INTERVIEW

«Im globalen Kontext löst man mit Zäunen gar nichts.»

Die Ankündigung der österreichischen Bundesregierung am Grenzübergang Brenner gegen potenzielle Flüchtlingsströme aus Italien einen Zaun aufzuziehen, veranlasste Nikolaus Geyrhalter zum Aufbruch nach Tirol, um in Die bauliche Maßnahme die Entstehung dieser Sperre festzuhalten. Hochgezogen wurde der Maschendraht letztlich doch nicht und vor Geyrhalters wachsamer Kamera entstand ein Film über die Grenzen des Konzepts Grenze, über Barrieren in den Köpfen, über die Gleichgültigkeit der Landschaft und das Verpuffen von Aufregung.
 
 

Der österreichisch-italienische Grenzübergang am Brenner, heißt es an einer Stelle im Film, sei ein besonderer Grenzübergang, der sich mit anderen Übergängen nicht vergleichen lässt. Was hat es mit dem Brenner so Besonderes auf sich?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Brennergrenze verläuft zwischen Nord- und Südtirol und trennt eine Region, die sich historisch immer als Einheit verstanden hat. Deshalb hat diese derzeit noch offene Grenze für die Tiroler auch so eine besondere Bedeutung. Und über den Brenner verläuft eine der Haupt-Transitrouten zwischen Nord- und Südeuropa. Der Brenner hat also große Symbolkraft, deshalb war die Idee eines Zaunes dort auch so ein polarisierendes Reizthema.
 
 
Ihre erste Einstellung am Bahnhof Brenner zeigt eine horizontale Linie – über die Staatsgrenze hinweg aneinander gehängte Zugwaggons – also eine verbindende Linie und, impliziert durch die beiden Schilder – Österreich und Italien – , eine vertikale – trennende – Linie. Ist Die bauliche Maßnahme in erster Linie ein Essay über das Konzept Grenze und das Leben an der, mit der Grenze und ohne die Grenze?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Ausgangssituation für den Film war die, dass an der Brennergrenze ein Zaun aufgezogen werden sollte, um ankommende Flüchtlingsströme aufzuhalten. Für mich war unvorstellbar, dass innerhalb Europas, wo während eines hart erkämpften Friedensprozesses nach und nach Grenzen abgebaut wurden, plötzlich wieder Zäune aufgestellt werden sollten. Da verspürte ich die Notwendigkeit, filmisch zu intervenieren. Ursprünglich ging ich vom tatsächlichen Bau des Zaunes aus und ich wollte die Entstehung dieser Barriere in all ihren Etappen dokumentarisch beobachtend festhalten. Schlussendlich wurde der groß angekündigte Zaun nie gebaut. Das war prinzipiell gut, hat den geplanten Film aber natürlich verändert. Alleine die Idee, dass am Brenner ein Grenzzaun gebaut werden könnte, hat in den Menschen viel ausgelöst. Das war Anlass, Ängste, Protest und Zorn zu formulieren. Der nie gebaute Zaun war ein Reizthema auf allen Seiten und Gelegenheit über eine offene, geschlossene oder halboffene Grenze zu reflektieren.
 
 
Haben Sie sich in Ihrer Verantwortung als Filmemacher berufen gefühlt, angesichts der einseitigen Berichterstattung und der Schlagzeilen einen Gegencheck anzustellen?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Politik operiert in der Flüchtlingsfrage mit Angst, die zunächst geschürt wird und dann gut bedient werden kann. Zum Zeitpunkt der Ankündigung hat man eigentlich gewusst, dass syrische Flüchtlinge – und um die ging es ja hauptsächlich – nach der Schließung der sogenannten „Balkan-Route“ nicht eine weitere riskante Meeresüberquerung auf sich nehmen würden, um über Italien nach Europa zu gelangen. Trotzdem wurden lautstark Grenzsicherungsmaßnahmen auch am Brenner verkündet. Wenn man sich anschaut, welcher finanzielle Aufwand für Grenzsicherung betrieben wird, frage ich mich, ob das Geld europaweit nicht zum Teil sinnvoller einsetzbar wäre. Im globalen Kontext löst man mit Zäunen gar nichts. Die Medienberichterstattung war ab einem gewissen Zeitpunkt plötzlich sehr einseitig. Lange haben wir eine Willkommenskultur gepflegt, die von der Zivilgesellschaft getragen wurde. Auf einmal ist die Stimmung in fast allen Medien gekippt, es wurde beschlossen, das Boot sei voll und es wurden Kontingente für Flüchtlinge festgelegt, deren Konsequenzen und Rechtmäßigkeit nie zu Ende gedacht wurden. Eine Augenauswischerei, aber viele Menschen waren damit wohl zufrieden. Ich wollte mir jedenfalls genau anschauen, was es für einen Ort bedeutet, wenn plötzlich Registrierzentren aufgestellt, Polizisten stationiert und Zäune errichtet werden. Das wollte ich beobachten und analytisch dokumentieren, ein politisches Zeitdokument schaffen. Ich gehe gerne dorthin, wo man normalerweise nicht so genau hinschaut.
 
 
In Ihrem letzten Film Homo Sapiens haben Sie mit Orten, wo keine Menschen mehr sind, eine mögliche Zukunftsvision in unseren Köpfen entstehen lassen, ihr aktuelles Projekt ERDE setzt sich mit dem Element auseinander, das für unsere Grundlage schlechthin steht, damit auch für unsere Entstehung und Vergangenheit.Es ist doch sehr interessant, dass genau zwischen diesen beiden Projekten ein Film entsteht, der zu einem aktuellen politischen Anlass Stellung nimmt. Wie anders haben sich die Rahmenbedingungen dafür dargestellt?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Prinzipiell glaube ich, dass alle Filme, die ich mache, politisch sind. Manche auf eine direktere, andere auf eine indirektere Art. Bei Die bauliche Maßnahme war es so, dass ich mir sagte, „Da passiert gerade etwas an unseren Grenzen, das man nicht einfach unkommentiert geschehen lassen darf.“ Am Tag, als zum Thema Zaun eine Pressekonferenz abgehalten wurde, war eine ganze Reihe von Fernsehteams da; drei Tage später waren wir die einzigen Medienvertreter. Deshalb haben die Leute uns auch vertraut. Sie haben gesehen, dass wir uns wirklich interessierten und nicht schnell einen News-Beitrag gestalten wollten. Vor Ort zu sein, immer wieder nachzufragen, Entwicklungen wahrzunehmen, das macht den Unterschied aus. Im genauen, scharfen Blick liegt auch eine Haltung.
 
 
Wie schnell schaffen Sie sich einen Grundraster, in dem Sie Ihre Arbeit beginnen können?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: In diesem Fall haben wir uns fast zwei Jahre für die Dreharbeiten Zeit genommen. Auch deshalb, weil der Zaun entgegen der Ankündigung 2015 nicht gebaut wurde, und auch 2016 war er noch ein Thema. Ganz vom Tisch ist er im übrigen ja noch immer nicht. Generell mache ich Filme natürlich nicht alleine, sondern ich habe ein Team, das mit mir arbeitet. In diesem Fall hat Eva Hausberger Recherche und Regieassistenz gemacht. Sie war meist eine Woche vor dem Dreh dort, hat Leute gecastet, das Projekt erklärt, ProtagonistInnen, Standpunkte, Orte gesucht. Dass man sich umhört und die Augen offen hält, das geht auch während des Drehs weiter. Der Ort selbst ist ja eine kleine dörfliche Struktur mit einer Bundesstraße und einer Autobahn mittendurch. Jeder kennt jeden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich zunächst das Terrain erobern muss, um dort arbeiten zu dürfen. Wenn das geschafft ist, dann geht sehr viel. Das habe ich immer wieder bei privaten Personen ebenso erfahren wie bei Behörden oder beim Bundesheer. In Tirol haben sich letztendlich alle Seiten als sehr kooperativ erwiesen, und ich hatte den Eindruck, dass alle verstanden haben, worauf wir hinaus wollten: nämlich auf nichts anderes als einen Ort zu zeigen, auf den die Öffentlichkeit einen Augenblick hin-, und dann schon wieder weggeschaut hat.
 
 
Sie lassen die mediale Berichterstattung zur Flüchtlingssituation immer wieder über Fernsehen oder Radio in Ihre Filmbilder einfließen. Wie haben Sie versucht, die beiden Blickwinkel zu konterkarieren?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Es war von Beginn an klar, dass das in den Medien transportierte Bild und das reale Bild vor Ort sehr wenig miteinander zu tun gehabt haben. Deshalb hielt ich es auch für interessant, die Medien in unseren Bildern ankommen zu lassen, dass die Minister in der Bahnhofskneipe  aus dem Fernseher sprechen, dass im Wohnzimmer unserer ProtagonistInnen die Nachrichten laufen. Diese verkürzte Realität vor Ort nochmals zu spiegeln, hat ja vieles absurd erscheinen lassen. Man konnte ja gemäß der Berichterstattung annehmen, dass sich unbeschreibliche Menschenmassen vor der Grenze sammeln, die Tirol und Österreich unmittelbar bedrohen. Zu beobachten, wie die Schlagzeilen, wie die massive Angstmache am Ort ihres vermeintlichen Ursprungs einfach verhallt, war mir ein großes Anliegen. Und zu zeigen, dass es dort ein kleines Dorf gibt, wo alles weitgehend unverändert ist und das in keinster Weise mit der medial konstruierten Hysterie übereinstimmt.
 
 
Zentrales Element dieses Films sind die Menschen und die Gespräche mit ihnen. Ging es Ihnen in erster Linie darum Menschen zu finden, deren Leben geprägt ist von einer Grenze, die immer schon mit dem Trennenden und Verbindenden klarkommen mussten?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Hauptsächlich hat mich die Frage beschäftigt: „Wie lebt man mit einer Grenze, die ständig ihre Form verändert?“ Diese Grenze hat im Laufe der Geschichte viele Gesichter gehabt, und ich habe das Gefühl, dass die Tiroler davon ziemlich unbeeindruckt sind. Daher hat sie der inszenierte Wirbel um den Zaun auch nicht aus der Fassung gebracht. Das Leben an einer Grenze finde ich interessant, weil eine Grenze immer etwas künstlich Geschaffenes ist. Wäre die Grenze nicht da, wäre alles irgendwie anders und trotzdem gleich. Fährt man von Nord- nach Südtirol, dann spürt man keine große Veränderung. Der Kaffee schmeckt im Süden vielleicht besser. Aber im Grunde sind das Konstrukte, die für mich anachronistisch sind. Ich fühle mich durch und durch als Europäer und Grenzen sind für mich etwas Irrelevantes. Dort, wo sie noch vorhanden sind, dort werden sie sich früher oder später auch auflösen, weil die Welt durch die Art der Kommunikation immer weiter zusammenwachsen wird, egal ob man das gut findet oder nicht. Es wird passieren, und wir werden damit umgehen müssen. Man kann einfach nicht mehr länger verleugnen, dass Gegenden auf dieser Welt existieren, wo es den Leuten deutlich schlechter geht. Wir können hier nicht so tun, als ob es die anderen Enden der Welt nicht gäbe, wo Produkte herkommen, die wir zu billig kaufen und wo Konflikte entstehen, deren Ursprünge historisch betrachtet auf unser Tun zurückzuführen sind. Dessen werden sich immer mehr Menschen gewahr und sehen Europa und die Welt als Einheit. Für mich persönlich sind Grenzen nicht mehr zeitgemäß. Das heißt nicht, dass die Zukunft einfach und konfliktfrei sein wird. Aber wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Von da her haben Grenzen etwas Faszinierendes, weil sie unnatürlich sind und sich dennoch in den Köpfen festmachen und ganze Landstriche und Mentalitäten verändern können.
 
 
In der Gesprächsführung ist man an Über die Jahre erinnert, wo man Sie als Dialogpartner fragen hört. Sie fragen oft nach, lassen ausweichende Antworten nicht durchgehen. Wie sehr sind diese Momente Gratwanderungen, wonach lassen Sie sich in Ihrer Gesprächsführung leiten?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Das Interview-Führen ist logischerweise eine Gefühlssache. Es ist immer eine heikle Frage, wie weit gehe ich, was lässt man zu? Das hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Im Grunde genommen kommt es in jedem Film genau darauf an. Man bekommt oft Antworten, die man innerlich vollkommen teilt und dann kommen auch solche Antworten, wo man eher auf einer anderen Seite steht. Genau diese Antworten braucht es aber auch für den Film, und auch diese Meinungen haben ihre Berechtigung. Ich glaube, dass mein Film zum Thema Zaun und Grenze eine eindeutige Haltung hat, und dennoch ist es legitim, dass andere Meinungen als meine in diesem Film artikuliert werden. Diese aber so einzubetten, dass es nicht als falsch oder richtig, gut oder böse rüberkommt, das ist das Schwierige, viel schwieriger als Interviews zu führen. Das Entscheidende ist, im Film einen Diskurs zu schaffen, aus dem jeder erhobenen Hauptes rausgehen kann, egal wo er politisch steht. Die bestehenden Ängste haben ihre Ursachen, ob sie begründet scheinen oder nicht. Das genauer zu verstehen, war eine meiner Intentionen.
Es ist mir beim Drehen wichtig, eine konzentrierte Situation zu schaffen. Wenn man nicht auf den Punkt kommt, dann muss man genauer nachfragen. Prinzipiell versuche ich, eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen zu lassen, in der man sich die Kamera wegdenken kann.
 
 
Die Gesprächsführung in DIE BAULICHE MASSNAHME verbindet sich, um nicht zu sagen verschmilzt in manchen Fällen gerade zu mit der Arbeit. Was hat Sie veranlasst, das Gespräch und den Alltag so überlappend zusammenzuführen?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Das hat sehr viel mit den Situationen zu tun. Die Szene an der Mautstelle war mir zum Beispiel wichtig, weil diese Autobahn mit ihrem Verkehrsaufkommen Bestandteil des Lebens der Menschen vor Ort ist. Ein Leben ohne Brennerautobahn ist undenkbar, und vorher muss es noch schlimmer gewesen sein. Diese Autobahn ist ein Segen und ein Wahnsinn zugleich. Die Mautstelle ist ein Sinnbild dafür. Ich drehe Interviews sehr gerne während der Arbeit. Das geht nur bei mechanischen, repetitiven Tätigkeiten, wo die Person ihren Platz nicht verlässt. Dass Spannende daran ist, dass man zuhören und beobachten zugleich kann. Es ist eine entschleunigte Methode, ein Interview zu führen, und gleichzeitig werden Dinge mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht.
 
 
Faszinierend ist, dass Sie Menschen begegnen, die einen sehr menschlichen und differenzierten Blick auf die Situation mit den Flüchtlingen haben und die gesetzliche Maßnahmen wie auch die Politik der Angstmache mit etwas wie gesundem Herzensverstand beantworten. Hat Sie das selbst überrascht?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Es hat mich sehr erleichtert. Es ist zutiefst beruhigend, auf Menschen zu treffen, die ihre eigene Meinung haben und sich diese nicht madig machen lassen. Es entspricht vielleicht etwas dem Tiroler Klischee, aber mein Eindruck ist der, dass die Tiroler primär das tun, was ihnen richtig erscheint. Ich hatte auch bei der Exekutive nie den Eindruck, dass irgendein Auftrag grundsätzlich in Frage gestellt wurde, aber es wurde alles noch einmal abgewogen und mit Augenmaß adaptiert. Die Leute haben mir das in Gesprächen auch immer wieder erklärt, dass das viel mit dieser kleinen, autarken Welt zu tun hat, die rundherum von Bergen eingeschlossen ist. Der typische Tiroler, wenn man das so inkorrekt verkürzen möchte, hat seine Meinung und steht dazu, egal ob das dem Gegenüber passt oder nicht. Auch das habe ich sehr oft erfahren.
 
 
Im Zentrum stehen Gespräche und somit auch die Sprache. Auffallend ist eine Sprache voller Neologismen (beispielsweise „Personenerfassungsstraße“), aber auch eine Sprache der Exekutive, die zwischen den Zeilen schwingt, eine Sprache der Medien, die mit jener der Angstmache und Dramatisierung der Sprache der Politik einhergeht, und eine Sprache der Menschen, des Herzens. Es ist ein Film geworden, wo das Wort eine wesentliche Rolle spielt.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Das hat damit zu tun, dass das eigentliche Thema unsichtbar ist. Während unserer gesamten Drehzeit wurde ein nicht-existentes Thema verhandelt, das geht nur über die Sprache, die wiederum sehr viele Facetten hat. Die offizielle Mediensprache ist eine sehr mechanische Sprache, die auch Angst auslöst. Ich fand es spannend, die Politikersprache in einem Wirtshaus widerhallen zu spüren. Alle reden vom selben, aber es gibt deutlich graduelle Unterschiede, wie darüber gesprochen wird.
 
 
Haben Sie bewusst entschieden, keine ankommenden Flüchtlinge zu Wort kommen zu lassen oder hat sich schlicht die Gelegenheit nicht geboten?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Zum einen sind am Brenner nur sehr wenige Flüchtlinge. Zum anderen haben wir uns früh dafür entschieden, keine Flüchtlinge zu zeigen. Es ist kein Flüchtlingsfilm, sondern ein Film darüber, wie wir Österreicher mit den Flüchtlingen umgehen: „Wir fürchten uns. Wir glauben uns schützen zu müssen. Wir bauen Zäune.“ Es ist ein genaueres Hinschauen auf die, die sich einzäunen und nicht auf jene, die zu uns kommen wollen. Das hat viele Gründe: Erstens fand ich diesen Blickwinkel interessanter. Zweitens hätte ich es für ziemlich respektlos gehalten, jemanden, der sich gerade über die Grenze geschmuggelt hat, vor die Kamera zu bitten. Filme über Flüchtlinge und deren Alltagssituationen gibt es Gott sei dank bereits, das ist für das gegenseitige Verständnis auch ungemein wichtig; warum und woher diese Menschen kommen, ist bereits bekannt. Mich interessierte zu diesem Zeitpunkt vielmehr, den Österreichern in die Augen zu schauen und zu fragen, warum glauben wir, dass mit der Aufnahme von Geflüchteten Schluss sein muss, warum wird ein Ruf nach Zäunen laut, woher kommen diese Ängste?
 
 
Die Gespräche sind immer wieder konterkariert mit Totalen auf eine (schöne) Landschaft, die den Begriff der Grenze als Willkürakt sichtbar macht, und den Bildern von Verkehrswegen, die am Brenner landschaftsprägend sind und ein Symbol für Verbindung sind. Welche Rolle kommt der Landschaft zu?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Landschaft dort ist diesseits und jenseits der Grenze ziemlich gleich schön. Landschaft verhält sich einer Grenze gegenüber völlig indifferent. Dem Baum ist es egal, ob er in Italien steht oder nicht. Landschaft hat in diesem Fall etwas Verwechselbares, und das ist auch gut so. Andererseits liefert die Landschaft den Hintergrund für die ganze Geschichte. Es ist die Landschaft, in der die Menschen leben, die wir befragt haben, und es ist die Landschaft, in die die Personen, die wir nicht befragt haben, gerne kommen möchten, weil sie sich hier einen sicheren Ort erhoffen. Die Grenze per se, die Autobahn, die sich dauerhaft durch diese Landschaft durchschlängelt, das waren Fixpunkte, auf die ich immer wieder in meinen Bildern hinweisen wollte. Sozusagen die Grundausstattung. Irgendjemand hat gesagt, es sei ein ziemlich tirolerischer Heimatfilm. Vielleicht trifft das auch zu.
 
 
Die Schnitte erscheinen mir sehr kontrastreich und abrupt, auch ein Mittel um formal immer wieder die Erfahrung der Grenze und des Übergangs zu vermitteln? Haben Sie in diesem Film härtere Schnitte gesetzt?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Ich finde, wir haben sehr liebevoll geschnitten, aber es gibt Momente, gerade bei Medienausschnitten oder Politikern im Fernsehen, wo einfach der Punkt erreicht war, an dem wir nicht mehr länger zuhören wollten. Was zu sagen war, war längst gesagt, jedes weitere Wort verzichtbar. Zu diesem Punkt haben wir uns erlaubt abrupt auszusteigen. Auch um den Preis, dass wir manchen PolitikerInnen ins Wort geschnitten haben. Da haben wir lieber die Leute ausreden lassen, die in dem Wohnzimmer sitzen, wo der Fernseher steht.
Außerdem ist der Brenner ein sehr kontrastreicher Ort, der mich immer wieder überrascht hat und kontrastreiche Schnitte fordert: Wenige hundert Meter von der Autobahn weg ist man schon in einem kleinen Paradies, und wenn man auf den nächsten Berg wandert, hört man von der Autobahn gar nichts mehr. Die vielen Aspekte dieser Landschaft, die die Menschen prägt, wollten wir in ihrer ganzen Palette darstellen: da war die Idee eines Zaunes, die Anrainer, die Proteste, die Exekutive, die damit umgehen musste, das Bundesheer – sie spielen ja alle miteinander und gegeneinander. Es ist faszinierend, wie viele Gegenpole man in so einem Mikrokosmos findet, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Im Film finden sie auf ihre Weise wieder zusammen und formen ein Ganzes, da sie sich ja auch bedingen. Unterm Strich ist es ein Dorf mit Menschen mit den verschiedensten Positionen und alle respektieren einander. Etwas, was im Kleinen noch funktioniert, auf einer großen Ebene aber immer weniger.
 
 
Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Bild, das Sie sich selbst am Brenner gemacht haben, das die Gespräche vermitteln zum politischen Klima in diesem Land?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Während dieser zwei Jahre Drehzeit ist nicht nur Österreich, sondern ganz Europa sukzessive nach rechts gerückt. Es gibt keine Mitte mehr, die politische Landschaft besteht aus Extremen, und der Konsens wird immer geringer. Das haben wir im Zuge der Dreharbeiten im Kleinen wie im Großen beobachten können, und es beunruhigt mich. Ich finde es mitunter gar nicht so wichtig, wo man politisch steht, aber umso wichtiger, dass man mit den anderen redet. Das große Problem der Gegenwart liegt aus meiner Sicht darin, dass sich jeder positioniert und radikalisiert. Die Kunst ist aber die, den Dialog aufrecht zu erhalten und mit den Nachbarn oder den Politikern anderer Couleur zu sprechen. Der Ruck nach Rechts beunruhigt mich, und er hat viel damit zu tun, dass Europa leider bisher nicht in der Lage war, diesen Flüchtlingszustrom zu akzeptieren und konstruktive Lösungen zu finden, ohne dass eine Grundsatzdebatte darüber ausbrechen musste, die letztendlich die Schuld am Versagen Europas den Flüchtlingen zuweist. Man hätte nicht plötzlich alles schlecht reden müssen, und man hätte die Flüchtlinge anders verteilen können. Die totale Verweigerung speziell mancher Visegrad-Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, halte ich für das eigentliche Problem. Aber sie sind damit durchgekommen und dienen jetzt anderen als Vorbild. Auch Österreich ist neuerdings Teil dieses Freundeskreises. Das ist mir einfach zu billig. Der Weg, den Europa jetzt geht, ist nicht der Weg eines starken Europas, das selbstverständlich auch einen großen Flüchtlingszuzug bewältigen kann, so wie das nach der Ungarnkrise oder dem Bosnienkrieg auch möglich war.
Der Weg, den wir jetzt gehen, ist ein schwacher, angsterfüllter und nicht zuletzt sehr egoistischer Weg. Ich glaube, wir könnten es besser.  
 
 
DIE BAULICHE MASSNAHME zeigt auch, wie Realität und Diskurs auseinanderdriften, etwas, das Sie als Dokumentarfilmemacher besonders bewegen muss.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Dafür machen wir Filme – um einen korrigierenden Blick auf unsere Welt zu werfen. Keiner davon wird die Welt verändern. Aber viele Filme zusammen werden zumindest ein bisschen eine andere Realität in den Mittelpunkt rücken. Es gibt so viele Wirklichkeiten – solche, wo man sonst wegschaut, die man nicht sehen will oder zu denen man keinen Zugang hat. Dazu ist das Kino da – um manche davon im Kino erleben zu können.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juni 2018
«Für mich war unvorstellbar, dass innerhalb Europas, wo während eines hart erkämpften Friedensprozesses nach und nach Grenzen abgebaut wurden, plötzlich wieder Zäune aufgestellt werden sollten. Da verspürte ich die Notwendigkeit, filmisch zu intervenieren.»