INTERVIEW

«Was mich berührte, war der drohende Verlust jeglichen Empfindungsvermögens.»

 

Kameramann Christian Berger über Das große Heft von János Szász, Gewinner des Chrystal Globe in Karlovy Vary und sein neues Projekt mit Virgil Widrich.



Wie kam es zur Begegnung Ágota Kristófs Roman Das große Heft, dem ersten Teil, ihrer vielbeachteten Trilogie?
Christian Berger: Eines Tages schickte mir Alexander Dumreicher-Ivanceanu das Taschenbuch von Ágota Kristófs Roman und fragte mich, ob mich der Stoff interessieren würde. Es ist so eine Gewohnheit von mir, dass ich gerne am stillen Ort lese, meistens eher Werbung oder andere kürzere Textsorten. Dieses Buch konnte ich nicht mehr weglegen und habe es in einem Zug durchgelesen. Ich war total begeistert. Ich hab es mit der Lektüre damals ganz bewusst bei diesem ersten Teil der Trilogie, Das große Heft, belassen, da ich mich nicht vom Fortgang der Geschichte in den anderen zwei Teilen beeinflussen lassen wollte, um nicht auf ein falsches Gleis zu geraten. In der Folge kam es dann auch zu den ersten Treffen mit dem Regisseur, Janos Szász, ich denke es war im Winter 2011, ein gutes Jahr vor Drehbeginn.

Was hat Sie an diesem Buch nicht losgelassen?
Christian Berger: Das Phänomen Zivilisation/Barbarei hat mich sehr berührt. Ohne Moral. Ohne Ideologie. Die Zwillingsbrüder, die Protagonisten von Das große Heft, sind Kinder, die das Beste wollen, die tun, was die Erwachsenen sagen und die dennoch zu Monstern werden. Was mich wirklich berührte, war die zu jeder Zeit und immer vorhandene Gefahr der Barbarei und der drohende Verlust jeglichen Empfindungsvermögens. Das kommt in dieser Geschichte so stark, so menschlich und so unmittelbar heraus. Ähnlich wie bei Haneke gab es auch hier im Publikum Reaktionen, dass die Geschichte so eiskalt sei. Ich kann das nicht nachvollziehen. Für mich ist die Unmittelbarkeit der Darstellung herzenswärmend. So nahe geht selten etwas. Das ist nicht kalt. Es passiert ja alles in mir und Ágota Kristóf löst das mit dem richtigen Knopf aus. Ich sah beim Lesen nach und nach Bilder vor mir, und zwar nicht im Sinne von Opulenz, sondern im Sinne von genau, klar. Egal, ob das im Ungarn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs spielt, die Nazis vertrieben werden und die Russen reinkommen, das ist ja alles nur Hintergrund. Es geht um die Zwillinge und deren Bemühungen in dieser Welt zurecht zu kommen.

Das Große Heft erzählt die Veränderungen, die der Krieg mit den Menschen macht.
Christian Berger: Ja, es werden alle zu anderen Menschen – die Eltern, die Nachbarin, die Großmutter. Die Kinder sind die Frischprägung. An den Kindern kann ich es am deutlichsten ablesen und zeigen. Und die Präzision von Ágota Kristófs Sprache ist etwas ganz Ungewöhnliches.

Erzeugt Präzision der Sprache in der literarischen Vorlage auch eine Präzision der Bilder?
Christian Berger: Ja. Die Bilder waren einfach da. Eine literarische Vorlage ist in der Regel kein Film. Umgekehrt entsteht immer gleich ein Film im Kopf, wenn man liest. Deshalb funktioniert eine filmische Umsetzung von Literatur so selten, weil der Lesende seinen Film ja schon hat. Die Leute, die ein Buch kennen, bereuen meist, den Film angeschaut zu haben. Andere lesen das Buch lieber nicht und schauen sich nur den Film an. Im Fall von Ágota Kristóf war das Buch nie eine Konkurrenz, die Bilder haben sich durch diese ungeheuerlich reduzierte und genaue Sprache in meiner Vorstellung komplett ergeben.

Wann setzte dann die Zusammenarbeit mit dem Regisseur ein?
Christian Berger: Das Drehbuch hab ich erst bekommen, nachdem ich den Roman gelesen hatte. Der Roman lieferte eine Basis, János’ Aufgabe war es zusammen mit seinem Co-Autor András Szekér, dramaturgische Gewichtungen setzen, der Film wäre zu lang geworden, hätte man alles umgesetzt. Ich traf János zum ersten Mal, als das Drehbuch gerade in der „letzten Version“ entstand. In dieser Phase ist es mir vor allem wichtig zu spüren, was der Regisseur will, in welche Richtung seine Intention geht, ob und auf welche Weise ich mich einbringen kann, ob die Chemie passt.

Worin lag die Intention des János Szász?
Christian Berger: Bei János Szász spielt auch eine persönliche Betroffenheit mit. Er entstammt einer ungarischen, jüdischen Familie, der schreckliche Dinge widerfahren sind. Er hat sich mit einer unheimlichen Wut auf diesen Stoff gestürzt. Ob das dann auch im Film zu spüren ist, kann ich nur schwer sagen. Es ist jedenfalls ein Gefühl, das Ágota Kristóf gewiss auch nicht fremd war.  Ich hab bei ihm so etwas wie einen gerechten Zorn gespürt, der ihn angetrieben hat.

Ist er ein Regisseur, der auch dem Kameramann Raum lässt, sich einzubringen?
Christian Berger: Er verlangt das sogar. Wir haben viel besprochen, haben Motive befahren und sind uns in dieser Phase sehr gut näher gekommen. Ich hab mich bei János Szász gefordert und gut aufgehoben gefühlt. Und ich habe bei ihm eine Offenheit, auf Vorschläge einzugehen, erlebt. Ich denke z.B. an den Baum, der sich auf dem Grund des Bauernhauses befand, der eine gewisse Symmetrie in seinem Wuchs aufwies und in dem ich etwas wie einen „Zwillingsbaum“ sah. Ein Geschenk der Natur. Da war er spontan bereit, das aufzugreifen und in die Bildgestaltung einzubeziehen. Ich war dann beim Casting auch in der letzten Auswahl der Zwillinge dabei. Auch da hat er sehr gut entschieden und ein großes Gespür für die Kinder an den Tag gelegt. Den Begriff „Regieanweisung“ hat es bei den Kindern einfach nicht gegeben und er hat sie dadurch sehr weit gebracht.

War es schwierig, Zwillinge in diesem Alter und mit dieser frappierenden Ähnlichkeit zu finden?
Christian Berger: Sie haben unzählige Schulen in Ungarn abgeklappert und viele Kandidaten gefunden. Drei Paare kamen dann in die engere Auswahl. Den Ausschlag für die beiden gab dann das Proben. Es gab ein zweites Zwillingspaar, das uns von der Erscheinung eigentlich besser gefiel, die aber noch viel kindlicher waren. Was bedeutete, dass sie sich schwer konzentrierten, schwer Texte merkten und nicht lange bei der Sache waren. Das wäre nicht gegangen. András und László Gyémánt, die schließlich das Los zogen, waren zwei Jungen, die aufgrund ihrer Lebenssituation eine unheimliche Überlebensintelligenz mitbrachten. Sie begriffen in jeder Situation das Wesentliche, sie verstanden es auch, uns ein bisschen auszuspielen, wenn es darum ging eine Portion Schokolade mehr herauszuholen. 

In Anbetracht der Tatsache, dass es nur wenige Szenen gibt, wo sie nicht dabei sind, muss es für die Kinder wohl auch ein sehr intensiver Dreh gewesen sein.  Was heißt das für den Arbeitstag des Kameramanns?
Christian Berger: Sie waren durchgehend dran, wenn auch mit unterschiedlichen Intensitäten. Ich erinnere mich, dass sie einmal etwas verkühlt waren und wir mit Mühe nach Szenen suchten, die wir vorziehen konnten, wo sie nicht im Bild waren. Viel haben wir nicht gefunden. Mein Beitrag liegt darin, zu versuchen Vertrauen herzustellen, die Technik vergessen zu lassen, eine Atmosphäre zu schaffen, wo sie sich aufgehoben fühlen, damit es ihnen wiederum möglich ist, sich spielerisch hinzugeben. Ich denke nur an die sogenannte „Sexszene“, wo die Magd sie auffordert, zu ihr in den Bottich zu steigen. Ich hätte mich im Alter von dreizehn bis über den Kragen angemacht. Das wäre undenkbar gewesen. Es war auch für die beiden sehr schwierig, auch wenn wir die intimeren Szenen separiert haben. Aber ihre Blicke und Reaktionen waren authentisch und glaubwürdig. Das kann man selbst einem guten Schauspieler nur schwer ansagen, umso weniger einem Kind. Die beiden haben das phantastisch gebracht. Janos hat den Rhythmus des Drehs sehr stark nach der Verfassung der Kinder ausgerichtet. Manchmal blieb er länger an den Kindern und setzte die Erwachsenen erst nach. Und komischerweise haben wir dadurch nie Zeit verloren, aber immer Intensität gewonnen.

Ist es ein besonderes Moment für einen Kameramann, wenn er zwei „gleiche“ Gesichter zu filmen hat?
Christian Berger: Zwillinge haben ja oft nur auf den ersten Blick diese frappierende Ähnlichkeit. Wenn sie „leere“ Gesichter hatten, waren sie einander sehr, sehr ähnlich, in den Reaktionen hingegen haben sie vom Temperament her und auch im Ausdruck ganz getrennt gewirkt und sehr unterschiedlich ausgeschaut. Das fanden alle sehr schön. Ich habe die Entscheidung für Cinemascope forciert. Es ist im Buch ein ganz wesentlicher Punkt, dass die beiden Jungen alles ertragen, außer getrennt zu werden. Cinemascope macht es leichter, sie immer gemeinsam im Bild zu halten. Das ist uns gelungen, es sei denn, es gibt von außen einen zwingenden Grund. Beim Verhör reißt der Polizist sie auseinander, weil er merkt, das ist ihre wunde Stelle, oder bei der letzten Prüfung, die sie sich am Ende des Films auferlegen. Es ist mir jedenfalls noch nie passiert, dass sich ein Filmformat so schlüssig aus einem vergleichbaren Umstand abgeleitet hat.

Nicht nur die Kinder sind ein Element, die an Das weiße Band denken lässt, auch die Räume, die ohne elektrisches Licht auskommen. Wie schwierig war bei Das große Heft die Umsetzung von Szenen, die mit besonders wenig Licht auskommen sollten?
Christian Berger: Es war nicht schwierig, es war eher unbequem. Es erschwert das Drehen, aber was zählt, ist das Ergebnis. Der Bauernhof, wo wir drehten, war sehr arm, total verfallen und desolat, er bildete den Hintergrund, der das Drehen nicht leicht gemacht hat. Es war für mich nicht so schlimm, da wir überwiegend von außen leuchten. Ich schaue immer, dass die Sets weitgehend frei bleiben. Verstärkungen für Petroleumlampen waren auch immer wieder ein Thema, aber da waren wir ja trainiert nach Das weiße Band. Eher problematisch war, dass der Drehplan aufgrund der Kinder häufig sprunghaft gewechselt wurde. Man musste stets auf Tag, Nacht, Sommer, Winter eingestellt sein. Auch wenn morgens etwas auf dem Plan stand, konnte es mittags anders sein. Die Kinder sind nicht immer in der idealen Stimmung für eine Szene, dann zog János einfach eine andere vor. Solche Änderungen hat es oft gegeben, das ist für die Produktion schlimm, für uns war es nicht so arg. Wir haben immer alles auf Standby gehalten. Das ist auch eine gute Herausforderung, dass man wach bleibt und nicht so festgefahren agiert. 

In welchem Zeitraum konnten die vier Jahreszeiten untergebracht werden?
Christian Berger: Wir haben Ende Jänner begonnen, am 1. Mai war der Dreh zu Ende. Wir hatten Glück, es war weder ein langer noch ein heftiger Winter, es genügte, dass wir die wenigen Szenen mit Schnee glaubwürdig hinbrachten, der Frühling war gegeben und wir hatten auch ein paar heiße Tage, die frühsommerlich waren.

Wurde der Film zur Gänze in Ungarn gedreht?
Christian Berger: Den Hauptdreh – Bauernhof und rundherum – haben wir in Cegléd, eine gute Stunde südlich von Budapest, abgewickelt. Da haben wir auch die ganze Zeit gewohnt. Dort stand original das Bauernhaus, mit den Scheunen rundherum. Das war sehr gut ausgesucht, weil wir es uneingeschränkt zur Verfügung hatten und auch bauliche Eingriffe vornehmen konnten.
Der Wechsel der Jahreszeiten war sehr wichtig, um ein Gefühl von Dauer zu vermitteln. Die Zeitspanne von der Übersiedlung der Kinder aufs Land und dem Ende des Krieges dauert in der Geschichte undefiniert lange. Es braucht Zeit für Entwicklung, besonders für die Beziehung zwischen den Jungen und der Großmutter, bis sie alle auf ihre kleinen Geheimnisse draufkommen. Die Stadtaufnahmen haben wir in Sopron gedreht und einige Drehtage haben wir aufgrund der Koproduktionskonstellation in Thüringen absolviert, wo wir die Kirche gefunden haben und auch die Pfarrei, das Gasthaus und die Verhörsituation drehten.

Die Natur bildet einen sehr starken, hellen und schönen Kontrast zu diesen Innenwelten.
Christian Berger: Wenn ich mit meinen Studenten auf der Filmakademie arbeite, dann spiele ich für eine Übung gerne eine Bach-Kantate und bitte sie, die Bilder, die ihnen dazu einfallen, aufzuschreiben. Keine Situationen, sondern konkrete Bilder. In unserem Kulturraum kommt da fast reflexartig: November, Regen, fallende Blätter, Friedhof. Damit tut man meiner Meinung nach Bach und auch der Musik und der Kunst sehr unrecht. Bei einer Geschichte wie Das große Heft besteht die Gefahr, dass man, weil Krieg ist und die Zeiten schlimm sind, 1:1 diese Stimmung auch dekoriert – dunkel und regnerisch. Ich glaube, dass es eine viel stärkere Wirkung hat, wenn man zeigt, dass sich die Natur darum nicht schert. Es wird auch Frühling, wenn Krieg ist. Auch wenn die Soldaten an der Front fürchterlichste Sachen tun, so kommt ein Sonnentag oder ein Regentag oder es taut oder es liegt der Schnee. In Absprache mit János, der da sehr offen war, war ich sehr froh, dass wir das so umsetzen konnten, nämlich mit der Luftigkeit und Leichtigkeit, die die Situation der Zwillinge viel härter erscheinen lässt, als wenn wir alles im November hätten spielen lassen.

Eine weitere Ambivalenz ist auch im Verhältnis zur Großmutter zu spüren, das sich stark wandelt.
Christian Berger: Die Großmutter ist eingangs ein veritables Monster. Ich finde, da vollzieht sich eine sehr schöne Veränderung im Laufe der Geschichte – vielleicht sogar im Film ein bisschen stärker als es im Buch der Fall ist. Es wird in beide Richtungen die einzig mögliche menschliche Beziehung. Sie ist ja auch ein armes Würstchen und hat ihre Art der Zuwendung zu den Kindern. Es dauert, bis sie das zeigen kann und die Kinder brauchen ihre Zeit, bis sie das spüren und letztendlich mit ihr zusammen bleiben wollen. Bis hin zur Sterbehilfe, die ein Liebesdienst ist.

Wie hat das Publikum bei der Premiere in Karlovy Vary reagiert?
Christian Berger: Es war toll. Wann hat man schon einen Saal mit 1 300 Leuten und einer immensen Projektionsfläche, ich denke, es war eine 18m-Leinwand. Die ist natürlich auch gnadenlos und macht jeden Fehler sichtbar. Wir hatten auch noch nachgedreht, weil János noch mehr Erzählung einbringen wollte, wenn die Kinder ihr Tagebuch ausfüllen. Da vom Set nichts mehr da war, mussten wir mit Makro beschriebenes Papier filmen und die Behauptung aufstellen, die Kinder seien dabei, in ihr Tagebuch zu schreiben. Diese Passagen haben mich etwas beunruhigt, aber die Kritik war durchwegs positiv und die Reaktionen des Publikums auch und die beiden Preise, inklusive dem Crystal Globe, dem Hauptpreis in Karlovy Vary, natürlich auch. Der zweite Preis, das Europa Cinema Label, ist eine tolle Sache, denn es bedeutet eine gewisse Sicherheit in der Verwertung.

Bei unserem letzten Gespräch im Winter 2010 waren Sie gerade sehr stark in die Promotion Ihres Cine Reflect Lighting System CRLS involviert. Wie haben sich da die Dinge entwickelt?
Christian Berger: Ich muss gottseidank nicht als Verkäufer herumreisen, aber es steht selbstverständlich immer wieder im Mittelpunkt meiner Workshops und Seminare, weil dieses Lichtsystem meine Antwort auf mein Verständnis von Licht und mein Suchen nach Licht ist. Erst im Juni war ich damit in Moskau und anschließend in Espinho in Portugal für eine Master Class eingeladen und konnte dort, wo sehr viele junge Leute teilnahmen, mit Erleichterung feststellen, dass etwas wie eine Sättigung in der Werkzeug-Diskussion eingetreten ist. Ich habe dort plötzlich ein Einverständnis erlebt, dass die Frage nach der Technik hinten anzureihen ist und es zunächst um eine Suche nach dem „Wie“ in der Erzählung geht. Erst daraus kann sich die Frage nach den Werkzeugen ableiten.

Worin bewährt sich CRLS in einer Produktion wie Das große Heft?
Christian Berger: Es ist klein und flexibel, was bei János’ wenig vorhersehbarer Arbeitsweise ein großes Plus war, wir konnten uns schnell auf verschiedenste Situationen einstellen. Es ist sparsamer, weil es einfacher ist. Das Sparen ist sozusagen die natürliche Konsequenz. Und diese Reduktion schafft den Freiraum für die wesentlichen Anliegen –  dem Schauspieler einen Imaginationsraum zu schaffen, der Regie Flexibilität zu erlauben und der Kamera die Möglichkeit zu bieten, eine eigene Ästhetik zu schaffen.

Ihr nächstes Projekt wird wieder mit einem österreichischen Filmemacher entstehen: Die Nacht der tausend Stunden von Virgil Widrich.
Christian Berger: Eigentlich wollte ich jetzt an einem Buch über Wahrnehmung arbeiten. Nun ist doch wieder ein Film zuvorgekommen. Virgil Widrich kenne ich schon seit Anfang/Mitte der achtziger Jahre, wo er mit Super-8 gearbeitet hat. Das war lang vor Copy Shop und er war schon damals fasziniert von den magischen Möglichkeiten des Filmvokabulars.
Trickfilm ist von der Technik her gar nicht mein Ding. Sein Drehbuch, Die Nacht der tausend Stunden, ist allerdings eine sehr interessante Geschichte – lustig erzählt, stilistisch und technisch hochinteressant. Ich glaube nicht, dass es da ein Vorbild gibt. Hier scheint definitiv Neuland betreten zu werden. Für uns Beteiligte sowieso.

Wie sieht dieses Neuland aus?
Christian Berger: Die Situation ist so, dass real mit Schauspielern inszeniert wird. Es spielt alles in einem sehr weitläufigen, großbürgerlichen Haus. Dieses Haus wird es nicht reell, sondern nur virtuell aus vorproduzierten Rückprojektionen geben. Wir sprechen hier nicht von Green-Screen, wo im Nachhinein etwas zusammengefügt wird. Das wäre langweilig. Als Kameramann will ich schauen und beobachten können. Die Idee ist die, dass man über Rückpro-Leinwände ein Set „baut“ das möglichst „normal“ wirkt, das aber viele Chancen auf dramaturgisch erwünschte und sinnvolle Irritationen bietet. Man muss eine Szene beleuchten, der Hintergrund ist aber virtuell. Die Geschichte verläuft so, dass eine Generation nach der anderen von den Toten zurückkehrt und sich in einen großen Erbschaftsstreit einmischt. Mit dem Zurückkommen der Generationen wird auch das Haus langsam älter. Das soll alles unmerklich verlaufen. Meine Assoziation war spontan Rosemary’s Baby, wo man falsche Perspektiven gebaut hat. Heute kann ich mit 3D-Modellen im Hintergrund operieren. Da hat Virgil viel Erfahrung und gute Mitarbeiter, die sich computer-technisch sehr gut auskennen. Mit ihnen muss ich mich nun zusammentun und versuchen, reale und virtuelle Beleuchtung zusammenzubringen und dramaturgisch dienliche Irritationen zu erzeugen, die übers Licht, über Bewegungen oder die Zeit gehen. Die Herausforderung wird darin liegen, dass man das so hinbekommt, dass man es kaum merkt oder höchstens als eigenartig wahrnimmt. Das ist sehr reizvoll.

Wie kann man sich konkrete Bilder vorstellen?
Es ist eine sehr ungewöhnliche Vorgangsweise, einerseits durch Fotos, vielleicht auch durch digitale Filmsequenzen, dass man reale Räume aufnimmt und sie so zerlegt oder montiert oder bearbeitet oder in 3D-Modelle verwandelt, dass z.B. der Schauspieler stehen bleibt, man aber den Eindruck bekommt, dass er sich bewegt, weil sich die Perspektive im Hintergrund verändert. Wir werden in einer ersten Testphase die Grenzen ausloten, was geht und was nicht, ich denke an Spiegelungen, an „falsche“ Schattenspiele und solche Dinge. Die Grundidee liegt darin, das Set zu ersetzen und zwar nicht um zu sparen, sondern um eine stärkere Wirkung zu erzielen. Ich kenne diesen Ansatz natürlich als Einzelanwendung und Effekt, aber nicht als Prinzip für einen ganzen Film. Ich vertraue da der poetischen Kraft des Virgil Widrich.

Interview: Karin Schiefer

Juli 2013