INTERVIEW

«Es macht sie für mich zu Ur-Feministinnen.»

Nicole Scherg suchte nach einem Thema, das uns Menschen rund um die Welt verbindet und entschied sich für das Naheliegendste. Sie beobachtet Hebammen auf vier Kontinenten, ihr Wissen, ihre Energien und ihr Vertrauen, mit dem sie die Mütter und die ankommenden Wesen ins Dasein begleiten. Ob in Geburtshäusern, Kliniken oder zu Hause im Wohnzimmer – WISE WOMEN erzählt, wie normal, wie fragil und geheimnisvoll da und dort der Weg in die Welt ist.
 
 
Welche Fragestellung lieferte den Anstoß zu Ihrem Filmprojekt WISE WOMEN: Ging es Ihnen allgemeiner um eine Reflexion zum Elementarereignis Geburt oder vielmehr um den Beruf der Hebamme?
 
NICOLE SCHERG:
Am Anfang stand die Sehnsucht, einen Film über den kleinsten gemeinsamen Nenner von uns Menschen zu machen – über etwas, das uns wirklich alle verbindet. Und so bin ich zwangsläufig bei der Geburt gelandet. Mich hat dabei aber nicht nur das Ereignis an sich interessiert, sondern die einzigartige Perspektive jener Frauen, die es ihr Leben lang begleiten – die Hebammen. Sie erleben diesen Moment vielleicht tausende Male, und doch ist er jedes Mal anders. Sie sind ganz nah dran und müssen gleichzeitig eine professionelle Distanz wahren. Dieses Spannungsfeld hat mich fasziniert. Ich hatte selbst einmal überlegt, Hebamme zu werden – vielleicht, weil mich dieses „Dabeisein am Anfang des Lebens“ immer berührt hat. Und als ich später meine eigenen Kinder bekommen habe, wurde mir noch einmal bewusst, was für eine besondere Rolle diese Frauen spielen: Sie sind die ersten Hände, die uns empfangen.
 
 
Was hat Sie veranlasst geografisch diesen weiten Bogen zu spannen? Es gibt in WISE WOMEN fünf Protagonistinnen, auf vier Kontinenten – in Nord- und Ostafrika, in Nepal, Brasilien und Österreich? Hat es Sie interessiert – dem Titel folgend – Wissen der Frauen aufzuspüren, das über die Kontinente hinweg gleich ist?
 
NICOLE SCHERG:
Mich hat von Anfang an die Idee fasziniert, Geburt als universelles Erlebnis zu betrachten – etwas, das uns alle verbindet, egal wo auf der Welt wir zur Welt kommen. Um das filmisch sichtbar zu machen, musste der Blick über Ländergrenzen hinausgehen.
Wir werden alle geboren – und irgendjemand begleitet diesen Moment. Der physiologische Ablauf ist überall auf der Welt derselbe, aber die Umstände, unter denen Geburt stattfindet, könnten unterschiedlicher kaum sein: die medizinische Versorgung, die politische Situation, die Stellung der Frau – und damit auch die der Hebamme. Und doch bleibt der Kern der Hebammenarbeit gleich. Man spürt, dass es da etwas gibt, das Hebammen über die Kontinente hinweg verbindet – vielleicht eine Art stilles Wissen um diesen Übergang ins Leben. Dieses Gefühl von Verbundenheit, das auch zwischen unseren fünf Protagonistinnen zu spüren war, gehörte für mich zu den schönsten Erfahrungen während der Dreharbeiten.
 
 
Haben Sie vor oder nach der Geburt Ihrer eigenen Kinder gedreht?
 
NICOLE SCHERG:
Dazwischen. Ich hatte bereits mein erstes Kind und war während der Dreharbeiten in Nepal und Äthiopien hochschwanger. Dieser ungeplante Umstand hat unseren Drehplan ordentlich durcheinandergebracht. Für den Film war es jedoch absolut wertvoll, denn dadurch entstand eine ganz besondere, fast nonverbale Verbundenheit zu den Frauen und Hebammen, weil ich eben selbst mit großem, rundem Bauch dabei war. Später, mit meinem fünf Monate alten Baby habe ich dann die Österreich-Episode gedreht. Kaum war sie abgeschlossen, kam Corona.
 
 
Welche Wünsche haben die Auswahl der Protagonistinnen über vier Kontinente mitbestimmt?
 
NICOLE SCHERG:
Ich wollte Hebammen auf verschiedenen Kontinenten zeigen, die stellvertretend für viele andere stehen. Mir ging es um geografische Vielfalt und ein möglichst breites Spektrum an wirtschaftlichen und sozialen Realitäten. Wie ein Geburtssystem funktioniert, hängt maßgeblich davon ab, wie wohlhabend ein Land ist – die medizinische Infrastruktur ist dabei der größte Einflussfaktor. Es war mir wichtig, ganz unterschiedliche Settings abzubilden: von der Hausgeburt über das Geburtshaus bis hin zum einfachen Krankenhaus oder zur High-Tech-Klinik. Ich wollte sowohl jüngere als auch erfahrene Hebammen begleiten, die in ganz unterschiedlichen Phasen ihres Frauenlebens standen – und Drehorte mit starken Kontrasten finden: ein heißes Land und ein kaltes, Metropolen und abgelegene Dörfer. Nach und nach entstand so ein Puzzle, das uns nach Äthiopien, Marokko, Brasilien, Nepal und Österreich führte.
 
 
Während Sie in Äthiopien, Marokko und Brasilien eher die gängige Geburt zeigen, dokumentieren Sie in Österreich die ganz seltene Hausgeburt.
 
NICOLE SCHERG:
Gunda war die erste Hebamme, die ich während der Recherche kennengelernt habe, und ich wollte sie unbedingt im Film haben. Dass wir ausgerechnet in Österreich eine Hausgeburt zeigen, haben wir lange diskutiert. In Österreich ist – wie in den meisten Ländern der Welt – die Klinikgeburt die Norm. Nur etwas 1,5% aller Geburten finden außerklinisch statt, also zu Hause oder im Geburtshaus statt. Das ist ein absoluter Ausnahmefall – besonders, was die Art der Begleitung betrifft. Von Anfang an war mir klar, dass das Setting der jeweiligen Hebamme nicht repräsentativ für das Land stehen muss. Es geht nicht darum, eine statistische Realität abzubilden, sondern zu zeigen, wie Hebammen Geburt gestalten – egal, wo sie stattfindet. Nachdem Gunda für den Film feststand, war das Thema Hausgeburt für uns abgehakt und die Suche nach anderen Kontexten ging weiter. Dabei hat uns Franka Cadée, damals Präsidentin des Internationalen Hebammenverbands ICM, großartig unterstützt. Sie kennt Hebammen auf der ganzen Welt, hat uns interessante Länder empfohlen und viele wertvolle Kontakte hergestellt. Für uns war wichtig, nur in Ländern zu drehen, in denen Hebammen tatsächlich Einfluss haben und wir ihre Arbeit beobachten können.  Es gibt leider auch viele Länder, wo sie kaum Befugnisse haben.
 
 
Dokumentiert der Umstand, dass die Klinikgeburt heute die Regel ist, auch eine Entwicklung im Bereich der Geburtshilfe?
 
NICOLE SCHERG:
Die Hausgeburt ist die Ur-Geburtshilfe. Mir war es deshalb so wichtig, sie in ihrer ursprünglichen Form zu zeigen. Früher war es selbstverständlich, dass die Hebamme zur gebärenden Frau nach Hause kam, das Schlaf- oder Wohnzimmer war ihr Arbeitsplatz. Mit der Etablierung der Geburtshilfe als medizinischem Sektor und die Verlagerung der Geburt ins Krankenhaus hat sich viel verändert. Nicht nur, dass Männer, die früher wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen wären, Teil davon zu sein, als Ärzte in den Bereich der Geburtshilfe getreten sind, ist auch die Geburt in ein pathologisches Umfeld gewandert. Der natürliche, physiologische Blick auf Geburt ist dadurch immer mehr in den Hintergrund geraten, während medizinische Kontrolle und Risikomanagement immer wichtiger wurden. Franka Cadée sagt, dass Hausgeburt dann sicher ist, wenn das gesamte System rundherum sicher ist. Hier bei uns können Frauen sich bewusst für eine Hausgeburt entscheiden und auf eine gute medizinische Infrastruktur zurückgreifen. Das ist – wie auch Gunda im Film sagt – ein Luxus, zum Beispiel im Vergleich zu Hausgeburten in Nepal oder Äthiopien. Dort haben Frauen oft keine Wahl, wo und wie sie gebären und wenn da in einem ländlichen Gebiet ein Problem auftaucht, hat die Frau kaum eine Chance.
 
 
In zwei Ländern zeigen Sie Geburtshäuser. Ist dies eine Zwischenform in vielen Ländern mit weniger starker medizinischer Versorgung?
 
NICOLE SCHERG:
Eigentlich ist es genau umgekehrt. Geburtshäuser entstehen nicht dort, wo die medizinische Versorgung schwach ist, sondern eher dort, wo Hebammen gut ausgebildet sind und ein Bewusstsein für selbstbestimmte Geburt besteht. Die meisten Geburten finden in Kliniken statt und Geburtshäuser sind eher die Ausnahme. Das Geburtshaus, das wir in Brasilien zeigen, ist zum Beispiel das einzige in ganz Rio de Janeiro. Es ist eine staatliche, ins öffentliche Gesundheitssystem eingebettet, und ein Krankenwagen steht rund um die Uhr vor der Tür bereit, falls Komplikationen auftreten und eine Frau schnell in die Klinik gebracht werden muss. In solchen Fällen übergibt die Hebamme den Ärzt:innen den Fall und die Frau bekommt genau die Unterstützung, die sie braucht. Für mich ist das ein tolles Beispiel dafür, wie hebammengeleitete Geburtsorte sicher funktionieren können, wenn sie gut eingebunden sind. Leider ist das viel zu selten, oft gibt es nur das „Entweder Oder“. Haija, unsere Protagonistin in Casablanca, war die älteste Hebamme, die wir begleitet haben. Sie hat ihr Geburtshaus selbst gegründet und lebt direkt darüber, nur ein Stockwerk höher. Haija wählt sehr genau, welche Frauen sie betreut. In vielen Ländern gibt es strenge Regularien, die festlegen, wann eine Frau überhaupt im Geburtshaus gebären darf, zum Beispiel ob sie vorher einen Kaiserschnitt hatte, ob es Zwillinge sind oder wie alt sie ist.
 
 
Was hat die Frauen, mit denen Sie gedreht haben, motiviert eher ins Geburtshaus zu gehen?
 
NICOLE SCHERG:
Die Frauen, die uns während der Dreharbeiten begegnet sind, kannten die Hebammen und die Geburtshäuser oft schon persönlich – entweder, weil sie vorher dort entbunden oder über Freundinnen und Familie davon erfahren hatten. In manchen Ländern ist das Vertrauen in staatliche Einrichtungen nicht so groß, deshalb entscheiden sich Frauen bewusst für kleinere Einheiten. Meist geht es dabei vor allem um Vertrauen und darum, dass die Betreuung sehr persönlich und respektvoll ist.
 
 
Was haben Sie über die Motivation der Hebammen für ihre Berufswahl herausgefunden?
 
NICOLE SCHERG:
Mir ist aufgefallen, dass den meisten Hebammen vor allem eines wichtig ist: Frauen durch einen der intensivsten und gleichzeitig verletzlichsten Prozesse zu begleiten, sie zu schützen und ihnen Sicherheit zu geben. Ghenet, unsere Hebamme in Äthiopien sagt zum Beispiel, sie möchte keine tote Mutter, kein totes Kind mehr sehen. Das zeigt sehr deutlich, worum es allen Hebammen geht: Mutter und Kind sicher durch die Geburt zu bringen, hat oberste Priorität. Als Hebamme braucht man einen starken Idealismus, der einen antreibt, um sich den Strapazen, der Verantwortung und auch den Belastungen dieses Berufs zu stellen. Trotz all der schönen Momente ist es ein harter Beruf, der den Frauen viel abverlangt. Dabei entsteht eine Art Komplizinnenschaft zwischen Hebamme und Mutter – und genau diese Nähe macht sie für mich zu Ur-Feministinnen, auch wenn sie sich selbst wohl nie so bezeichnen würden. Sie stehen an der Seite der Frauen, kämpfen für Selbstbestimmung und für eine Geburt, die nicht nur sicher, sondern auch menschlich ist.
 
 
In Nepal wohnen wir als Zuschauer:innen keiner Geburt bei, das hat möglicherweise mit der Geografie zu tun, dass Orte in der bergigen Landschaft schwer erreichbar sind. Die Rolle der Hebamme scheint hier auch breiter gefächert zu sein, sie klärt über Geburtenkontrolle auf, wird wegen eines Schwangerschaftsabbruchs kontaktiert …
 
NICOLE SCHERG:
Es ist von Land zu Land unterschiedlich, welche Befugnisse eine Hebamme hat. Prinzipiell begleitet sie nicht nur den Übergang von Schwangerschaft und Geburt, sondern kümmert sich um alle Fragen rund um die Frauengesundheit. Dazu gehören auch Verhütung oder Family Planning. Sheila in Brasilien darf sogar eine Spirale einsetzen. Das wäre in Deutschland oder Österreich undenkbar. Auch in Nepal ist die Rolle der Hebamme sehr breit gefächert. Sie begleitet nicht nur Geburten, sondern hält, wie man im Film sieht, auch Aufklärungsunterricht in Schulen oder berät bei Schwangerschaftsabbrüchen. Warum wir in Nepal keine Geburt zeigen? Nepal war unser erster Dreh und es ist genau das passiert, womit ich im Vorfeld überhaupt nicht gerechnet habe. In den zwei Wochen, die wir dort verbracht haben, fand keine einzige Geburt statt. Für mich als Regisseurin war das ein absoluter Albtraum. Natürlich wollte ich über den Kern der Hebammenarbeit einen dramaturgischen Bogen zu allen Orten zu spannen. Wir mussten also umdenken und uns überlegen, was wir von dieser Hebamme erzählen konnten. Am Ende hat sich im Schnitt alles gut gefügt.
 
 
Erzählerisch betrachtet dokumentieren Sie zunächst die Arbeit, den Alltag und auch eine Routine der Hebammenarbeit, dann aber auch Momente, wo Babys nicht ins Leben geholt werden können, und beobachten, was dieses Scheitern mit den Hebammen macht?
 
NICOLE SCHERG:
Es liegt in der Natur der Sache, dass die meisten Geburten gut verlaufen – und manchmal eben nicht. So ist uns während der Dreharbeiten zwangsläufig auch das Scheitern begegnet. Diese Momente zeigen nicht nur, wie viel Verantwortung Hebammen tragen, sondern auch, dass man nie vorhersagen kann, wie eine Geburt verlaufen wird. Die Hebammen müssen permanent höchst wachsam sein und in dieser Stresssituation das Richtige tun. Wir haben mit der Kamera einfach begleitet und im Schnitt dann die Erzählung gebaut. Dabei haben wir uns für die Szenen entschieden, in denen sich für uns etwas offenbart und die Zuschauer:innen emotional mitleben können.
 
 
Es fallen Sätze wie „Im Moment der Geburt ist man zwischen den Welten wie am Ende des Lebens“, „es gehe immer ums Leben, um ein Wesen, das in die Welt kommen will und dem es dabei zu helfen gilt.“ Diese schwierigen Momente machen besonders spürbar, wie sehr der Moment des Zur-Welt-Kommens mehr als ein medizinisches Ereignis ist. Was haben diese vielen Geburtserlebnisse in Ihnen als Beobachterinnen ausgelöst?
 
NICOLE SCHERG:
Mir ist durch die vielen Geburten noch bewusster geworden, dass es im Kern immer um Leben und Tod geht. Geburt ist ein Moment extremer Intensität – man steht quasi „zwischen den Welten“. Das Leben ist endlich, und diese Vergänglichkeit verbindet uns. Die Hebammen sind die Schwellenhüterinnen bei diesem Übergang: Ins Leben hinein … und manchmal auch hinaus. Auch diese traurigen Erfahrungen zu verarbeiten und dennoch weiterzumachen, ist eine große Herausforderung. Für mich ist dabei immer diese tiefe Ehrfurcht vor dem Leben spürbar. Ihr Ziel ist klar: Kind und Mutter sicher durch die Geburt zu bringen. Das ist das Wesentliche ihres Berufs. Erst danach kommt die Frage, ob es ein schönes, stärkendes Erlebnis für die Mutter – und in Wirklichkeit auch für das Kind – war. Wenn diese Wesen, die neun Monate im Körper der Mutter gelebt haben, plötzlich ins Leben hinaustreten, ist das jedes Mal ein zutiefst emotionaler Moment. Ich empfand es als großes Privileg, bei so vielen Geburten dabei sein zu dürfen.
 
 
Interessant ist auch der Aspekt, wie sie mit allen Protagonistinnen auch deren eigenen Erfahrungen mit Schwangerschaft und Familie teilen, die sehr unterschiedlich sind.
 
NICOLE SCHERG:
Ich wollte meine Protagonistinnen nicht nur in ihrer Arbeitswelt, sondern in ihrer Ganzheit zeigen. Welche Lebensgeschichten sich hinter ihrem Beruf als Hebamme verbergen, habe ich erst während des Drehs richtig erfahren. Davor kannten wir uns nur von einer Video-Konferenz, in der wir uns zwei, drei Stunden gemeinsam mit einer:m Übersetzer:in unterhalten haben.
Die Auswahl der Protagonistinnen war letztlich eine Bauchentscheidung, ich wusste vorher nur wenig über diese Frauen. 
Ihre Geschichten haben sich erst während des Drehs entblättert. Geburt, Mutterschaft und eigene Kinder sind Themen, die im Gespräch mit Hebammen fast automatisch auftauchen. Sheila in Brasilien erzählte, dass sie gerne eigene Kinder gehabt hätte, aber keine bekommen konnte. Durch ihren Beruf erlebt sie die Emotionen der Familien mit und ist Teil dieser besonderen Momente. Jede Frau hat ihre eigene Geschichte.
 
 
Privates und Berufliches scheinen hier sehr nahe beisammen zu liegen?
 
NICOLE SCHERG:
Ja, mir war es besonders wichtig, das Verschmelzen von Beruf und Privatleben zu zeigen. Man sieht das besonders gut bei Gunda, der österreichischen Hausgeburtshebamme. Sie muss immer in Bereitschaft sein.
Wir haben sie vier Wochen lang begleitet und hofften, dass in dieser Zeit eine Hausgeburt stattfinden würde. Auch wir als Drehteam waren ständig in Rufbereitschaft. So bekommt man eine kleine Ahnung, wie es ist, abends ins Bett zu gehen und trotzdem erreichbar sein zu müssen. Auch bei Kanchan in Nepal verschwimmen diese Grenzen, wenn Frauen mit ihren Anliegen zu ihr nach Hause kommen.
 
 
Ausgerechnet Kanchan, die nepalesische Hebamme, bedauert, dass sie berufsbedingt ihren Kindern nicht die Zuwendung bieten konnte, wie sie es allen Müttern empfiehlt.
 
NICOLE SCHERG:
Hebamme ist ein Frauenberuf. In vielen Ländern ist es keineswegs selbstverständlich, dass Frauen überhaupt einen Beruf ausüben dürfen. Als ältester Frauenberuf der Welt ist er auch aus frauenpolitischer Sicht so interessant. Bei Kanchan hat ihr Mann sich um die Kinder gekümmert. Das war gewiss eine vollkommen atypische Familienkonstellation. Verständlich, dass sie traurig ist, weil sie ihren eigenen Kindern nicht das geben konnte, was sie anderen Müttern so ans Herz legt, etwa im Wochenbett zu bleiben, zu stillen oder für ihre Kinder da zu sein. Kanchan stand zwischen dem, was es bedeutet, Hebamme zu sein, und dem, was es heißt, Mutter zu sein – welcher Rolle kann man überhaupt gerecht werden? Für mich zeigt das sehr gut, was viele arbeitende Frauen erleben: die ständige Balance zwischen Beruf, Familie und den eigenen Bedürfnissen, die oft schwer auszuhalten ist.


Die Kameraarbeit von DoP Marie-Thérèse Zumtobel absolviert den ganzen Film hindurch eine Gratwanderung zwischen Nähe und respektvoller Zurückhaltung. Sie haben sich dafür entscheiden, sehr nahe zu sein, besonders auch an den Müttern. Wie haben Sie die Kameraarbeit konzipiert? Wie sind Sie während des Drehs in Dialog getreten?
 
NICOLE SCHERG:
Es war ein Herantasten. Von Dreh zu Dreh sind wir mutiger geworden und haben uns immer näher an die Geburten herangetraut. Bei den Geburten selbst waren wir zu dritt. Marie-Thérèse an der Kamera, ich direkt dahinter, und unsere Tonfrau. Wir haben versucht, eine Einheit zu bilden, um so unauffällig wie möglich zu sein. Unsere Zusammenarbeit ist über die fünf Drehs auch gewachsen und irgendwann reichten Handbewegungen oder Blicke, um uns zu verständigen. Die Frauen, Hebammen und Gebärenden haben uns irgendwann einfach vergessen. Sie waren mit ihrer Geburtsarbeit beschäftigt, wir damit, ihre Arbeit filmisch einzufangen. Ich hatte nicht das Gefühl, zu stören. Viele waren sogar stolz, dass wir ihre Arbeit so in den Mittelpunkt gestellt haben. Nur einmal haben wir den Raum verlassen, weil wir dachten, dass es für die Frau besser ist. Später hat sie uns über die Hebamme wieder reinholen lassen und wir haben weitergedreht. Von Anfang an war klar vereinbart, dass wir sofort gehen würden, wenn es jemand wünscht. Die Frauen vertrauten den Hebammen und die Hebammen vertrauten uns. Die Vertrauenskette hat sehr gut funktioniert.
 
 
WISE WOMEN wollte einem universellen Wissen auf die Spur gehen. Wie ließe sich rückblickend nun dieses Wissen auf den Punkt bringen? Welches Wissen haben die Mütter, welches die Hebammen vermittelt?
 
NICOLE SCHERG:
Das ist nicht einfach zu beantworten, aber für mich ist Vertrauen das zentrale Element. Vertrauen, dass Geburt ein natürlicher Prozess ist, der im Normalfall funktioniert. Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Kraft. Und die Hebammen sind die Fachfrauen dabei. Sie sind wie Wächterinnen über den Prozess, sie geben Sicherheit, greifen ein, wenn es nötig ist. Und lassen zugleich die Frauen ihre eigene Verantwortung und Kraft spüren.
 
 
Es war ein Film, der fast ausschließlich in einer women’s world gedreht wurde.
 
NICOLE SCHERG:
Ja, es war absolut eine women’s world: Wir waren ein weibliches Drehteam und haben vor Ort fast ausschließlich mit Frauen gearbeitet. Das war auch die Grundvoraussetzung, dass wir den Frauen überhaupt nahekommen konnten und bei den Geburten dabei sein durften. Ich hätte nicht erwartet, wie besonders es ist, in solchen starken Frauenkreisen unterwegs zu sein. Natürlich ging es bei den Drehs stark um Frauenthemen, egal ob im Gespräch mit den Frauen und Hebammen oder innerhalb des Teams. Je nachdem, wo jede von uns gerade stand, ging es um Fragen wie: Will ich überhaupt Mutter werden? Wie habe ich die Geburt meiner eigenen Kinder erlebt? Was ist meine Sicht auf Frau-Sein? Wie kann ich meinen Beruf mit Mutterschaft vereinbaren – ein Thema, das für uns Kreativschaffende und Hebammen gleichermaßen allgegenwärtig war. All diese großen Fragen waren während der ganzen Dreharbeiten präsent. Es war schön zu sehen, welche Entwicklung jede von uns während der langen Zeit, in der der Film entstand, genommen hat.
 
 
Interview: Karin Schiefer
September 2025




«Geburt ist ein Moment extremer Intensität – man steht quasi zwischen den Welten. Das Leben ist endlich, und diese Vergänglichkeit verbindet uns. Die Hebammen sind die Schwellenhüterinnen bei diesem Übergang.»