt. Die Beschneiderin, die wir sehen, ist aber bis vor fünf Jahren eine echte Beschneiderin gewesen und es war nicht so einfach, dass sie sich dafür auch zur Verfügung stellt. Das Kind hatten wir mit seiner Mutter am Set, damit es sich auch an uns Weiße gewöhnt, an unsere Sprache, an unser Gebahren. Und es war auch nach dem Dreh noch mit seiner Mutter am Set, um sich sozusagen mitzugewöhnen. Als Filmregisseurin stehe ich immer vor der moralischen Frage, wie weit gehe ich. Dokumentarisches Drehen war natürlich völlig undenkbar, es ging darum, diesen Schmerz, die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Akt vollführt wird, zu zeigen.

Eine Frage, die mich immer sehr beschäftigt, ist die, warum die Mütter dagegen keinen Widerstand entwickeln?
Sally Hormann: Wenn man bei der Beschneidungsszene nicht weggucken muss, dann kann man sehen, dass die Mutter auch lächelt. Für die Mutter ist es eine Erlösung, dass das Kind beschnitten ist, damit ist garantiert, dass es verheiratet werden und als Erwachsene einen Platz in der Gesellschaft haben kann und überleben wird. Das ist eine Denkweise, die uns so fremd ist, dass es gar nicht in unser Gehirn rein mag und es ist uns noch fremder, dass die Frauen in dieser Gesellschaft dieses Ritual forcieren, obgleich sie selber die Schmerzen haben, obgleich sie dabei auch schon Kinder verloren haben. Wir müssen uns vor Augen halten, dass es sich hier um eine Tradition handelt, die von 3000 bis 6000 Jahren alt ist. Das muss man sich mal gedanklich vorstellen. Das lässt sich nicht in kurzer Zeit ändern, auch wenn Waris Dirie vor zehn Jahren mit dieser Wucht an die Öffentlichkeit gegangen ist und auch Unterstützung erhielt und auch getragen wurde. In zehn Jahren ändere ich aber nicht eine jahrtausendealte Tradition. Wir müssen da auch Alternativen anbieten und das gelingt. In Benin z.B., wo Beschneidung nicht nur offiziell verboten ist, sondern wo es das Bewusstsein gibt, dass man es tatsächlich abschaffen darf.

Ist es eine besondere Verantwortung für einen Filmemacher, das Leben einer Zeitgenossin zu verfilmen?
Sherry Hormann: Als das ich bei einer Drehbuchfassung angelangt war, die ich für gut befand, reisten Peter Herrmann und ich nach Wien. Wir waren in einer Wohnung über den Dächern von Wien und ich las Waris Dirie über zwei Tage hinweg das Drehbuch vor. Das war hochemotional, sie weinte und sie lachte. Ich wollte nicht, dass sie sich damit irgendwohin zurückzieht und es selber liest, denn ich wollte die Momente spüren, wo es stimmte bzw. wo es nicht stimmte. Ich wollte, dass sie einhaken und als Korrektiv wirken konnte. Waris war immer das Regulativ, meine westliche Denke durch ihre Herkunft und ihre afrikanische Denke zu komplettieren. Es ist ein Geschenk, über jemanden erzählen zu können, der lebt. Wir hatten ja nicht nur Waris gegenüber eine Verantwortung, sondern einem Phänomen an Leben, was sie gelebt hat und die Gegensätze, die diese Frau vereint - das sprengt jeden Rahmen und auch jede Filmdramaturgie.

Sie sagen, Waris Dirie ist eine Frau voller Widersprüche, inwiefern?
Sherry Hormann: Ich sag es mal so: eine einst analphabetische, Ziegen hütende Nomadin hält letztlich vor der UN eine Rede über Genitalverstümmelung. Alleine diesen historischen Moment halte ich für gigantisch. Sie ist eine Frau, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die ihr Geld und Luxus eingebracht hat, sagt, das war es nicht und riskiert dabei, dass sie als Model nicht mehr gebucht wird. Sie sagte, dafür allein bin ich nicht aus Somalia geflohen. Sie ist eine Frau, die durch das Eintreten in die westliche Kultur nach und nach erstarkt ist. Das ist ja auch ein Widerspruch – ich fliehe, aber ich bekenne mich auch mehr und mehr zu meiner Geschichte.

Wie verlief die Suche nach der Darstellerin für Waris Dirie?
Sherry Hormann:  Wir hatten sehr tolle Casting-Agenten, die in London eine Reihe großer Filme gemacht haben, u.a. Herr der Ringe oder auch The Commitments. Die haben Feuer gefangen, als sie das Buch gelesen haben und reisten durch Afrika, USA und Europa, um sich auf die Suche zu machen. Es haben sich hinreißende Frauen beworben. Eines war klar, sie müssen auf alle Fälle somalische Gesichtszüge tragen, nicht nur schauspielerisch überzeugen, sondern auch den Laufsteg beherrschen. Das war der schwierige Akt. Ich wollte kein Model, leider bin ich voller Vorurteile, weil ich trotz meiner jahrelangen Auseinandersetzung mit Waris Dirie, den Reflex hatte, Model mit Oberflächlichkeit gleichzusetzen. Und dann kam das Band mit Liya Kebede aus New York, ich schaue mir nie vorher die Vita an, weil ich  unvoreingenommen sein wollte. Liya Kebede hatte ein sehr gutes Casting gemacht und dann las ich noch, dass sie ein Top-Model war und ich musste mir sagen, Sherry, du musst deine eigenen Vorurteile überarbeiten. Diese Frau ist toll und sie ist auch noch sehr engagiert. Da bin ich wieder beim Thema Zufall: wie kann es sein, dass da eine Frau auftaucht, die alle Voraussetzungen erfüllt. Sie hat dann über viele Monate in New York Schauspielunterricht genommen und hat sich da buchstäblich hineingefräst.

Wie lief es für die anderen Rollen?
Sherry Hormann: Es war nicht leicht, das Casting zu finden. Im Ausland kennt mich keiner und außerdem hatten wir keinen Star. Jeder, der eine weitere Rolle spielt, hatte nur eine Zubringerrolle. Wir versuchten dranzubleiben und trafen eine handverlesene Auswahl die Leute, die man jetzt auf der Leinwand sieht, spielen ihre Rollen mit all ihrem Herzblut, weil sie die Rolle wirklich spielen wollten. Das Thema überzeugte sie, das Ensemble überzeugte sie und keiner hat mit dem Geldschein gewedelt. Es ging den Leuten um die Sache.  Ich bin ein totaler Fan dieses Casts ? da ist Timothy Spall, der zunächst so schmierig daher kommt und sie dann mit der größten Anmut und Sanftheit behandelt.

War es ihr bisher größtes und herausforderndes Projekt?
Sherry Hormann: Ja natürlich. Das ist auch eine Herausforderung, an der man selber reift. Wenn man plant, hat man immer alle möglichen Phantasien, wenn man dreht, hat man immer noch die Hoffnung, wenn man dann im Schneideraum sitzt, dann geht es um etwas, dann gilt es. Dann heißt es immer wieder so kleine Abschiede von seinen Vorstellungen zu nehmen. Dann wird es real. Im Schneideraum haben wir uns sehr vom Drehbuch verabschiedet und es komplett neu strukturiert.

Wo fanden abgesehen von Djibouti die Dreharbeiten statt?
Sherry Hormann: In London, New York und die Studiodrehs in Deutschland. Wir wollten eigentlich von Djibouti direkt nach New York, hatten aber noch keinen Darsteller für Harold Jackson. Es hatte einige Vorschläge gegeben, aber keinen, wo der Funken sprühte. Und da sagte der Produzent, dann drehen wir erst am Ende und organisieren um.
Wir hatten auch einen britischen Szenenbildner, der auch gewährleistet hat, dass das was man da sieht auch wirklich britisch rüberkommt. Jedes Land hat seine Farben, ich bin soeben eine Stunde durch Wien spaziert und man spürt sogleich ein anderes Gefühl für Stoffe, für Tradition. Es ist anders als z.B. in Paris, die Menschen gehen anders, bewegen sich anders.

Der Film hatte in Venedig in der Reihe Giornate degli Autori Premiere, in San Sebastian hat der Film den Publikumspreis gewonnen. Sie hatten also schon ein bisschen Gelegenheit zu sehen, wie der Film beim Publikum ankommt.
Sherry Hormann: Venedig war gigantisch. Die Vorstellung war ausverkauft und die Leute erhoben sich beim ersten Titel. Ich hatte zunächst Angst, sie würden wieder gehen, es waren allerdings Standing Ovations, das hatte ich in meinem Leben noch nicht. Das sind Momente, an die man gerne zurückdenkt und das Publikum dort bestand aus zwei Dritteln Italienern und einem Drittel aus der ganzen Welt. Wüstenblume ist eine grenzübergreifende Geschichte, für einen Regisseur und Autor ist das aber auch das Erdrückende.

Haben Sie das Gefühl, dass der Film einen wesentlichen Beitrag zur Bewusstseinsbildung in Zusammenhang mit der weiblichen Genitalverstümmelung leisten kann?
Sherry Hormann: Waris sagt immer: Wenn der Film nichts bei den Leuten bewirkt, dann wollen die Leute auch nicht darüber nachdenken. Aus ihrer Sicht hat sie auf alle Fälle das Gefühl, dass es zu wenig Bewusstsein gibt. Es kommen über Internet und U-Tube sehr viele Anfragen, was man tun könne oder auch die Reaktionen, die sich eher auf den Zuschauer selber beziehen - Was kann ich aus meinem Leben machen? Es gibt wahnsinnig viele Anfragen auch von jungen Menschen. Wir hatten auch in Bravo in vier Ausgaben Beiträge über Genitalverstümmelung. Das ist ein tolles Gefühl, wenn man da etwas bewegt. Bei den Publikumsgesprächen wurde sehr heftig diskutiert, aber auf zwei Ebenen: auf der einen Ebene über Genitalverstümmelung, auf der anderen Ebene, was den Mut zum eigenen Leben betrifft. Es spricht zwei Ebenen an: je mutiger ich bin im eigenen Leben, umso mutiger bin ich dann, mich mit dem anderen Thema auseinanderzusetzen. Es greift ineinander.


Wie wird der Film nun weiterreisen?
Sherry Hormann: Abgesehen von den internationalen Festivals hatte der Film schon am 9. September Kinostart in Deutschland. Der Film ist noch nicht weltweit verkauft, aber erstaunlich viel auch in Ländern mit großem afrikanisch-muslimischen Anteil in der Bevölkerung, was mich sehr, sehr freut. Wir waren auch vor den Wahlen bei der deutschen Entwicklungsministerin, die uns - und wir können nur sehr hoffen, dass dieses Ministerium nun nicht abgeschafft wird - Unterstützung für eine Logistik zugesagt, um diesen Film in afrikanischen Ländern zu zeigen und nicht nur denjenigen zu zeigen, die eh schon wissen, dass man es abschaffen muss.

Interview: Karin Schiefer
Oktober 2009