INTERVIEW

«Es war eine der Herausforderungen, in nicht existierenden Räumen  Licht zu setzen.»

In einer Gesellschaft, wo die sexuelle Freiheit per Gesetz verbannt ist, tun sich die Nischen der Doppelmoral auf. Um von einem verbotenen Iran erzählen zu können, wählte Regisseur Ali Soozandeh für Teheran Tabu eine Animationstechnik, die auf live mit Schauspielern gedrehten Bildern beruht. Kameramann Martin Gschlacht gibt Einblick in ein völlig neues Denken am Set.


Der Film TEHERAN TABU von Ali Soozandeh bringt eine Animationstechnik zum Einsatz, die auf live aufgenommenen Bildern basiert. Können Sie, bevor wir auf Details eingehen, kurz grundlegend beschreiben, worauf diese Technik basiert?
 
MARTIN GSCHLACHT: Die Idee, einen Animationsfilm basierend auf real gedrehten Bildern zu realisieren kennt man länger, u.a. aus „Waltz With Bashir“ von Ari Folman aus dem Jahr 2008. Technisch hat sich seither natürlich Einiges getan und Little Dream Entertainment und der Regisseur Ali Soozandeh, die über großes Know-how in Animationstechniken verfügen, haben viel an eigenen Entwicklungen eingebracht. Grundsätzlich haben wir den kompletten Film, Einstellung für Einstellung, in Greenscreen-Technik gedreht. In der Folge kommen etliche Arbeitsschritte dazu und der Film wird im Schneideraum montiert, bis die gesamte Handlung, allerdings immer noch „vor Grün“ vorhanden ist. In diesem Stadium bespricht man ausführlich den Rohschnitt, denn danach beginnt die sehr aufwändige Arbeit, nämlich die Welten, in denen die Handlung spielt, zu animieren. Es gibt also einerseits die Schauspieler im Greenscreen-Studio, und dann die digitale Welt, in der die Figuren agieren.
 
 
Little Dream Entertainment, der Koproduktionspartner, hat ein großes Know-how im Animationsbereich. Für TEHERAN TABU gab es gewiss auch inhaltliche Motive, die Regisseur Ali Soozandeh dazu bewogen haben, die Thematik der sexuellen Doppelmoral in der Gesellschaft von Teheran in Form eines Animationsfilms auf die Leinwand zu bringen?
 
MARITN GSCHLACHT: Bei diesem Thema drängte sich Animation als Erzählform auf. Der Film wäre in dieser Form in Teheran nicht mit Schauspielern zu realisieren gewesen. Und für uns als Koproduzenten von coop99 bot sich die Gelegenheit, mit einem vertretbaren Budget einen thematisch wie visuell hochaktuellen Film zu realisieren. Little Dream Entertainment hat eine Menge Erfahrung mit den Pettersson und Findus-Filmen, die teils aus Animation teils aus realen Bildern bestehen. Der Regisseur Ali Soozandeh hat zuvor auch schon einen Dokumentarfilm mitrealisiert, The Green Wave, der auf Animationstechniken basiert, die sie nun weiterentwickelt haben.
 
 
Trat die Produktionsfirma mit einem Storyboard an Sie als Kameramann heran?
 
MARTIN GSCHLACHT: Zunächst gab es ein Drehbuch und einen Trailer zum Film, die mich beide sehr begeistert haben. Wir waren zu dem Zeitpunkt mit der coop99 ja längst Koproduzenten von dem Projekt. Nachdem wir uns gemeinsam entschieden haben, dass ich auch die Kamera übernehmen werde, musste ich mich sehr schnell in eine neue Denk- und Arbeitsweise einarbeiten, da ich mit dieser Art zu drehen keinerlei Erfahrung hatte.
 
 
Inwiefern hat sich im Vergleich zum „normalen Dreh“ die Kameraarbeit anders gestaltet?
 
MARTIN GSCHLACHT: In der Greenscreen-Situation gibt es kaum reale Anhaltspunkte. Alles, was nicht in unmittelbare Berührung mit den DarstellerInnen kommt, existiert auch nicht. Die aufgenommenen Bilder müssen so beschaffen sein, dass man in der Postproduktion alles Mögliche damit herstellen kann, auch digitale Fahrten, Schwenks und Zooms. Dazu war eine optimale Auflösung notwendig, um dann bisweilen nur Ausschnitte des Bilds zu verwenden. Oft haben wir z.B. hochkant gedreht, um die bestmögliche Auflösung einer stehenden Person zu bekommen. Dreht man Querformat, so wirft man rechts und links unheimlich viel Information – und damit Auflösungsqualität – weg, die nur Grün erfasst hat. Die Entscheidung über reale oder spätere digitale Kamerabewegung war abhängig von Perspektiven- oder auch Lichtveränderungen. Manchmal sind wir mit der Kamera um Personen herumgefahren, ein anderes Mal haben wir Menschen auf Drehscheiben gestellt. Ein Ding, das praktisch täglich zum Einsatz kam, war das Laufband, auf dem die DarstellerInnen virtuell durch die Sets gegangen sind.
 
Was darüber hinaus viel Denkarbeit erfordert hat, war der Umstand, dass die Kamera im Studio kaum 180° an Bewegungsfreiheit hatte. Wenn wir in der Auflösung der Szene in eine andere Richtung gefilmt haben, hat die Kamera die Blickrichtung beibehalten, aber das Licht wurde umgestellt. Es bedurfte also genauer Überlegungen, um sicherzustellen, dass die Bilder im Schnitt zusammenpassten. Ich war da schon froh, auf genügend Erfahrung zurückgreifen zu können. Bei der Ausleuchtung war der erste Schritt zunächst das zu drehende Bild von Schwarz bis Weiß in Graustufen umzuwandeln. Im Verständnis dafür, wo Weiß, wo Schwarz und wo die Grautöne anschlagen, lag das Um und Auf. Ich hatte ein kleines Programm, das dies rudimentär simulierte, sodass man ungefähr eine Vorstellung davon hatte, wie sich ein Gesicht, das nur über Hell-/Dunkeltöne herausgearbeitet wird, modelliert. Es bedingte ein völlig anderes Denken in der Arbeit mit Licht. Auf dem Monitor schaute das Bild nach wenig aus, wenn man in unseren umgewandelten Helligkeitsstufen dachte, war es aber gut und richtig. Bald einigten wir uns gemeinsam mit dem Regisseur und den Produzenten darauf, nicht immer nur in der Kategorie „nach den Gesetzen der Optik richtig“ zu denken, da es nicht immer zum optimalen Ergebnis in der Animation geführt hätte. Zu Beginn neigten wir stärker dazu, uns dem Anspruch auf Richtigkeit unterzuordnen, nach ein paar Tagen gaben wir schnell der Ästhetik unsere Präferenz und ich achtete mehr darauf, dass ein Gesicht in all seinen Graustufen schön modelliert und weniger, ob es „richtig“ ausgeleuchtet war. Dunkelheit ist in dem Zusammenhang besonders heikel.
 
 
Wie sah im Moment des Drehs die Zusammenarbeit mit Ali Soozandeh aus, der seinen ersten Spielfilm drehte und somit erstmals mit Schauspielern gearbeitet hat?
 
MARTIN GSCHLACHT: Ali hat im Vorfeld ein Storyboard erarbeitet, das wir gemeinsam genau durchgegangen sind und das uns jeden Drehtag als Basis gedient hat. Das hat uns natürlich sehr geholfen, in technischen Fragen den Überblick zu bewahren und so auch mehr Zeit für die inhaltliche Arbeit mit den Schauspielern erlaubt. Alis Vorteil lag darin, dass er sich mit dieser Technik der Animation seit Jahren beschäftigt und sie in Fleisch und Blut hatte. Sobald er sah, dass ich verstanden hatte, worum es ging, konnte er mir die Aufnahmetechnik mehr oder weniger überlassen und sich um die Inszenierung kümmern. Natürlich gab es permanent Absprachen zwischen uns, weil die Gestaltung ja immer auch eine Geschmacksfrage zwischen Regie und Kamera ist. Wir haben sein Wissen über Animation und meine Erfahrung im Spielfilm bestmöglich zusammen getan.
 
 
Wie sieht bei diesem Verfahren die Schauspielerarbeit aus?
 
MARTIN GSCHLACHT: Ähnlich wie bei einem Real-Dreh. Die Mimik der Darsteller gilt ja auch in der Animation. Die Inszenierung selbst funktioniert wie auf einem klassischen Set. Wenn eine Szene nicht auf den Punkt gespielt war, dann musste man sie Take für Take wiederholen, wie bei einem ganz normalen Dreh. Man sollte nicht dem Irrglauben erliegen, ein Fehler im Schauspiel lässt sich in der Animation später wieder gutmachen. Der Schauspieler wird in der Animation bearbeitet, er kann aber nicht neu inszeniert werden. Die Kostüme und Maske der DarstellerInnen waren etwas spezieller. Nach Tests im Vorfeld wurden Parameter herausgearbeitet, die die Animation erleichtern und das Ergebnis verbessern. So waren klare und kräftige Farben bei den Kostümen und ausgeprägtes Make-up, bis hin zu starken Konturlinien auf der Haut, oder auch extravagantere Perücken für die weitere Bearbeitung in der Animation und den Stil der Charaktere hilfreich.
 
 
Wie sehr war so etwas wie Ausstattung vorhanden?
 
MARTIN GSCHLACHT: Es gibt Requisiten und rudimentäre Ausstattungselemente, wenn sie von den Schauspielern berührt werden. D.h., wenn sie sich auf einen Tisch stützen, dann gibt es einen realen Tisch – oder auch nur ein grünes Brett – abhängig von der Szene. Wenn sie einen Gegenstand in die Hand nehmen, dann gibt es den auch tatsächlich. Teilweise, um später in der Animation verwendet zu werden, oder auch nur als Platzhalter, die ersetzt wurden. Ein Auto besteht aus vier grünen Sitzen, einem grünen Lenkrad und möglicherweise einer grünen Latte, auf der man den Ellbogen ablegen kann. Tatsächliche Autotüren gibt es nicht, was für meine Arbeit in räumlicher Hinsicht ein bisschen schwierig war. Wenn Menschen bei einem normalen Dreh im Auto sitzen, bin ich mit einer gewissen natürlichen Lichtsituation konfrontiert, die hier nicht gegeben ist. Das bedeutete für mich, dass ich diese Lichtsituation mit verschiedensten Mitteln erst herstellen musste: Abdunkeln von oben, als wäre ein Dach da, Lichteffekte setzen, als würde durch die Fenster Licht hereinkommen – oder Schatten und so weiter. Lichteffekte bei den Autofahrten oder zum Beispiel auch in der Disco waren jeweils von uns real erzeugt und wurden in der Animation verwendet.
Es war für mich eine der Herausforderungen, in nicht existierenden Räumen ein Licht zu setzen, das geografisch Sinn macht, auch wenn wir uns, wie schon erwähnt, nicht stur daran gehalten haben. Ich habe mir Pläne aufgezeichnet, um da einen Überblick zu bewahren. Es ist in dieser Produktionstechnik kaum vorstellbar, sich ohne Storyboard zurechtzufinden.
 
Ein weiterer gravierender Unterschied zum konventionellen Dreh lag darin, dass man überhaupt nichts unscharf aufnehmen darf. Die Animationstechnik, die in TEHERAN TABU zur Anwendung kommt, setzt scharfe Kanten voraus, um das Realbild weiter bearbeiten zu können. Wenn man z.B. zwei Menschen mit einem Over-Shoulder-Anschnitt dreht, dann ist der immer unscharf. Das musste man also getrennt drehen: die Schulter allein, den Menschen gegenüber allein, dann wurde das zusammengebaut und dann konnte man die Schulter nach dem Animationsvorgang in die gewünschte Unschärfe setzen. Oder auch Hände am Lenkrad stellten sich als ganz problematisch heraus. Die waren bei Aufnahmen von vorne oder auch von hinten praktisch nicht gemeinsam mit dem Darsteller in eine Schärfe zu bekommen. Mein Kameraassistent Martin Schmachtl hat permanent mit Tiefenschärfetabellen gearbeitet; wir tüftelten ständig darüber, wohin wir die Schärfe legen mussten, damit ein Bild entstand, in dem sich alle Elemente zumindest in einer sehr geringen Schärfetoleranz bewegten. Dieser Umstand bedingt sehr viel Lichteinsatz, um zu einer möglichst geringen Blendenöffnung zu gelangen. Wir haben nie offener als Blende 8, in der Regel eher um Blende 11 herum gedreht. Tiefenschärfe setzt man in der Regel als künstlerisches Werkzeug in der Bildgestaltung ein. Hier hatten wir es mit einem technischen Verbot zu tun. Fehler in der Aufnahme sind zwar in der Postproduktion behebbar, allerdings nur mit großem zeitlichem und finanziellem Zusatzaufwand. Das war eine große Verantwortung, die mir bewusst war und ich glaube, wir haben es ganz gut hingebracht.
 
 
Was geschieht, wenn der Dreh einmal abgeschlossen ist?
 
MARTIN GSCHLACHT: Die erste Etappe ist eine ganz grobe und vereinfachte Animation der Darsteller und ein gewöhnlicher Schnitt. Gewisse Bewegungen werden einmal grob simuliert, wobei es generell ein hohes Abstraktionsvermögen verlangt, um einer Geschichte in diesem Stadium folgen zu können. Als ich einen ersten Rohschnitt sah, schaffte es mein Gehirn kaum, den Film herauszufiltern und den Rhythmus zu beurteilen, so anders war bei dieser Technik das Rohmaterial. Da war die Erfahrung von den Leuten, die sich seit Jahren damit beschäftigen, extrem wichtig, weil sie diese Art von Rohschnitt besser lesen konnten. Auf der Basis des Rohschnitts werden die animierten Welten hergestellt, die Räume und die Darsteller zusammengeführt, der Animationscharakter wächst Schritt für Schritt. Zusätzliche Kamerabewegungen – Zufahrten, Seitfahrten kommen hinzu. Stück für Stück entsteht der Film. Eine präzise Entscheidung im Rohschnitt ist da rechtzeitig wichtig, weil diese Detailarbeit sehr effizient und gezielt erfolgen muss. Man kann im Nachhinein wohl noch leicht kürzen und rhythmisch adaptieren, ganze Szenen zu ersetzen oder auch zu verlieren bedeutet in diesem späten Stadium allerdings böse Leerkilometer und natürlich Kosten.
 
 
Worin lag für Sie der Reiz an dieser Kameraarbeit, auch wenn, wie Sie zuvor sagten, Ihre originären Bilder nicht mehr im Film zu sehen sind?
 
MARTIN GSCHLACHT: Zu aller erst einmal fand ich das Drehbuch, die Geschichte von TEHERAN TABU großartig. Der Film behandelt relevante und schwierige Themen auf sehr eindrückliche Art. Dazu gab es zu dem Zeitpunkt bereits einen Trailer, der mich von der Animation und der visuellen Qualität des Projekts überzeugt hat. Ein reizvoller Aspekt bestand auch darin, dass ich mich nicht der Realität unterwerfen musste. In der Regel bin ich als Kameramann mit den Themen Licht, Schatten und Bewegung sehr der Physik unterworfen. Ich habe Maler immer beneidet, die sehr kontrastreiches Licht mit wunderbar weichen Schatten verbinden können. Das schaut einfach gut aus. Geht allerdings in meinem Beruf nicht so leicht. Bei einer Arbeitsweise wie der für TEHERAN TABU ist es plötzlich doch möglich, sich ein wenig über die Physik hinwegzusetzen. Man ist in einer Welt, wo es um eine überhöhte Form von Ästhetik geht. Und das ist sehr reizvoll!
 
 
Sie haben 2008/9 für Shirin Neshats Film Women Without Men die Kamera gemacht, sind gerade dabei, ihren neuen Film fertigzustellen. Nun haben Sie mit Ali Soozandeh und Ali Samadi Ahadi, dem Produzenten von Teheran Tabu, wieder mit Künstlern gearbeitet, die aus dem Iran stammen. Sind da vielleicht nicht nur Fügung und Zufall im Spiel, sondern auch eine Welt, eine Bildsprache, eine kommunikative Ebene, die sie mit dieser Kultur besonders verbindet?
 
MARITN GSCHLACHT: Was die Bildsprache betrifft, versuche ich als Kameramann bei jedem Film gemeinsam mit der Regie und den anderen Kreativen an einer Ästhetik zu arbeiten, die dem Film bestmöglich entspricht. Ich fühle mich grundsätzlich keiner Ästhetik intensiver oder weniger tief verbunden. Egal ob das Projekt in der Eiszeit, im Wiener Gemeindebau oder in Teheran spielt. Was man wohl aber als „Welt“ bezeichnen kann, ist dieser Menschenschlag der Exil-Iraner, von denen ich in den USA, in Frankreich, Deutschland und Österreich mittlerweile viele kennenlernen durfte. Es sind unglaublich liebenswerte, erkenntliche, fleißige und auf eine Art und Weise erfolgreiche Menschen. Ich denke, die Entwurzelung – viele von ihnen mussten als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener oft auf abenteuerlichste Weise ihr Land verlassen – macht etwas mit den Menschen, mit ihrem Leben und ihrem Anspruch ans Leben. Das sehe ich in der Lust am Erschaffen und auch in der Gemeinsamkeit, in der das geschieht. Sie arbeiten in eng verbundenen Communities. Ich war gerade in Paris, wo Shirin Neshat am Schnitt arbeitet, wo wir auch außerhalb der Arbeit Leute aus diesen Communities getroffen, haben. Ich erlebe das alles als sehr herzlich, freundschaftlich und sehr künstlerisch. Ich glaub, es wäre für mich langsam an der Zeit Farsi zu lernen.


Interview: Karin Schiefer
Mai 2017
Bei einer Arbeitsweise wie der für Teheran Tabu  ist es plötzlich doch möglich, sich ein wenig über die Physik hinwegzusetzen. Man ist in einer Welt, wo es um eine überhöhte Form von Ästhetik geht.