INTERVIEW

«Ich habe mich sehr lang und sehr vertieft in das Ganze reingespielt.»

Selten hat eine Filmmusik einen so ausgeprägten Charakter wie die in Jessica Hausners CLUB ZERO. Manchmal stellt sie sich als Kontrast gegen das europäische Setting des Films, manchmal selbstbewusst in den Vordergrund der Handlung. Sie irritiert, berührt und überrascht.  Ein Gespräch mit Markus Binder, der für diese Filmmusik mit dem European Excellency Award 2023 in der Kategorie European Original Score ausgezeichnet wurde.
 

 
 
Sie haben für Jessica Hausners CLUB ZERO die gesamte Filmmusik kreiert. Eine durchgehend komponierte Filmmusik ist auch ein Novum in Jessicas filmischem Schaffen. Bei der Musik für CLUB ZERO handelt es sich um Musik, die gleichzeitig mit der Geschichte, aber auf gewisse Weise auch gegen den Strich wirkt. Wie stehen Sie grundsätzlich zu Filmmusik? Was soll sie können? Wie sind Sie gemeinsam mit Jessica Hausner zum Schluss gekommen, dass CLUB ZERO eine komponierte Musik braucht.
 
MARKUS BINDER:
Wir arbeiten schon seit einigen Jahren auch künstlerisch zusammen. Die erste Kooperation war das Musikvideo Oida mit Musik von Attwenger, bei dem Jessica Hausner Regie geführt und das über 200.000 Views erreicht hat. Dieses Video war unsere erste konkrete Kooperation, wo Musik und Visuelles zusammengewirkt haben. Wir haben gesehen – Stichwort creative couple –, dass wir recht gut kooperieren können. Bei Little Joe hat mich Jessica gefragt, ob ich etwas Passendes für den Abspann des Films hätte. Dafür ist das Stück Happiness Business entstanden. In Little Joe ist es um das Thema Glücklich-Sein gegangen und ich fand es interessant, dass durch die phonetische Ähnlichkeit eine Verbindung zwischen Happiness und Business entsteht und der Song hat als Abspannmusik gut funktioniert. Als dann die Vorbereitung für den neuen Film CLUB ZERO begann, hat Jessica mir vorgeschlagen, die Filmmusik für den ganzen Film zu machen. Ich hab sehr gerne zugesagt – und das führt mich zum zweiten Teil der Frage: Da wir oft auf Festivals sind und auch viele Filme als Stream anschauen, bekomme ich sehr viel von der aktuellen Filmproduktion und damit auch von der Filmmusik mit. Als Musiker habe ich natürlich ein Ohr dafür und ich finde es interessant, Fragen nachzugehen wie: Wie sehr verstärkt – absichtlich oder unabsichtlich – eine Musik die Geschichte oder die Idee eines Filmes? Ist diese Wirkung vielleicht nicht so gut? Oder würde mir dazu eine Alternative einfallen? Filmmusik hat mich immer interessiert und es schien mir reizvoll, mal selbst eine zu machen. Es hat eben gedauert, bis es bei CLUB ZERO Realität wurde.
 
 
Filmmusik hat grundsätzlich den Ruf, Emotion zu verstärken. In CLUB ZERO bringt einen die Musik in die Emotion, sie verstärkt aber in anderen Momenten auch die Distanz zur Handlung oder den Figuren. Kommt in diesem Spannungsverhältnis Ihr Zugang zur Filmmusik auf den Punkt?
 
MARKUS BINDER:
Da überschneiden sich mehrere Ideen oder gedankliche Linien. Jessica hat in ihren Filmen meist den Ansatz, nicht die emotionalen Aspekte zu verstärken, sondern eher aus der Distanz zu beobachten. Und das bezieht sich natürlich auf alle ästhetischen Elemente ihres Films, auch auf die Filmmusik. Mir kommt dieser Ansatz sehr entgegen, weil er mir mehr Freiheiten erlaubt hat – im Machen, im Überlegen, wie Sounds funktionieren. Jessica betont, dass sie Filmmusik nicht dekorativ im Hintergrund, sondern als eigenes selbstbewusstes Element im Film haben will. Wenn du auf die Mischung in CLUB ZERO achtest, wirst du feststellen, dass die Musik nicht hinter die Sprache oder das Geschehen gemischt ist, sondern von der Lautstärke her sehr selbstbewusst kommt. Das ist ein rein formaler Aspekt, dazu kommt die prinzipielle Frage, wie unter diesen angesprochenen Prämissen Musik überhaupt klingen kann. Da wir uns viel darüber austauschen, woran wir gerade arbeiten, habe ich die Anfänge der Geschichte und die Entstehung des Drehbuchs mitbekommen. So sind auch bei mir sehr früh erste Ideen entstanden. Eine davon war die, dass ich weder an einen Kommentar zur Erzählung noch an eine Untermalung dachte, sondern dass ich versuchen würde, ein Element einzubringen, das von ganz woanders herkommt, aber ästhetisch mit dem Film eine interessante Kombination ergibt. Es war offensichtlich, dass der Film in einem westlich orientierten, europäischen Setting spielt, Sprache und Schulsystem sind englisch, die Personen, die vorkommen, lassen sich in Europa verorten. Es schien mir daher interessant, einen Sound zu kreieren, der prinzipiell nicht so typisch europäisch ist. Der nächste Schritt war zu überlegen, wie das klingen kann. Ich habe eine Instrumentensammlung, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden ist, die sich im Zuge diverser Attwenger-Tourneen erweitert hat; ich denke an Sibirien, Vietnam oder Zimbabwe, wo ich immer Musiken und Instrumente, aber auch Arten, wie die Menschen sie spielen, entdeckt habe. Es fasziniert mich immer sehr, aus unseren europäischen Kontexten rauszukommen und zu sehen, dass es ganz andere Ideen des Musikmachens gibt, andere Sounds, andere Harmoniefolgen. Es gibt ganz andere Musiken, die einen völlig anderen Background haben. Das hat mich interessiert und ich habe in einem ersten Schritt geschaut, was aus meinen gesammelten Instrumenten rauszuholen war.
 
 
Waren das eher Perkussions- oder eher Saiteninstrumente?
 
MARKUS BINDER:
Beides. Was ich auch zum Einsatz gebracht habe, war ein Spinett – ein Erbstück. Das hat einen Klang, der dem, wie Mozart gespielt hat, nahekommt: ein sehr hoch klingendes Ding. Ich habe den Spinett-Kasten geöffnet und auf den Saiten mit einem Plektrum gespielt, dasselbe hab ich auch mit den Instrumenten aus Vietnam gemacht. So hat sich eine interessante Verbindung ergeben. Es kommt ja sehr darauf an, wie man mit einem Instrument umgeht. Das ist eine Erfahrung, die ich auf unseren weltweiten Tourneen mit Attwenger gemacht habe, dass es relativ egal ist, welches Instrument du spielst, es geht vielmehr um den Umgang damit. Das spüren die Leute weltweit, auch wenn sie die Texte nicht verstehen. Unsere Beweggründe fürs Musikmachen verstehen die Menschen überall. Mit der Geschichte des Films im Hinterkopf habe ich schon vor dem Dreh mit meinen Instrumenten etwas ausprobiert. Das hat auch die Frage aufgeworfen, wie sinnvoll es ist, vor dem Dreh, also nur aufgrund des Drehbuchs schon Musik zu machen, die für den Film relevant sein wird. Das Stück, mit dem der Film beginnt und auch endet, ist auf dem Spinett entstanden und es ist tatsächlich eines der wenigen Stücke, die es schon vor dem Dreh gegeben hat. Es kommt da auch der Chor vor, in dem die jugendlichen Hauptdarsteller:innen des Films singen, die wir vor dem Dreh in einem Londoner Studio aufgenommen haben. Ich habe diese Aufnahme zur Musik gemischt und das hat als Stück auch nach dem Dreh noch gut funktioniert – als Intro und Outro des Films.
 
 
Kann man sagen, dass einerseits das kontinuierliche Reduzieren der Nahrungsaufnahme, die auf ein Nichts zugeht und andererseits Ms Novaks religiös-ritueller Zugang zu ihrem Unterricht die Motive für die Musik geliefert haben?
 
MARKUS BINDER:
Die Reduktion bestimmt schon seit dem Musikvideo Oida unsere Zusammenarbeit. In der Reduktion treffen wir uns künstlerisch, Jessica und ich. Auch bei Attwenger folge ich dem Motto reduce to the max. Auch beim Soundtrack lautete mein Ansatz, nichts zu überfrachten, sondern pur, reduziert und direkt in der Art des Aufnehmens vorzugehen. Ich habe das Mikrofon extrem nahe an die Instrumente gebracht, sodass man den Anschlag hört und damit das Direkte und Knackige, was Saiteninstrumente haben können, wenn man sie mit Plektron spielt. Ich habe teilweise elektronische Beats dazu gemacht und ein wesentliches Element für den ganzen Soundtrack waren auch die Chorstimmen. Es war für mich eine Leitlinie, mit Stimmen zu arbeiten, die nichts verbalisieren, im Gegensatz zu dem, was ich sonst immer mache – bei Attwenger oder in meinen Büchern spielt Sprache eine zentrale Rolle. Es war eine tolle Abwechslung, mal nur Instrumentalmusik zu machen, die selbstverständlich im Kontext mit dem gesprochenen Text des Films steht. In meinem Job als Musikmacher bin ich, glaube ich, erstmals komplett ohne Sprache ausgekommen. Das war sehr erleichternd. Mit dem rituellen Aspekt habe ich meine Probleme insofern, als mir sämtliche Religionen und Glaubensrichtungen suspekt sind. Gerade Musik und Summtöne kennt man aus verschiedenen Religionen, sie sollen eine emotionale Verstärkung religiöser Gefühle bewirken. Deshalb habe ich in der Filmmusik versucht, die rituellen Dinge so reduziert umzusetzen, dass man quasi auch einen antireligiösen Ansatz heraushören kann.
 
 
War beim Einsatz der Stimme immer klar, dass es wenn, dann Chor- und keine Solostimmen sind?
 
MARKUS BINDER:
Genau. Chorstimmen kommen den ganzen Film über immer wieder vor, weil sie ein Element waren, das erstens Teil der Handlung war und zweitens bilden sie einen formalen Kontrapunkt – etwas Verbindendes und Gemeinsames zu allen Teilen des Soundtracks. Chorstimmen kommen in unterschiedlichen Tonlagen oder Stimmungen, in ganz verschiedenen Ausformungen vor.
 
 
Haben Sie alles, was instrumental vorkommt, selbst performt?
 
MARKUS BINDER:
Ja. Ich habe ein Studio in Linz, wo ich immer wieder gearbeitet habe. Ich stand, wie bereits gesagt, vor der Frage, wie sinnvoll es ist, vor dem Dreh oder vor dem Schnitt schon an der Musik zu arbeiten. Es hat sich herausgestellt, dass der Versuch, während des Schneidens auch an der Musik zu arbeiten, sehr sinnvoll und produktiv war. Karina Ressler, die Editorin, und Jessica waren im Schneideraum, der gleich ums Eck von unserer Wohnung ist. Ich bin immer wieder dazu gestoßen, wir sind step by step die Szenen durchgegangen, haben geschaut, was schon an vorhandenen Stücken Musik da war, was wo passen könnte; es gab Szenen, wo die beiden konkret sagten, dass sie da gerne Trommeln hätten, oder an anderer Stelle etwas mit Chor oder eine Kombination aus beidem, dann wieder griffen wir auf bereits vorhandene Musik zurück, für andere Szenen komponierte ich einfach drauflos. Und so weiter. Ich habe mir während des Schnittprozesses in meinem Linzer Studio ein Set-up aufgebaut, eine Art Zelt, das aus den Saiteninstrumenten und Trommeln bestand. Das habe ich dann mit Decken zugehängt, zur Dämmung Schaumstoff angebracht, damit alles schön trocken klingt. Es war auch im Sinne der Reduktion, dass wir so gut wie möglich ohne Hall auskamen. Das macht die Sache trocken und nüchtern. Ich bin also zwischen Schneideraum in Wien und Studio in Linz gependelt, manchmal habe ich Sachen aufgenommen, während ich den Film am Computer angeschaut habe, habe zu bereits aufgenommener Musik noch einmal drüber gespielt und habe damit quasi ein Orchester alleine performt. Ich habe mich sehr lang und sehr vertieft in das Ganze reingespielt, dann im Schneideraum gesehen, wie die Musik zusammen mit dem Film funktioniert, wieder korrigiert, so lange, bis eine runde Sache entstanden ist.
 
 
Im Film sind sehr viele Momente der Stille. Wie entscheidet man, an welcher Stelle Musik kommt?
 
MARKUS BINDER:
Wir haben da auch sehr viel herumgeschoben. Karina hat begonnen, nicht nur das Bild, sondern auch die Tonspur zu schneiden. Dieser direkte Austausch im Schnittprozess war eine sehr angenehme Erfahrung. Man merkt da erst, wie Wahrnehmung funktioniert. Es war ein faszinierendes Erleben, Verschiedenes auszuprobieren, zu sehen, wie stark sich eine Szene verändert, wenn Musik dazu kommt oder zu sehen, wie unterschiedlich der Effekt ist, wenn man eine Trommelmusik oder eine Saitenmusik dazulegt. Es hat uns alle drei immer so erstaunt, was für einen unglaublichen Effekt die Kombination aus Visuellem und Akustischem erzeugt. Man muss sich im Schnittprozess natürlich wieder zurücknehmen, diese Faszination außer Acht lassen und es 15 Mal anschauen, wieder ändern oder sicher gehen, dass es so passt, andere Stellen verlängern, andere kürzen. Es steckt sehr viel Detailarbeit drinnen.  
 
 
Es gibt in CLUB ZERO ein paar bestehende Musikstücke. Wie ist diese Auswahl zustande gekommen?
 
MARKUS BINDER:
Wir standen zum Beispiel vor der Frage, welches Klavierstück wir für den Aufführungsabend der Jugendlichen wählen sollten. Wir haben diverse Solo-Klavierstücke angehört. Ich war dann dafür, etwas von Josef Matthias Hauer zu nehmen, weil auch seine Geschichte interessant ist. Er ist der Erfinder der Zwölftonmusik. Zwölftonmusik hat mich sehr früh angesprochen, ich habe mich auch mit Cage und der ganzen Wiener Schule viel auseinandergesetzt. Das Stück hat perfekt gepasst. Es kommt im Film sehr gut rüber und ich finde es im Nachhinein sehr schön, dass wir dieser in der Musikgeschichte ein bisschen unterschätzten Persönlichkeit im Film eine Bühne geben. Das andere Stück, I Wanna Dance with Somebody, ursprünglich von Whitney Houston, haben wir in der sehr langsamen Version des australischen Musikers Scott Mathews verwendet; mit ihm sind wir mit Attwenger mal im Gartenbaukino aufgetreten, wo er diesen Song live performt hat. Jessica war an diesem Abend auch dabei und unser Verhältnis zu diesem wirklich schönen Song hat eine ziemlich lange Geschichte und fand mit der Auswahl für CLUB ZERO eine Fortsetzung.
 
 
Die Musik kommt im Film in einer Klarheit vor wie es auch die Farben, die Settings und letztlich auch das Spiel der Schauspieler:innen tun. War es eine Erfahrung, etwas Eigenständiges zu machen und gleichzeitig etwas, das Teil eines Ganzen ist?
 
MARKUS BINDER:
Es war erstaunlich zu entdecken, wie viele Elemente eine Rolle spielen. Die Ausstattung, die ganze Geschichte ... es war für mich eine inspirierende Erfahrung, die ich sehr gern gemacht habe. Man ist Teil eines sehr großen Kollektivs, alle tragen etwas dazu bei, dass der Film am Ende funktioniert. Es ist eine ganz andere Vorgangsweise, als wenn man Musik dafür macht, dass jemand auf einen Play-Button drückt oder dass sie live performt wird, wie wir es mit Attwenger machen. Filmmusik wirkt korrespondierend mit so vielen anderen Elementen und dass sich das gegenseitig befördert und am Ende funktioniert, war ein sehr langwieriger Prozess, aber ... obviously, ist es gut ausgegangen.
 
 
Hat diese Erfahrung mehr Lust auf weitere Filmmusik gemacht?
 
MARKUS BINDER:
Man wird sehen, ob der European Film Award dazu führt, dass sich auch andere Produktionen dafür interessieren, dass ich die Filmmusik machen könnte. Ich habe bei CLUB ZERO die Erfahrung gemacht, dass es so viele interessante Aspekte gibt – das Zusammenspiel von Sound und Geschichte, aber auch bei mir selber die Idee, welche argen Sounds man erzeugen kann. Im Allgemeinen erlebe ich Filmmusik mit einem gewissen Defizitgefühl. Mein Eindruck der letzten Jahre ist der, dass selbst im Arthouse-Bereich recht formatierte Musik vorkommt, viel Klaviermusik. Ich erlebe immer wieder, dass ich mir denke „das war doch bei dem anderen Film auch so“, als ob es im Bereich der Filmmusik eine Konvention gäbe, die es zu erfüllen gilt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das im Interesse der Beteiligten ist. Dass meine Musik diesen Preis bekommen hat, bedeutet ja wohl auch, dass ein Sound, der in keiner Weise konventionell ist, geschätzt und gesucht wird. Wenn sich weitere Projekte ergeben würden, würde ich mich sehr freuen.
 
 
Lässt Filmmusik Sie als Musiker letztlich auch die Musik in einem anderen Licht betrachten?
 
MARKUS BINDER:
Auf jeden Fall. Es ist eine Musik, die kontextual funktioniert und mit so vielen Faktoren, die in einem Film eine Rolle spielen, in Verbindung steht im Gegensatz zu einer Musik, die man dafür schafft, dass sie für sich alleine existiert. Ich würde sehr gerne die Arbeit am Sound, den ich für CLUB ZERO gemacht habe, weiterdenken und weiterentwickeln. Da kann ich mir in alle möglichen Richtungen noch sehr viel vorstellen.


Interview: Karin Schiefer
November 2023






«Ich wollte versuchen, ein Element einzubringen, das von ganz woanders herkommt, aber ästhetisch mit dem Film eine interessante Kombination ergibt.»