INTERVIEW

«Was ist Normalität? Was ist Behinderung?»

Resultate der Pränataldiagnostik stellen im Falle von Anomalien werdende Eltern vor einen schwerwiegenden Entschluss. Thomas Fürhapter hat in Die dritte Option diese freie Entscheidung aus dem individuellen Schicksalsgefüge gelöst und in einem stringenten formalen Ansatz den gesellschaftlichen Konsens über Normalität und Behinderung wie auch die Qualität der Freiheit in einer von Optimierungs- und Normierungsstreben geprägten Gesellschaft hinterfragt. Ein Gespräch mit dem Regisseur.
 
 
Den Anstoß zu Ihrem Essay Die dritte Option liefert die Pränataldiagnostik, ein medizinisches Verfahren, das sich zum Ziel setzt, das Unvorhersehbare vorherzusehen, das Unsichtbare sichtbar machen. Was hat Sie veranlasst dieses Thema, das nur einen Teil der Gesellschaft – die werdenden Eltern betrifft – mit filmischen Mitteln in eine breitere Sichtbarkeit zu rücken?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Ich glaube nicht, dass es nur wenige betrifft. Es betrifft uns alle. Was weniger gerne in den Vordergrund gerückt wird, ist der Umstand, dass Pränataldiagnostik ja dazu da ist, die „Guten“ von den „Schlechten“ zu unterscheiden. Es wird damit ja auch entschieden, wer leben soll und wer nicht, und damit, wer Teil unserer Gesellschaft werden soll und wer nicht. In den grundlegenden Parametern, die darüber Auskunft geben, was Behinderung bzw. was Normalität ist, werden ja auch gesellschaftliche Diskurse wirksam. Wenn das Thema in den Mainstream-Medien auftaucht (was selten genug der Fall ist), habe ich allerdings beobachtet, dass es meist auf den individuellen Entscheidungsaspekt der Eltern und auf die moralische Frage des Falsch oder Richtig reduziert wird. Mich interessierte vielmehr die Frage, wofür oder wogegen Frauen/Eltern sich entscheiden müssen: Was ist Normalität? Was ist Behinderung? Welche Mächte und Kräfte sind hier wirksam? In die Beantwortung dieser Fragen spielen natürlich das aktuelle Menschenbild, der Stand der Wissenschaft, der Medizin und ökonomische Aspekte hinein, es ist vor allem ein Symptom für das, was Michel Foucault Biopolitik genannt hat.
 
 
Kaum jemand spricht über die emotionale und ethische Wucht mit der Eltern/Mütter konfrontiert werden, die vor der Entscheidung stehen, eine Schwangerschaft aufgrund einer medizinischen Indikation abzubrechen. Wie haben Sie entschieden, Betroffene/Schicksale in den Film aufzunehmen?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Mein Ansatz war, dieses Thema vom individuellen Erleben herauszulösen und in einem gesellschaftlichen Kontext zu positionieren und die Frage aufzuwerfen, wie funktioniert das im diskursiven Sinn? Auf welchen Grundlagen werden da Entscheidungen gefällt? Ich habe – neben einer Reihe von Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Kulturwissenschaftler/innen – mit drei Frauen und einem Paar Interviews geführt, die sich für einen Spätabbruch entschieden haben. Dass ich diese Personen im Film nicht zeige, hat mehrere Gründe. Zum einen wollte ich die unmittelbare Emotion etwas herausnehmen. Einige von meinen GesprächspartnerInnen – und zwar nicht nur Betroffene – hätten mir vor der Kamera kein Interview gegeben. Ich habe die Audio-Interviews transkribiert und von Schauspielern sprechen lassen, dies auch aus einem formalen Ansatz heraus, dass ich mich im filmischen Arbeiten ganz grundsätzlich für das Verhältnis zwischen Ton- und Bildebene interessiere. Da kann ich mit einem Bild und einer Off-Stimme interessante Bezüge herstellen.
 
 
Auf eine Frage verweist Die dritte Option sehr vehement, nämlich, wie sehr wirtschaftliche Faktoren der Normierung und Optimierung längst auch den menschlichen Bereich erfasst haben. Wieviel Norm fordert die aktuelle Gesellschaft ein? Wieviel Zwang zur Optimierung hat sich die Allgemeinheit längst freiwillig auferlegt?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Es ist ja nicht so, dass der Gesetzgeber die Eltern zwingt, das Kind abzutreiben. Die Entscheidung steht den Eltern frei, sie wird aber vor dem Hintergrund einer enormen Macht der Norm getroffen. In dieser Entscheidung, die aus „freiem Willen“ getroffen wurde, äußert sich ein profundes Bedürfnis normal zu sein. Wenn das Kind der Norm nicht entspricht, tut man das ja als Eltern in abgeschwächter Form auch nicht. Die Macht der Norm ist in diesem Kontext sehr hinterhältig. Sie tritt nicht als Befehl auf, sondern als freie Willensäußerung. Das macht sie so effizient. Rund um die Pränataldiagnostik mache ich im Film ein ganzes Set an Optimierungsmechanismen sichtbar, ich denke da u.a. an den Komplex Fitness – , denen sich unsere Gesellschaft freiwillig unterwirft und die gleichzeitig ins Bewusstsein drängen, wie unmöglich die Teilhabe daran ist, für den Fall, dass man sich für ein behindertes Kind entscheidet. Menschen mit Behinderung haben in einem weiten Feld unserer Gesellschaft keinen Platz, auch wenn sich da in den letzten Jahren einiges für die Integration von Behinderten in öffentlichen Lebensbereichen wie Schulen, Kindergärten etc. getan hat. Die Möglichkeit eines selektiven Schwangerschaftsabbruch suggeriert den Schluss, dass die Vermeidung eines behinderten Kindes, die bessere Entscheidung ist. Ich glaube nicht, dass da auf Paare oder Mütter noch Druck ausgeübt wird.
 
 
Wenn Norm ein Thema ist, dann braucht es auch die Grenze zur Anomalie. Wo ist die Grenze, wo die Abweichung von der Norm in die Ausgrenzung kippt. Stehen Postulate nach einer inklusiven Gesellschaft eigentlich im Widerspruch zu realen Tendenzen?
 
THOMAS FÜRHAPTER: So genau kann man das nicht sagen. Von gesetzlicher Seite gibt es Definitionen und Abstufungen über den Grad der Behinderung, der in einem Prozentsatz ausgedrückt wird. Eine starre Grenze zwischen „normal“ und „nicht normal“ gibt es nicht. Zentral scheint mir aber der Gedanke, dass Behinderung überhaupt als negative Abweichung von Normvorstellungen gedacht wird, als Zuschreibung, als ein diskursiv hergestelltes Narrativ. Ohne die Vorstellung eines normalen Körpers, kann es Behinderung gar nicht geben. Ich erachte es als sehr positiv, dass es Integrations- und Inklusionsmaßnahmen gibt. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren auch sehr viel getan. Andererseits: Inklusions- und Integrationsbemühungen verbessern zwar die unmittelbare Situation von Menschen mit Behinderungen, aber sie stellen die Kategorie Behinderung nicht in Frage, sondern sie verfestigen sie eher, weil Integration und Inklusion Behinderung ja braucht. Exklusion macht so etwas wie Inklusion überhaupt erst möglich und auch nötig.
 
 
Ihr Blick in Die dritte Option scheint auch eine ironische Note zu transportieren, wenn er sich auf den Wirtschaftsfaktor „werdende Eltern/werdendes Kind“ richtet oder den Fitnesskult und das lebenslange Bestreben, den Körper zu optimieren?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Man muss vielleicht darüber schmunzeln. Es war aber nicht meine Absicht, etwas zu ironisieren. Das hat sich erst in der Schnittphase so ergeben, als Bild und Sprache aufeinandergetroffen sind. Der Film erzählt ja auf der Bildebene eine glückliche Schwangerschaft, in der bis zur Geburt alles glatt verläuft, auf der Tonebene genau das Gegenteil. In diesem Kontrast entsteht etwas, das man vielleicht Ironie nennen könnte. Vielleicht kann man den Film – zumindest streckenweise – als umgekehrten Behindertenwitz lesen, weil man ja nicht über „die Behinderten“, sondern über uns „Normale“ schmunzeln kann/muss. Es ist mir darum gegangen, den Blick auch immer wieder umzukehren, nicht auf Behinderung zu starren, sondern die Mehrheitsgesellschaft selbst in den Blick zu nehmen. Mit dem Feststellen der Schwangerschaft kommt eine Optimierungslogik in Gang – gesunde Ernährung, genügend Bewegung, Entspannungskurse vor, Schwimmkurse nach der Geburt, etc. Es fällt im Film der Satz, wonach mit der Pränataldiagnostik die Frau zum fetalen Umfeld degradiert wird. Sie muss das perfekte Umfeld herstellen und sich fit halten, damit der Nachwuchs optimal gedeihen kann. Man kann den Abbruch auch als Teil der Optimierungslogik sehen. Wenn es auszuschließen ist, dass das Ungeborene ein normales Leben haben kann, dann ist der Tod ein Mittel, um dem Imperativ der Lebensoptimierung zu genügen.
 
 
Mit Emotion versuchen Sie in diesem hochemotional besetzten Thema auf sehr eigene Weise umzugehen: Sie konterkarieren Extreme auf der Bild- und Textebene oder lassen die Bilder ganz alleine für sich sprechen. Wie sahen Ihre Überlegungen zum Thema Emotion aus? War dies eher eine Schnitt- oder eher eine Konzept-/Drehfrage?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Es war beides. Etwas Hochemotionales, das ostentativ nüchtern ausgesprochen wird, wirkt manchmal viel stärker. Es ist ein stilistisches Mittel, das ich als sehr reizvoll erachte. Ich mag es weder bei Dokumentar- noch bei Spielfilmen, wenn vordergründig zu sehr auf die Gefühle gedrückt wird. Wenn man Emotion stilistisch rausnimmt, wird sie vielleicht in ihrer Wirkung stärker, weil zwischen dem Wie und dem Was gesagt wird, etwas nicht stimmt. Es war von Anfang an klar, dass ich bei diesem emotional sehr vorbelasteten Thema die Emotionen etwas abfangen wollte, damit das Publikum nicht erschlagen wird. Mein Ziel war ja nicht, dem Publikum eine emotionale Breitseite zu verpassen, sondern mit genuin filmischen Mitteln das Denken anzuregen.
 
 
Warum kommen die Stimmen ausschließlich aus dem Off?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Das hat mehrere Gründe. Zum einen ging es mir nicht um Personen, sondern um Diskurse bzw. eine Kritik an bestimmten reduzierenden und banalisierenden Diskursen. Ein anderer Grund war die Gestaltbarkeit des Textes. Und nicht zuletzt ging es mir darum, mit dem Wahrheitsanspruch des Dokumentarfilms zu spielen. Eine der klassischen Spielregeln im Dokumentarfilm wäre, die Originalstimmen einzusetzen, am besten diese Person im Bild zu zeigen und auch noch zu erklären, um wen es sich handelt. Die Echtheit, die einem durch ein Originalinterview signalisiert wird, wird in meinem Film durch den Einsatz von Schauspieler/innenstimmen unterlaufen, um dem Ganzen auch einen fiktionalen Drall zu geben. Es ging mir auch darum, den klassischen Gestus des Dokumentarfilms auszuhebeln. Es ging mir sozusagen darum, die Inszenierung, die ja jedem Dokumentarfilm eignet, sichtbar zu machen.
 
 
Kontrast ist in Die dritte Option ein bestimmendes Erzählmittel, u.a. mit einer komplikationslosen Schwangerschaft und einer, die mit einem Abbruch durch Fetozid endet. Nun impliziert die dritte Option auch eine erste Option – Heilen und eine zweite – Lindern. Wie sehr sind Sie in Ihrer Recherche auch der Grauzone begegnet, wo die Eltern in einem großem Dilemma sind, weil die Medizin weder in die eine noch in die andere Richtung Gewissheit geben kann?
 
THOMAS FÜRHAPTER: Bei einigen meiner Interviewpartner/innen war die Schwere der Beeinträchtigung ein wichtiges Thema. Ich habe von Fällen gehört, bei denen Fehlbildungen diagnostiziert wurden, die Eltern sich aber trotzdem gegen einen Abbruch entschieden haben, und dann ein völlig „normales“ Kind bekommen haben. Umgekehrt gibt es das wahrscheinlich auch. Ich denke, dass das es sich immer um Schätzungen und Prognosen handelt. Das sagen die Ärzte zum Teil auch. Was auf alle Fälle sichtbar wird, ist die Grenze unserer Allmachtsphantasien, unseres Bedürfnisses nach Kontrolle und Machbarkeit.
Ich würde abschließend gerne noch etwas zum Titel sagen. „Die dritte Option“ ist ein Zitat aus dem Film, bei dem es sozusagen um die Exklusivität des pränatalen Tötens geht. „Die dritte Option“ kann aber auch anders gelesen werden, als Alternative zu einer binären Logik von normal/behindert oder gesund/krank usw. Vielleicht gibt es ja noch etwas, das jenseits davon liegt, etwas Drittes, das weder das Erste noch das Zweite ist, und das vielleicht noch gar nicht so klar ist: in der Dekonstruktion von solch binären Kategorien liegt für mich auch die Utopie dieses Films.


Interview: Karin Schiefer
March 2017
«In der Dekonstruktion von solch binären Kategorien liegt für mich auch die Utopie dieses Films.»