INTERVIEW

«Die Verhältnisse funken dazwischen.»

Für Anna stehen die Zeichen auf Veränderung. Sie ist zwölf, wechselt gerade die Schule, entdeckt neue Chancen und auch deren Preis. WENN DU ANGST HAST NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST ist Titel und Programm zugleich. Denn in der Welt von Marie Luise Lehners Langfilmdebüt sind die gesellschaftlichen Verhältnisse so, wie wir sie kennen und doch ein bisschen anders, ein bisschen sanfter, ein bisschen entspannter und offener, die Dinge aus einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten.

 

Anna, die Protagonistin, ist neu an einem renommierten Gymnasium. Es ist kein Schulwechsel, der durch eine Übersiedlung bedingt ist, sondern einer, der ihr Türen für einen sozialen Aufstieg eröffnen soll. Anna ist außerdem zwölf, mitten in einer Phase der inneren und äußeren Transformation. Ist der Aspekt des Übergangs in vielerlei Hinsicht das zentrale Thema Ihres ersten Langfilms?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Transformation ist ein schönes Thema und auch ein wichtiges Thema dieses Films. Viele Filme erzählen von einer Person, die sich aus einer eigenmächtigen Entscheidung über die (vielleicht hemmenden) Verhältnisse hinwegsetzt um das Ziel, das sie sich in den Kopf gesetzt, hat zu erreichen. Es dominiert ein Narrativ, das sagt: Du musst nur wollen, dann kannst du es schaffen. Gesellschaftliche Verhältnisse werden oft nicht genau erzählt. In WENN DU ANGST HAST NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST GEHT ES NUR in zweiter Linie, weniger um die Reise einer Figur an ein Ziel, das sie sich gesetzt hat. In erster Linie geht es hier um Verhältnisse. Das Erkennen der eigenen Position in diesen. Die Figuren haben einen jeweils unterschiedlichen Status in der Gesellschaft. Werden darin gezeigt und ernst genommen.
 
 
In Annas neuem Umfeld ist das soziale Gefälle klar spürbar. Dennoch zeigt Ihr Film keine starken Dominanzverhältnisse, keine ausgeprägten Antagonist:innen. Warum ist das so?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Es gibt Machtverhältnisse, aber kein eindeutiges Gut und Böse. Alle agieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die reichen Kinder laden Anna zur Geburtstagsparty ein und während sie ein Teil von ihnen sein könnte, wird sie es nicht. Weil sie z.B. kein gekauftes, sondern ein selbst gemachtes Geschenk hat. Weil sie in der Wohnung feststellt, wie lange der Esstisch ist, wie man stufenlos die Helligkeit der Lampen verändern kann und dabei den Unterschied zu ihrem eigenen Zuhause spürt. Sie ist ein Fremdkörper. So ist es bei Klassenunterschieden, dass die Leute, die nicht reingehören, sehr stark spüren, dass sie nicht reingehören. Und die reicheren Leute, nicht verstehen, dass sich die „ärmeren“ ständig anpassen müssen. Zum Beispiel in einem zu teuren Lokal etwas Billiges bestellen, weil sie „nicht so hungrig sind“. Oder, wie im Fall von Anna, die einen gefälschten Markenpullover in der neuen Schule trägt. Die Kinder sind alle lieb. Der soziale Unterschied ist in meinem Film kein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Problem.
 
 
Soziale Scham ist ein wesentliches Thema. Sie zeichnen Anna dennoch als sehr selbstbewusstes Mädchen, das sich zwischen den Welten bewegt, ohne ihren inneren Halt zu verlieren. 
 
MARIE LUISE LEHNER:
Ich wollte erzählen, dass sie stolz in den Film hereinkommt und am Ende stolz rausgeht. Im Laufe der Erzählung wird sie mit der Scham konfrontiert. Sie ist eine selbstbewusste, starke Person. Die Scham kommt nicht aus ihr, die Scham wird durch das neue Umfeld an sie herangetragen. Sie strauchelt und findet aber zurück zu ihrem Selbstvertrauen, weil sie das Rüstzeug dazu hat, dank der schönen Beziehung, die sie mit ihrer selbstbewussten Mutter hat. Mich hat interessiert, von Leuten zu erzählen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles so gut machen, wie sie können. Aber Die Verhältnisse funken dazwischen. Bei Anna mit ihrer alleinerziehenden, gehörlosen Mutter, geht es nicht um eine sozial verrohte Unterschicht, sondern um eine Person, die aufgrund der Verhältnisse ausgegrenzt wird. Ist es Klasse? Ist es Ableismus? Ist es Rassismus? Vielen gehörlosen Menschen in Österreich ist eine höhere Schulbildung verwehrt. Die Darstellerin Mariya Menner zum Beispiel, die die Mutter spielt hatte riesiges Glück, dass sie eine Lehrerin in ihrer Schulzeit hatte, die entgegen der österreichischen Gesetzeslage in ihrem Unterricht gebärdet hat. Erst seit 2005 ist Österreichische Gebärdensprache laut Gesetz ausdrücklich als eigene Sprache anerkannt. Erst ab dem Schuljahr 2024/25 traten neue Lehrpläne in Kraft, wonach die Österreichische Gebärdensprache im Regelschulwesen gelehrt werden kann. Für Menschen wie Annas Mutter ist der Zugang zur Bildung eine Frage der Sprache und nicht der intellektuellen Fähigkeiten. Gesellschaftlichen Verhältnisse führen oft dazu, dass Menschen nicht das erreichen, was sie könnten, obwohl sie schlaue, kompetente und liebevolle Menschen sind.
 
 
Die zentralen Drehorte sind die öffentliche Schule und große Wohnanlagen am Stadtrand. War es Ihnen wichtig, an Orten der gesellschaftlichen Vielfalt zu drehen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Die Schule ist der Altersgruppe meiner Protagonistin geschuldet, sie ist für Jugendliche das zentrale soziale Umfeld. In der Wohnanlage wollte ich drehen, weil schöne und große Wohnanlagen zu den tollen Dingen, die es in Wien gibt, gehören. Für Kinder und Jugendliche ist die Wohnanlage ein Ort, an dem sie sich viel freier bewegen können als anderswo. Sie können sich besser selbständig beschäftigen und untereinander treffen als in einem Stadthaus. Es hat mir sehr gefallen, wie viele Menschen wir auf unseren Wegen durch die Wohnanlage kennengelernt haben. Es gibt auch dokumentarische Bilder im Film, für die wir Menschen gefragt haben, ob wir sie im Hof filmen dürfen. Es waren immer viele Kinder da, während wir gedreht haben, sie haben mit uns getratscht, sich Requisiten zum Spielen ausgeborgt, das Equipment angeschaut und sich gefreut, dass in ihrem Hof etwas passiert.
 
 
Sie zeigen die Schule in erster Linie als Ort, wo soziale Unterschiede spürbar werden, als Leistungsinstitution ist sie weniger präsent. Warum haben Sie denn diesen Aspekt eher ausgelassen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Mich hat alles, was außerhalb der Unterrichtszeit stattfindet, mehr interessiert. Anna kommt aber an einen Punkt, wo sie in Mathe nicht mehr mitkommt, da werden erste Brüche zwischen ihr und ihrer Mutter spürbar. Auch wenn Anna in der NMS eine sehr gute Schülerin war, heißt das nicht, dass sie im Gymnasium gut mitkommt. Gymnasien sind so ausgelegt, dass die Eltern zu Hause helfen oder Geld für Nachhilfe ausgegeben müssen. Annas Mutter kann das nicht leisten. Nicht nur der Leistungsanspruch der Schule zieht eine Entfremdung zwischen Mutter und Tochter ein. Anna lernt auch andere Lebensrealitäten und andere Wohnsituationen kennen. Der Klassenaufstieg ist einer der vielen Übergänge, die WENN DU ANGST HAST NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST beschreibt. Der Übergang zum Erwachsen-Werden ein weiterer. Das ist ein trauriger Moment im Film, weil ich die Figur der Mutter sehr liebe. Anna und ihre Mutter haben eine sehr liebevolle Beziehung zueinander, aber es ist absehbar, dass sich die beiden voneinander entfremden werden.
 
 
WENN DU ANGST HAST NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST
ist ein sehr aufmunternder, ein wenig absurder, vor allem auch ein langer Titel. Sie sind selbst auch literarisch tätig. Liegt diesem Titel eine literarische Quelle zugrunde?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Der Titel ist ein Zitat aus Aglaia Veteranyis Roman Warum das Kind in der Polenta kocht. Das komplette Zitat lautet: Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst, sagt meine Mutter. Es steht im Roman im Fließtext. Es war ein sehr wichtiges Buch für mich übers Erwachsen-Werden aus einer Kind-Perspektive. Aglaia Veteranyi ist mit ihrer Familie vor dem Ceausescu-Regime aus Rumänien geflüchtet, war viele Jahre in einer Zirkus-Familie in ganz Europa unterwegs und hat halb autobiografisch auf Deutsch, was nicht ihre erste Sprache war, diesen Roman geschrieben. In einer einfachen, sehr präzisen, berührenden und ins Lyrische mäandernden Sprache.
 
 
Wie ist es Ihnen im Drehbuch-Prozess gelungen, ins Leben, in die Sprache von aktuell 13/14-Jährigen zu schlüpfen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Mein Glück ist: Ich habe drei sehr viel jüngere Schwestern. Die älteste hat im Film mitgespielt. Die beiden jüngsten sind jetzt gerade zehn und vierzehn Jahre alt. Sie waren im Schreibprozess, eine wichtige Quelle. Außerdem habe ich auch mit den Jugendlichen, die im Film zu sehen sind, gearbeitet. Sie gehen alle in die Schule, in der wir gedreht haben. Ich habe sie in Freundinnengruppen gecastet, weil ich wollte, dass sie sich kennen und miteinander wohl und sicher fühlen. Im Film ist es üblich, mit Agenturen zu arbeiten, wo Kinder als erstes aufgrund von Fotos ausgesucht werden und sich untereinander nicht kennen. Die Darstellerinnen, die keinen Text haben, lernen sich womöglich erst am Drehtag kennen, das wollte ich ganz dringend vermeiden. Ich habe lange vor Drehbeginn angekündigt, dass ich anders arbeiten will. Recht knapp vor der Anmeldefrist der Kinderdarsteller*innen gelang es mit Unterstützung der Kinder-Coachin Karin Eva Meisel ein Casting direkt in der Schule, an der wir gedreht haben, abzuhalten und haben dort diese tolle Konstellation entdeckt. Ich bin so dankbar, dass es funktioniert hat. Dadurch waren sie in einem vertrauten Umfeld. Sie konnten in kleinen Gruppen selbständig zur Probe fahren und mussten nicht einzeln abgeholt werden. Am Set hat man mich gefragt: „Warum spielen die Kinder so gut? Wir haben noch nie Kinder erlebt, die sich so gut verhalten.“ Mir erschien diese Vorgangsweise sehr logisch. Es ist auch für die Kinder netter, wenn sie mit ihren Freundinnen in der Maske sitzen. Filmdrehen ist ja zu 90% Warten, mit Freundinnen macht das eine entspanntere Stimmung. Die Kinder waren auch immer ein guter Grund, um zu argumentieren, warum wir ein liebevolles, ruhiges und angenehmes Set brauchen. In Wirklichkeit habe ich selber und das ganze Team enorm davon profitiert, dass wir so eine respektvolle Arbeitsatmosphäre hatten.
 
 
Wie ist Siena Popović die Darstellerin der Anna geworden? Wie haben Sie die Jugendlichen auf den Dreh vorbereitet?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Siena wurde unsere Protagonistin, weil sie so schlau war. Sie ist über eine Agentur und ohne Dreherfahrung zum Casting gekommen. Bei einer Improvisationsübung im Castingprozess musste sie einer Mitschülerin erklären, dass ihre Mutter abtreiben wird, während die Mitschülerin ziemlich desinteressiert reagiert. Siena hat als einziges Kind bei dieser Übung argumentiert, dass es eine finanzielle Frage ist. Dass eine Zwölfjähre versteht, dass noch ein Kind zu bekommen auch eine Klassenfrage ist, fand ich sehr schlau. Siena ist extrem ambitioniert, eine gute Schülerin, sie spricht viele Sprachen und ist eine Macherin. Ich wusste von ihrer Persönlichkeit, sie wird einen so langen Dreh durchhalten können. Sie ist mit sieben Jahren nach Wien gekommen und hat hier Deutsch gelernt. Es war sehr beeindruckend, ihre Transformation im Probenprozess und dann auch am Set zu beobachten. Sie hat das unglaublich toll gemacht. Ich glaube es war eine coole Set-Erfahrung für die Jugendlichen. Sie durfte alles mal ausprobieren: die Kamera führen, die Schärfe drehen, beim Ton hören und so hat Siena auch durchschaut, warum wir was machen. Zum Ende des Drehs hin, hat sie auf den Millimeter verstanden, wo sie stehen muss, damit das Licht in ihr Gesicht leuchtet. Sie konnte Feedback extrem gut umsetzen und war motiviert, sich ständig zu verbessern. Wir haben immer sehr wenige Takes gemacht, dafür viele Einstellungen. Wir hatten mit den Kindern am Set kürzere Drehtage, und haben das neue Kinderschutzkonzept, das damals noch nicht in Kraft getreten war, freiwillig umgesetzt. In meinem direkten Umfeld am Set waren sehr viele talentierte Frauen und ausschließlich nette Leute. Das generelle Feedback im Team war, dass sie noch nie zuvor so ein Set erlebt hatten. Die Art der Kommunikation war mir wichtig und dass die Kinder das Gefühl hatten, freiwillig da zu sein. Was natürlich nicht stimmt. Sie haben gearbeitet. Es ist ein großer organisatorischer Aufwand, bei 20 Kindern, dass die richtigen Kinder zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Outfit am richtigen Ort sind. Das braucht ein komplexes System der Kinderkoordination. Mir war wichtig, die Kinder nicht überzustrapazieren, dass zum Beispiel diejenigen, die nicht im Bild waren, einen Raum hatten, wo sie laut sein konnten. Weil wenn die Kinder keinen Bock haben, dann wird der Dreh nichts. Ich finde das, merkt man dem Material an: Dass die Kinder Bock haben.
 
 
Wie haben Sie Mariya Menner, die Darstellerin von Annas Mutter, gefunden?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Über einen Call an verschiedenste Vereine für gehörlose Personen. Ich wollte gerne mit Gebärdensprache arbeiten. Eine gehörlose Person zu finden, die Laut- und Gebärdensprache kann, ist nicht so leicht. Mariya kann beides. Sie ist eine sehr charismatische, lustige, schöne und coole Frau und hat selbst vier Kinder. Sie wollte gern mit Siena spielen, weil sie ihrer ältesten Tochter sehr ähnlich sieht. Zum Glück wollte ich mich ohnehin für Siena als Hauptdarstellerin entscheiden, das hat sich gut getroffen. Viele Menschen, die Gebärdensprache sprechen, haben Pantomime-Erfahrung, das hatte Mariya Menner auch. Für die Zusammenarbeit hatten wir immer eine Gebärdensprache-Dolmetscherin dabei. Am Set und bei den Proben. Ich kann mit ihr in Lautsprache kommunizieren, wenn aber viele Menschen an einem Ort sind und sie mein Mundbild nicht genau sehen kann, ist es eine sehr wichtige Unterstützung eine Dolmetscherin zu haben.
 
 
Gebärdensprache ist eines von vielen Elementen der Körperlichkeit in Ihrem Film. Körper im Badeanzug, nackte Körper, Sexualität. Schwangerschaft ist auch für die die Generation der Mütter ein Thema. Wie wichtig ist der Körper in Ihren Erzählungen? Wie wichtig war es Ihnen, die Entscheidung einer Frau, ein Kind zu bekommen oder nicht, zur Diskussion zu stellen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Der Körper ist mir sehr wichtig. Im Schlusssong, für den ich den Text (inspiriert von einem Interview mit Leslie Feinberg zusammengesetzt) geschrieben habe, heißt es, wir müssen die Kontrolle über unseren Körper behalten und über ihn bestimmen dürfen. Dieses Thema behandelt der Film in verschiedensten Spielarten. Es gibt unterschiedliche Körper in unterschiedlichen Lebenssituationen, auch in solchen, wo ihnen aus gesellschaftlichen Gründen die Selbstbestimmung abgesprochen wird. Der Mutterkörper ist in der patriarchalen Gesellschaft oft nicht selbstbestimmt. Das Thema Abtreibung im Film zu behandeln, ist mit dem internationalen Rechtsruck noch tagespolitischer geworden, als sie es zum Zeitpunkt des Drehbuchschreibens war. Transition im Bezug auf Geschlecht ist gerade total unter Beschuss. Transpersonen in meinem Umfeld habe gerade große Angst. Es ist verrückt, wie stark der Umstand bekämpft wird, dass Menschen über den eigenen Körper verfügen dürfen. Das ist ein sehr wichtiges feministisches Thema. Ich muss die einzige Person sein, die über meinen Körper bestimmen darf. 
 
 
 
Anna fühlt sich die zu einem Mädchen und zu einem Jungen hingezogen. Wie wichtig war es Ihnen, Genderfluidität einzubringen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Am Schluss sagt Anna, Ich steh nicht auf den Paul, ich will der Paul sein. Das kann vieles bedeuten. Paul kommt aus einem anderen Elternhaus und hat keine finanziellen Probleme, er ist ein blonder Junge, er hat viel Aufmerksamkeit, er sitzt vor der Chorprobe am Boden und rülpst. Wir wissen nicht, warum sie Paul sein will, aber es gibt mehrere Möglichkeiten, warum es für sie begehrenswert sein könnte, er zu sein.  Was ihr wahrer, innerster Wunsch ist, bleibt unbeantwortet.
 
 
Wie kam es, dass Daniel Sea Teil Ihres Casts ist?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Ich habe als Teenager The L World geschaut, das war wichtig und damals auch irgendwie identitätsstiftend. Es gab ja (und gibt immer noch) sehr wenig lesbische und queere Repräsentation. Daniel Sea war in dieser Serie der erste trans Mann, den es im Fernsehen gab. Es war eine große Ehre für mich ihn in unserem Cast zu haben. Wir kennen uns, weil wir beide bei Ashley Hans Scheirl an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert haben. Es gibt also nicht nur mich als Teenager-Fan, sondern einen verbindenden Bezug zu New Queer Cinema zwischen uns beiden. Und die, die genau schauen, können bemerken: An der Wand der Figur, die Daniel Sea in dem Film spielt, hängt ein Bild von Ashley Hans Scheirl. Es gibt in dem Film verschiedene Andeutungen zu trans Sein, mehrere Personen im Cast sind trans und viel Musik im Film-Score ist von Personen, die trans sind. In der Szene in der Mara und Anna in Drag tanzen, singt Tami T im Songtext, Nenne mich nicht „sie“, das Pronomen, das ich bevorzuge, ist „ihre Majestät“. Anders als eine cis Prinzessin kann ich für mich selbst entscheiden, was Prinzessin-Sein für mich bedeutet. Gerade als Teenager geht es im Leben viel um Selbstbestimmung und die Frage, was meine Rolle in der Gesellschaft ist, wer ich sein und wer ich werden will. Das kann sich natürlich in jedem Lebensalter neu aufdrängen. Ich weiß auch nicht immer genau, was ich wirklich sein will, oder welche Erwartung von der Gesellschaft an mich herangetragen wurde. Ich kann meine Figur Anna sehr gut verstehen, wenn sie sich fragt, „Will ich eine Frau sein? Und wenn ich eine Frau sein will, was bedeutet es überhaupt, Frau zu sein?“ Tami T singt in der oben genannten Szene: Ich bin eine Prinzessin, aber ich muss keine Krone aufsetzen. Meine Krone ist in mir drinnen. Ich finde, das passt sehr gut.
 
 
Wie setzt sich die Musik im Film zusammen?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Musik war mir sehr wichtig. Ich spiele selbst in den feministischen Punkband Schapka. Im Film sind Leute zu hören, die ich fast alle kenne. Die meisten sind queer. Die Musikbeiträge im Film sind immer auch eine Art Kommentar-Ebene, ein Moment, wo die vierte Wand durchbrochen und auf den Inhalt des Films referenziert wird. Es sind drei Nummern von Tami T, Außerdem: Gata Fiera, Pop:sch, Enesi M, Xing, Klitclique, Vereter und die woamen Semmeln, die auch im Film auftreten. Von Bipolar Feminin gibt es drei Nummern und Leni Ulrich, die Sängerin, tritt als Chorleiterin eines Kinderchors auf, der einen Song von ihr singt. Die Sounddesignerin Lenja Gathmann hat aus Synthesizerflächen atmosphärische Filmmusik komponiert und es gibt einen tollen Abspannsong von Lens Kühleitner, der ein Auftragswerk war.
 
 
Man trifft in WENN DU ANGST HAST NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST auf keine expliziten Antagonist:innen, man erlebt keine ausgrenzenden Mechanismen. Es gibt Solidarität … Erzählen Sie uns eine Utopie – einen Wunsch nach gesellschaftlichem Wandel oder die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft?
 
MARIE LUISE LEHNER:
Film bietet immer Gelegenheit, mögliche Utopien zu zeigen. Andererseits zeige ich auch eine realistische Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft mitunter ist und sein kann. Ich glaube, es gibt grundsätzlich in der Welt keine einfachen Antworten auf komplizierte Fragen. Es gibt nur noch kompliziertere Antworten. Alles auf der Welt ist ambivalent. Ich hätte mehr Mobbing gegen Anna zeigen können, Kinder in der echten Welt sind wahrscheinlich gnadenloser als in meinem Film. Ich wollte nicht das Gefühl aufkommen lassen, dass die Schuld dem falschen Verhalten einzelner Personen zuzuschreiben ist. Ich wollte keinerlei Anlass für einfache Schlussfolgerungen bieten. Gleichzeitig ist es ja so, dass jede Gewalt, die ich zeige, diese Gewalt wiederholen würde. Es reicht, Gewalt anzudeuten, ohne sie zu zeigen. Als Zuschauer:in sitze ich ja im Film mit meinem Wissen über die Gesellschaft. Ich selbst habe überhaupt kein Interesse mehr, Gewalt in Filmen zu sehen. Sie wurde mir schon so oft gezeigt. Ich finde, auch das Zeigen von Gewalt formt die Realität. Eine Regieentscheidung ist immer auch eine ästhetische Entscheidung. Ich will mit dem Film eine gewisse Haltung einnehmen, die mit den Figuren auf Augenhöhe ist und nicht die Möglichkeit schaffen, dass der Film auf die Figuren herabzuschaut. Ich will sie in ihrer Subjekthaftigkeit zeigen. Ich will keine Opfer erzählen.


Interview: Karin Schiefer
Jänner 2025
 
 










«Ich wollte nicht das Gefühl aufkommen lassen, dass die Schuld dem falschen Verhalten einzelner Personen zuzuschreiben ist. Ich wollte keinerlei Anlass für einfache Schlussfolgerungen bieten.»