INTERVIEW

«So ein menschenleerer Ort hat eine besondere Kraft.»

Richie Bravo hat schon glanzvollere Tage gekannt. Dennoch versucht der Schlagersänger durch kleine Auftritte im winterlichen Rimini etwas von der besten Zeit seines Lebens wachzuhalten. Er ist ein rastloser Geist, ständig unterwegs, immer ein paar Schritte vor sich selbst davon, bis sich ihm plötzlich seine vergessene Tochter in den Weg stellt. Ulrich Seidl spannt in RIMINI ein loses Familienband durch drei Generationen, um im Beat des deutschen Schlagers ein Gefühl von Vergehen und Wandel wachzurufen.

 
Im Mittelpunkt von RIMINI steht Richie Bravo, ein Schlagersänger, der schon glanzvollere Tage gekannt hat und der dennoch versucht, durch Auftritte vor seiner kleinen Fangemeinde etwas von der besten Zeit seines Lebens wachzuhalten.  Wie kam es, dass die Musik, das Lied, der Schlager im Besonderen einen so prominenten Platz in Ihrem neuen Filmprojekt eingenommen haben?

ULRICH SEIDL:
Die Idee zu RIMINI geht auf den Schauspieler Michael Thomas zurück. Es war diesmal nicht so, dass wir eine Geschichte erfunden und dann einen Schauspieler für die Hauptrolle gesucht hätten, sondern genau umgekehrt. Es ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie lange eine Figur wächst, bis sie eine zentrale Rolle in einem Film einnimmt. Michael Thomas ist im Laufe seiner Karriere immer wieder als Sänger aufgetreten, ich wusste allerdings nichts davon. Ich konnte mich aber an eine Recherchereise mit ihm für unsere erste Zusammenarbeit Import Export in die Ukraine und an einen Abend in einem Restaurant erinnern, wo eine Band die Gäste mit Musik berieselt hat. Irgendwann ist er aufgestanden und hat begonnen, My Way von Frank Sinatra zu singen. Und mit einem Mal war der ganze Raum in seinen Bann gezogen, weil er mit seiner Stimme und seiner Ausstrahlung eine besondere Stimmung erzeugt hat. Dieser Moment hat mich nicht mehr losgelassen. Erst Jahre später habe ich gemeinsam mit Veronika Franz die Geschichte des Richie Bravo geschrieben, also einer Figur, die in manchen Zügen etwas mit Michael Thomas, wie er so ist, gemein hat. Wenn Michael als Sänger aufgetreten ist, hat er eher Operette gesungen. Dass er ein Schlagersänger ist, ist einer der erfundenen Aspekte dieser Geschichte. Für uns war klar, dass es Schlager sein musste, weil der deutsche Schlager etwas sehr Geradliniges hat. Michael hat sich anfangs ein bisschen gegen das Schlager-Genre gewehrt. Das musste er sich in harter Arbeit für diese Rolle erst aneignen. Umgekehrt spielt er als Richie Bravo auch einen alten Charmeur, etwas, was er selber durchaus ausstrahlt. Unser erster Kontext für diese Figur als Entertainer war ein All-Inclusive-Ferienresort, weil wir zunächst an einem Episoden-Filmprojekt zum Thema Massentourismus gearbeitet haben. Nochmals Jahre später hat diese Figur dann konkrete Züge angenommen, als wir an der Geschichte zweier Brüder und deren Vater schrieben, die zunächst Böse Spiele hieß: Darin gibt es einerseits die Geschichte des jüngeren Bruders Ewald, die in Rumänien spielt und dazu stellte sich plötzlich eine Verbindung zur Rolle des alternden Schlagersängers Richie Bravo her. Das war die Grundkonstellation, zu der dann noch der Konflikt zwischen Richie Bravo und seiner Tochter und der besondere Schauplatz – ein Urlaubsort off season – gekommen sind.

 
Ist ein Teil der Figur des Richie auch erst in Zusammenarbeit mit Michael Thomas entstanden?

ULRICH SEIDL:
Grundsätzlich war Michael Thomas von dieser Rolle total angetan, er hatte aber immer wieder ganz andere Vorstellungen als ich. Das hieß für mich, dass ich immer wieder auch Überzeugungsarbeit leisten musste, um Verständnis für das zu erzeugen, was ich meinte. Er hat natürlich wie viele Schauspieler auch seine eitle Seite, über die er sich selbst von außen betrachtet. Schon in der Arbeit für Import Export hat es Momente gegeben, die viel Diskussion erfordert haben; ich erinnere mich an eine Situation, wo ich von ihm verlangt habe, dass er sich in der Unterhose vor dem Spiegel betrachtet. Aber irgendwann komme ich mit meinen Schauspieler:innen zu einem Punkt, wo sie verstehen, dass sie Dinge zulassen müssen. So war es auch bei RIMINI: Es kam der Zeitpunkt, wo er als Richie Bravo alles zugelassen hat. Anders wäre es nicht gegangen. Wenn man sich innerlich gegen eine Rolle wehrt, funktioniert es nicht. Das betrifft Michael Thomas ebenso wie Inge Maux oder Claudia Martini in den Rollen von Fans, die von Österreich nach Italien reisen, um ihr Idol von früher zu sehen. Man muss es einfach gern machen und sich zu diesem Punkt hin entwickeln.

 
Wie kam es zur Idee, sich zur toten Saison in einen hochtouristischen Sommer-Urlaubsort wie Rimini zu begeben? Welche metaphorische Kraft steckt für Sie in einem Ort, wenn er das Gegenteil seines Images repräsentiert?

ULRICH SEIDL:
Im Episodenfilm-Projekt zum Massentourismus hätten wir den Schlagersänger noch im Sommer in einem Urlaubsort auftreten lassen. In RIMINI ist der Schauplatz zwar ein Sommerurlaubsort, aber der Film spielt im Winter. Diesen Bustourismus zu verwaisten Urlaubsorten im Winter gibt es tatsächlich, was ich zuvor nicht wusste. Es war für mich ein besonders spannender Punkt, einen Ort auszuwählen, dessen Atmosphäre im Winter nichts mit den Assoziationen zu tun hat, die man spontan mit Rimini oder dem Meer verbindet. Ideen entwickeln sich ja nie geradlinig. Richie versucht, sein Leben irgendwie als Sänger zu meistern. Er weiß, mit seiner Karriere ist es vorbei, die einzige Möglichkeit, die sich ihm noch bietet, ist die, in der toten Saison vor einer schmalen Fangemeinde aufzutreten. So ein menschenleerer Ort hat in der Tat eine besondere Kraft, die mir gefällt. Auch wenn man eine Tristesse wahrnimmt, so steckt in ihr etwas Besonderes, was ein belebter Sonnenstrand nie vermitteln würde. Die Tristesse bringt einen auf andere Gedanken und das finde ich schön. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, so ein grauer Ort im Winter ist viel schöner als ein belebter Strand mit Tausenden Sonnenschirmen und blauem Meer. Das finde ich eigentlich gar nicht schön. Nebelstimmungen halte ich für viel tiefgründiger.

 
Es hat ja über den Nebel hinaus an diesem Ort an der Adria auch noch Schnee gegeben. Es scheint so, als hätte es filmisches Wetterglück gegeben.

URLICH SEIDL:
Der Schnee war wirklich ein Glücksfall. Aufs Wetterglück haben wir allerdings lange, lange gewartet. Am Beginn hat sich vielmehr alles gegen uns verschworen. Der Dreh war ursprünglich für Ende November angesetzt, aber von Nebel war weit und breit keine Spur. Nach wenigen Tagen habe ich das Filmteam wieder nach Hause geschickt, weil keine Aussicht auf die Wetterbedingungen war, die wir benötigt hätten. Damit hat sich der ganze Drehablauf sehr verzögert. Geplant war, dass der zweite Teil der Geschichte, wo Richies Bruder Ewald im Mittelpunkt steht und der jetzt Sparta heißt, im selben Winter gedreht wird. Der Schnee in Rimini ist aber erst Ende Februar gekommen, wir konnten den Dreh von Richie Bravos Geschichte erst Mitte März abschließen und waren somit mit unserem ganzen Programm im Hintertreffen. Das Team ist zwar noch nach Rumänien übersiedelt, wir haben dort noch zwei Tage gedreht, dann war Frühling und Schönwetter, für uns war’s damit für diese Saison vorbei. Wir mussten auf den nächsten Winter warten, was natürlich terminliche Probleme mit den Schauspielern nach sich gezogen hat, Georg Friedrich war dann für eine Serie engagiert. Der gesamte Dreh von RIMINI und Sparta hat sich auf zwei Wintersaisonen verteilt.

 
Am Rand der Gassen und Wege, die Richie stets in seinem eiligen Schritt durchschreitet, sitzen in schwarze Schleier gehüllte Gestalten. Sie wirken wie anonyme, stumme Zeugen des Geschehens, die etwas Geheimnisvolles, auch Bedrohliches an sich haben und sie erinnern an die stummen schwarzafrikanischen Lodge-Mitarbeiter in Safari. Ist es ein Versuch, skizzenhaft den durch Migration und Flucht geprägten gesellschaftlichen Kontext anzudeuten? 

URLICH SEIDL:
 Geflüchtete Menschen sind unsere gesellschaftliche Realität. Sie sind überall, da ist nichts speziell auf Rimini gemünzt. Auch dort leben Geflüchtete. Aber es ist auch bekannt, dass gerade in Orten, die vom Tourismus leben, seitens der Politik wie seitens der Geschäftstreibenden viel versucht wird, um dieses Thema aus der Wahrnehmung zu verdrängen. In Rimini sieht man die Geflüchteten eher am Bahnhof oder in der Innenstadt, aber nicht dort, wo sich die Touristen aufhalten. RIMINI ist ein Spielfilm, aber es war mir natürlich wichtig, dass dieses Thema als Abbildung der Realität vorkommt. Daher bleiben diese Menschen ganz bewusst stumm, sie sind zwar da, aber sie sind keine Akteure.
 

Am Schluss ist wird der ganze Platz im Haus, über den Richie bisher allein verfügt hat, von muslimischen Geflüchteten vereinnahmt. Zu verdanken hat er das seiner Tochter Tessa, die ihm auf ihre Weise sein Verhalten ihr gegenüber heimzahlt. Wie sehr entspricht Tessas Geschichte auf einer individuellen Ebene, dem, was diese Menschen auf einer gesellschaftlichen Ebene andeuten: das Einfordern von Gerechtigkeit/Genugtuung für Vernachlässigung und Benachteiligung seitens der westlichen Welt?

ULRICH SEIDL:
Letztendlich ist es Tessa, Richies Tochter, die Forderungen stellt, die den Ton angibt und die in der Konfrontation mit ihrem Vater als die Gewinnerin hervorgeht. Er wehrt sich auch gar nicht. Irgendwann sieht er ein, dass er sich ergeben muss und auf gewisse Weise will er das auch. Wenn man als Zuschauer darin eine Parabel sehen will, so steht das jedem offen. Ich will mit meinem Film nicht nur „das Eine“ sagen und schon gar nicht nur auf eine Bedeutung hinweisen. Man kann auch sehen, dass Tessas Generation mit den geflüchteten Menschen ganz anders umgeht als die Generation ihres Vaters, deren Haltung von Misstrauen geprägt ist.

 
Am Beginn des Films kommen zwei Männer – Richie und Ewald – anlässlich des Todes ihrer Mutter nach Hause. Man erlebt die beiden mit ihrem dementen Vater, Richie mit seiner erwachsenen Tochter, die am Ende ein Kind erwartet. Man hat den Eindruck, sie haben stärker als sonst in RIMINI eine Familiengeschichte erzählt.

ULRICH SEIDL:
Das sehe ich auch so. In früheren Drehbuchfassungen war es noch anders, die beiden Brüder waren aber immer ein wesentlicher Aspekt. RIMINI ist auch deshalb ein Familienfilm, weil diese Beziehung und auch die Auseinandersetzung zwischen Vater Richie und Tochter Tessa im Zentrum steht. Eine wesentliche Rolle spielt aus meiner Sicht auch die Figur der Mutter, die, obwohl sie zu Beginn des Films bereits gestorben ist, immer wieder präsent ist. Zunächst durch das Begräbnis, zu dem die Söhne nach Hause kommen; Richie Bravo erzählt später, dass er seinen ersten Orgasmus mit seiner Mutter erlebt hat und am Ende des Films erlebt man den Vater von Richie und Ewald allein und verzweifelt in seinem Zimmer nach der Mutter rufen.

 
Von der verstorbenen Großmutter zur Schwangerschaft Tessas spannt sich über mehrere Generationen ein existentieller Bogen, das Thema der Vergänglichkeit ist nicht zuletzt auch durch Richies entschwundenen Ruhm präsent. Ein weiteres Motiv?

ULRICH SEIDL:
Ich habe auch den Aspekt, dass man von der Vergangenheit wieder eingeholt wird, als ein verbindendes Element gesehen: der sehr alte Vater durch seine Söhne, Richie durch seine Tochter. Ich mache keine psychologisierenden Filme und es wäre falsch, aufgrund der Andeutungen, dass der Vater von Richie und Ewald in der Zeit des Nationalsozialismus ein junger Mann und vielleicht ein Nazi war, Schlüsse auf die Lebensgeschichten der Söhne zu ziehen. Es wird schon Gründe gegeben haben, dass die beiden weit von zu Hause weggegangen sind. Es ist nie die Intention meiner Filme, Gründe für ein Verhalten festzulegen, aber man kann sich dazu seine Gedanken machen. Richtig ist, dass man als Teil einer Familie, ob als Kind oder als Elternteil, nicht davor gefeit ist, Irrtümer zu begehen und auf das Verhalten der anderen Familienmitglieder einzuwirken.

 
Richie scheint mir in visueller Hinsicht zweifach charakterisiert zu werden – zum einen durch sein Kostüm, ob das nun die Unmengen an Bühnengewändern in seinem Schrank sind oder der Mantel aus Seehundfell, den er quasi auf der bloßen Haut trägt. Das andere Element ist der Umstand, dass er ständig in Unruhe ist und immer zu Fuß von einem Ort zum anderen geht. Wie hat sich diese Bewegung herauskristallisiert? War die Kostümarbeit für diesen Film intensiver als sonst?

ULRICH SEIDL:
Ich würde sagen, die Zusammenarbeit hat sich so wie immer gestaltet. Zum Seehundmantel muss man sagen, dass Michael Thomas in der Zeit der Rollenfindung diesen Mantel völlig zufällig auf dem Flohmarkt aufgetrieben hat. Manchmal öffnen so kleine Zufälle eine ganze Welt. Die Auftrittskostüme stammen alle von Tanja Hausner und ich halte sie für grandios. Auf Kostüme ebenso wie auch auf die Orte lege ich immer besonders großen Wert. Rimini ist ja als Drehort nicht von Anfang an festgestanden. Ich hatte seit ewigen Zeiten Bilder von der Adria im Nebel/im Winter im Kopf, dachte aber eher daran, dass ich dort mal fotografieren sollte. Plötzlich fällt einem etwas wieder ein und so kommt man Schritt für Schritt zu den wesentlichen Elementen der ganzen Erzählung. Das Gehen von Richie ist eine szenische Entscheidung, die wahrscheinlich viel mit dem Ort zu tun hat. Ich kann nicht sagen, wie bewusst ich so eine Entscheidung treffe. Ich sehe dann Bilder vor mir und in diesem Fall ist Richie eben von A nach B gegangen; ich denke, es passt ganz einfach zu ihm. Ich hätte ihn mir schwer als jemanden vorstellen können, der in ein Auto steigt, um irgendwo hinzukommen. Das Gehen passt an diesen Ort. Auch wenn Rimini ein Urlaubsort mit 3000 Hotels ist, so kann man so eine Welt sehr gut verdichten.

 
Die Schlager, die im Film zu hören sind, sind einerseits bekannte Nummern u.a. von Udo Jürgens, andere wiederum wurden extra für diesen Film komponiert. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

ULRICH SEIDL:
Es gibt einige Schicksale von deutschen Schlagersängern, bei denen es mit einem Schlag mit der Karriere vorbei war und die dann einfach abgesackt sind. Das war eine zusätzliche Komponente zur musikalischen, die für den deutschsprachigen Schlager als Musikgenre gesprochen haben. Es gibt zwei Nummern von Udo Jürgens und einen weiteren bereits existierenden Schlager. Alles andere wurde von Fritz Ostermayer und Herwig Zamernik komponiert. Wir haben sie beauftragt, weil Fritz Ostermayer ein großer Experte für Schlagermusik ist und was die beiden als Komponisten da hervorgebracht haben, ist genial. Bei den meisten Schlagern, die für den Film entstanden sind, kann man gar nicht glauben, dass es sie nicht schon längst gegeben hat. Mindestens ein Jahr vor Drehbeginn war die Musik bereits geschrieben und die beiden haben sie mit Michael Thomas auch einstudiert. Er hat ja, wie gesagt, als Sänger tendenziell einen eher operettenhaften Zugang und es war sehr harte Arbeit für ihn, sich gesanglich in diesem Stil einzufinden. Er hat das aber wirklich sehr gut gemacht.

 
Interview: Karin Schiefer
März 2022
 

«Ein grauer Ort im Winter ist viel schöner als ein belebter Strand mit Tausenden Sonnenschirmen und blauem Meer. Nebelstimmungen halte ich für viel tiefgründiger.»