INTERVIEW

«Ich wollte einen Perspektivenwechsel.»

In Die beste aller Welten erzählt Adrian Goiginger ungeschönt von seinen Kinderjahren in der unheilen Welt einer Junkiewohnung und von seiner Mutter, die im Chaos ihrer eigenen Sucht den Raum für eine gute Kindheit zu schaffen verstand.
 
 
 
Welche Für und Wider beschäftigen einen, wenn man mit dem Gedanken spielt, einen Teil seiner eigenen (vielleicht schmerzhaften) Geschichte zu erzählen. Was gab den Ausschlag für das „Für“?
 
ADRIAN GOIGINGER: Die Initialzündung war gewiss der Tod meiner Mutter im Jahr 2012. Ich begann sehr viel über meine Mutter, meine Erziehung nachzudenken und mir wurde dabei bewusst, wie krass die Geschichte meiner Kindheit ist. Zum anderen aber auch die für die meisten Menschen unvorstellbare Tatsache, dass man auch mit einer schwer drogensüchtigen Mutter eine sehr schöne Kindheit haben kann. Da ich das am eigenen Leib erlebt habe, schlicht und einfach gesund herausgekommen bin und es wahrscheinlich nur wenige Menschen gibt, die diese Erfahrung machen und diese auch reflektieren können, wurde in mir ein Gefühl stark, dass ich es der Welt in gewisser Weise schuldig bin, meine Geschichte zu erzählen. Es hatte auch den ganz praktischen Vorteil, dass ich für meinen ersten Spielfilm kaum recherchieren musste, ich konnte auf meine Erinnerungen zurückgreifen und es machte auch Spaß, einen so persönlichen Film zu erzählen. Dass mein Produzent Wolfgang Ritzberger in mich als 24-Jährigen so großes Vertrauen hatte, kann ich ihm nicht hoch genug anrechnen.
 
 
Stand hinter diesem Film als Bekenntnis zu einer guten Kindheit auch das Bedürfnis ihrer Mutter eine Hommage zu erweisen?
 
ADRIAN GOIGINGER: Der Film ist meiner Mutter gewidmet. Ich ziehe immer noch den Hut vor ihr, weil es mir noch immer ein Rätsel ist, wie sie das gemeistert hat. Ich kenne viele ehemalige Drogensüchtige, deren Kinder sehr vernachlässigt waren, im Jugendheim gelandet sind oder ganz einfach ohne Fürsorge groß wurden. Das war bei mir nie der Fall. Dass sie das trotz ihrer Drogensucht, der Arbeitslosigkeit und der unzähligen Druckpunkte von außen geschafft hat, erscheint mir eine gewaltige Leistung. Hut ab!
 
 
Von einer verstorbenen Mutter und der eigenen Kindheit zu erzählen, dies zum Teil gemeinsam mit dem Stiefvater, dessen eigene Geschichte die eines ehemaligen Drogensüchtigen ist. Das alles klingt nach einer emotional sehr fordernden Situation:
 
ADRIAN GOIGINGER: Ich habe vor dem Dreh mit allen Betroffenen sehr klar gesprochen: Ich kann die Geschichte nur so wiedergeben, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Wenn dabei jemand schlecht wegkommt, dann tut es mir leid. Bei einigen habe ich die Namen geändert, vor allem, wenn sie nicht mehr am Leben sind, um die Hinterbliebenen nicht zu belasten. Prinzipiell erzähle ich die Geschichte, wie ich sie im Kopf trage; ich habe aber vor allem bei der Figur des kleinen Jungen versucht, das anzunehmen, was er in seine Rolle eingebracht hat. Ich habe ihn nicht in eine Schablone gepresst.
 
 
Wie nahe waren Ihnen die Erinnerungen an die Kindheit, besonders an diese entscheidende Phase, als Sie sieben Jahre alt waren? Welche Emotionen  
verbinden Sie mit dieser Zeit?
 
ADRIAN GOIGINGER: Die Erinnerungen waren mir sehr nahe. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mein Umfeld so extrem war. Ich hätte ja auch alles verdrängen können. Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall. Es war mir sehr wichtig zwischen filmischer Wahrheit und filmischer Wahrhaftigkeit zu unterscheiden. Ich wollte ja keinen Dokumentarfilm machen. Es gab schon Szenen, die beim Dreh so gut funktioniert haben, dass ich da auf sehr heftige Weise in meine Kindheit zurückgeworfen wurde. Das war sehr emotional und ich musste mich sehr zusammenreißen, da professionell zu bleiben.
 
 
Wie sehr bestimmten Realität, die Erinnerung mit ihren Ungenauigkeiten und schlicht dramaturgische Notwendigkeiten den Drehbuchprozess? Wie sehr fließen Realität und Fiktion ineinander?
 
ADRIAN GOIGINGER: Als ich im September 2013 vom ÖFI die erste Förderung bekam, schrieb ich, wenn auch in Szenenform mit ausformulierten Dialogen, alles nieder, was mir an Erinnerung durch den Kopf ging. Ich denke, es waren 160 Seiten und dann begann die berühmte Arbeit am Granitblock, bis eine Skulptur vor einem steht. Am Anfang war hinsichtlich der Story noch nicht alles klar: Ich hatte zunächst an die Geschichte eines Jungen gedacht, der auf die schiefe Bahn gerät. Bald war mir aber klar, dass die interessanteste Figur die Mutter ist und ich ihr Leben aus der Sicht des Kindes erzählen wollte. Bei der ersten Version hatte ich noch eine etwas abgefahrenere Geschichte, eher in Richtung Contact High z.B. im Sinn. Durch die Konzentration auf die Mutter ist es ein viel persönlicherer Film geworden. Das Verhältnis Realität und Fiktion würde ich bei 90:10 ansiedeln. Die großen Ereignisse – dass ich die Wohnung in Brand gesetzt habe, dass ein Dealer in der Wohnung gestorben ist, die Episode mit dem Wodka, die Besuche des Jugendamts ... das alles ist wirklich passiert. Das einzige, was ich dramaturgisch zugespitzt habe, ist das Ende. Die Charaktere sind alle zu 100% aus dem Leben gegriffen.
 
 
Wie entstand die Idee, dass es bei so viel Realität auch filmisch eine Flucht in Phantasiewelten geben musste.
 
ADRIAN GOIGINGER: Ich mag weder Studio-Drehs noch CGI-Bilder. Wir drehten daher alles in tatsächlich heruntergekommenen Wohnungen am Salzburger Stadtrand und die einzigen computergenerierten Bilder sind die Explosion des Dämons und die spanische Küste. Die anderen Bilder sind alle echt, sogar den entflammten Pfeil haben wir mit einem Zündmechanismus gebaut. In den Phantasiebildern mit den Monstern sehe ich vor allem einen Weg für den siebenjährigen Jungen, die Welt, in der er lebt, zu verarbeiten. Wie sollte er sonst damit klar kommen? Indem er sich selbst den Auftrag gibt, Abenteurer zu sein, bekommt alles eine Logik. Anders würde er verrückt werden.
 
 
Fast bis zur Hälfte bleibt der Film ohne äußeres Sozialleben wie Schule, Gleichaltrige etc. Warum spielt diese äußere Welt eine so geringe Rolle?
 
ADRIAN GOIGINGER: Ich wollte eine möglichst authentische Milieustudie machen. Ich habe noch keinen Film über das Drogenmilieu gesehen, der nicht irgendwo ein bisschen zu dick aufträgt. Vor allem wollte ich die Angst davor nehmen und es auch nicht abstoßend darstellen. Im Film gibt es weder herumliegende Spritzen noch Blut. In der Szene der Geburtstagsparty, wo Eltern ein Kind abholen kommen, wollte ich, dass man sich als Zuschauer den Junkies emotional viel näher fühlt, auch wenn das Gros der Zuschauer vom Lebensstil her sehr wahrscheinlich den Eltern näher steht. Da wollte ich eine Perspektivenumkehr. Ich habe dahingehend viel erlebt, mit einem Freund z.B. durfte ich mich nicht mehr treffen, weil es die Eltern verboten haben. Das wäre auch ein spannender Aspekt gewesen, aber für einen anderen Film. Ich wollte nicht den Anfängerfehler begehen, zu viel in meine erste Geschichte hineinzustecken. Mein Fokus galt der Beziehung zwischen Mutter und Sohn.
 
 
Eine der Stärken des Films sind seine Dialoge, die einerseits von einer großen Natürlichkeit sind und andererseits von einer Stimmigkeit innerhalb der Kinderwelt sein mussten. Ist hier viel auch dem Darsteller des Jungen Jeremy Miliker und der Hauptdarstellerin Verena Altenberger zu verdanken?
 
ADRIAN GOIGINGER: Nach der Zusage für die Herstellungsförderung war mir klar, dass alles mit der Besetzung des Jungen stehen und fallen würde. Hätten wir ihn nicht gefunden, hätten wir das Geld wieder zurückgegeben. Ich wollte den Film unbedingt im Salzburger Dialekt drehen. Damit schränkte sich der Kreis fürs Casting sehr stark ein. Wir haben an die 200 Kinder gecastet. Der Zuschlag ging mit wehenden Fahnen an Jeremy. Er hatte weder Erfahrung noch war er der Fleißigste beim Lernen und Wiedergeben des Textes, aber er hatte eine entscheidende Gabe: er konnte sich intuitiv in Situationen hineinversetzen. Ich gab ihm auch Dialog zu lernen, habe aber an den Drehtagen die Situation immer leicht abgeändert, damit er frei spielen konnte. Mit Jeremy hatte ich an die 35 Probetage, mit Verena Altenberger ca. 70. Beide haben auch gemeinsam etwas in der Freizeit unternommen und hatten wirklich eine nahe Beziehung zueinander. Verena ist außerdem richtig in die Salzburger Junkie-Szene eingetaucht und hat ganze Tage mit den Leuten dort verbracht. Da gehört auch Mut dazu. Man merkt es dem Spiel aber auch an. Ich bin sehr stolz auf ihre tolle Leistung.
 
 
Die Kamera ist eine sehr unruhige, durch die Enge der Wohnung zwangläufig auch nahe Kamera. Was hat Sie zu diesem Ansatz bewogen?
 
ADRIAN GOIGINGER: Von dem Moment an, wo ich beschloss, den Film aus der Kinderperspektive zu erzählen, habe ich dem alles untergeordnet. Ich wollte keine Point-of-view-Erzählung machen, aber immer nahe am Kind dran sein. Unsere Kameramänner Yoshi Heimrath und Paul Sprinz waren die Leidtragenden. Yoshi musste mehrmals wegen seiner Rückenschmerzen, die eine Folge der Kameraarbeit waren, zum Arzt. Unser Ziel war, dieses Milieu aus der Sicht eines Kindes zu zeigen. Wir haben auch die Ausstattung so eingerichtet, dass die Kamera immer 360° Bewegungsfreiheit hatte. Ein Kind bewegt sich ja ständig, dreht plötzlich den Kopf ... und die Kamera muss mit. Jeremy hat dieses Dispositiv jedenfalls eine unheimliche Freiheit gegeben. Und wir wollten ja die Welt öffnen und nicht unsere Darsteller in einen starren Kamerarahmen einsperren.
 
 
Mit welchen Augen haben Sie nun selbst den Film bei seiner Uraufführung bei der Berlinale betrachtet?
 
ADRIAN GOIGINGER: Vor der Uraufführung des Films in Berlin habe ich bei jeder Sichtung auf technische Details achten müssen, da war die Emotion ausgeblendet. Bei der Premiere war dann so viel Trubel vor, nach und auch während dem Film (mein achtjähriger Hauptdarsteller Jeremy saß neben mir und kommentierte den gesamten Film für mich noch einmal live mit), dass ich es nicht wirklich genießen konnte. Außerdem war ich viel zu sehr mit dem Beobachten der Publikumsreaktionen beschäftigt. Werden sie lachen? Werden sie erschrecken? Werden sie gelangweilt sein und ihr Handy rausnehmen? Wahrscheinlich brauch ich noch mehr zeitlichen Abstand, um auch selbst berührt von dem Film zu sein.



Interview: Karin Schiefer
Februar 2017
«Wahrscheinlich brauche ich noch mehr zeitlichen Abstand, um auch selbst berührt vom Film zu sein.»