INTERVIEW

«Arbeit  ist Lebenszeit. Das wird in diesem Film so besonders deutlich.»

 

Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer über ihr Langzeitprojekt Über die Jahre, das bei der Berlinale 2015 in der Reihe Forum Weltpremiere feiert.

 
Was repräsentierte die Firma Anderl in ihrer Blütezeit?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Die Firma Anderl war einer von mehreren im Waldviertel angesiedelten Textilbetriebe. Wir haben uns mit der Geschichte des Unternehmens nicht näher auseinandergesetzt. Die Firma soll in ihren guten Zeiten 300 Mitarbeiter gehabt haben und hat in erster Linie Industrietextilien hergestellt. 
 
Wolfgang Widerhofer: Die Region ist nicht sehr stark besiedelt, es gibt nur wenige Formen von Industrie, eine davon war die Textilindustrie, die bereits im 19. Jh. erste Standorte schuf.

 
Wie sah die wirtschaftliche Lage der Firma aus, als sie ein Thema für ein Filmprojekt wurde?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Als wir davon hörten, war schon klar, dass es wirtschaftlich nicht mehr rentabel sein konnte. Es war offensichtlich, dass nie investiert wurde und es dort zu Betriebszeiten schon wie in einem Museum aussah.

 
Der Titel des Projekts lautete lange Die letzten Tage, nun Über die Jahre. Es hat sich aus dem Begleiten des Endes zu einer Dokumentation eines Wandels entwickelt. War der Film  von Beginn an als langes Projekt konzipiert?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Der Film war immer als Langzeitbeobachtung geplant, allerdings nicht in dieser Länge. Ursprünglich waren drei Jahre angedacht. Dass es sich dann so ausweitete, war ein Glücksfall.

 
Wie vollzog sich die Entwicklung vom Bruch – Schließung der Fabrik – zur Kontinuität – das Leben der Protagonisten über zehn Jahre.

WOLFGANG WIDERHOFER: Es ist schon richtig gesehen, dass wir zuerst „die letzten Tage“ beobachtet haben, weil wir ja nicht wussten, was sich ergeben würde. „Die letzten Tage“ war ein schöner Titel, der Film hat aber einen anderen Ton bekommen. Er hat sich von diesem Niedergangs-Gefühl zum Zeitpunkt der Schließung in etwas Positives gewandelt. Es hat uns überrascht und gefreut, dass der Film trotz der schwierigen Verhältnisse diese positive Energie bekommen hat. Der Film zeigt, wie die Menschen damit umgehen, was für kreative und starke Lösungen sie für ihre Probleme finden.

 
Sie filmten in einem ländlichen Raum, wo das Reden, besonders das über sich selbst, nicht unbedingt sehr gängig ist. Wie sind Sie mit der Wortkargheit ihrer Protagonisten umgegangen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Das war sehr unterschiedlich. Am einfachsten war es noch in der Fabrik, weil es ein Wunsch von Herrn Hein, dem Eigentümer, war, dass sich alle filmen lassen. Es hat ihn gefreut, dass die Fabrik nochmals so in den Genuss von Aufmerksamkeit gelangte. Später war es dann von Person zu Person verschieden. Die einen brauchten mehr, die anderen weniger Überredungskunst.

WOLFGANG WIDERHOFER:  Dazu muss man sagen, dass Nikolaus ein Meister der Überredung ist. Ich will es nicht Handwerk nennen, das würde zu technisch klingen. Er legt eine grundsätzliche menschliche Verlässlichkeit im Umgang mit den Leuten an den Tag. Die Leute spüren, dass da nichts Schlechtes rauskommen wird. Wir fühlen uns beide sehr stark den Menschen verpflichtet und die Leute spüren das vom ersten Moment an.

 
Der Wandel vollzieht sich ja auf verschiedenen Ebenen. Auch in ihrem Verhältnis zur Kamera. Ich denke an die Frau, die am Beginn des Films im Sekretariat arbeitet. Sie schaut nicht ein einziges Mal in die Kamera. Man spürt, wie im Laufe der Zeit die Beziehung zu Ihnen als Interviewer aber auch die zur Kamera sich verändert.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Unsere Beziehung zu den Protagonisten hat sich geändert, aber auch die Protagonisten haben sich verändert. Sie sind in einer Weise gewachsen und andere Menschen geworden.
 

WOLFGANG WIDERHOFER:  In diesem Film sieht man so gut, wie gearbeitet, wie kommuniziert wird. Das wurde in anderen Filmen weggeschnitten, weil sie auf anderen Konzepten beruhen. Es hat auch etwas mit der Sprache zu tun. In Elsewhere z.B. war die Übersetzung dazwischen geschaltet. In ÜBER DIE JAHRE haben wir eine direkte Form der Kommunikation. Ich hielt für total wichtig, dass es in diesem Film zum einen die Stabilität des Filmemachers gibt und dass zum anderen auch gezeigt wird, dass es nicht nur eine Form der Kommunikation gibt. Man soll auch sehen, dass es einmal ein leeres Ende geben kann, dass man keine oder nur eine knappe Antwort bekommt, dass Kommunikation scheitern darf. Ich finde es gut, dass man zeigt, wie das Gespräch entsteht. Ich halte es deshalb für stimmig, weil es ein Kernthema des Films ist, zu zeigen, wie sich Prozesse, wie sich Verhältnisse ändern und dass die eigene Position, aus der heraus man einen Film macht, auch keine sichere Position ist. Der Film ist extrem offen. In dieser Unsicherheit ist man am Set unterwegs und die Offenheit bleibt bis in den Schnitt hinein erhalten.

 
Zwischen den ersten Dreharbeiten 2004 und den letzten 2014 sind sechs Dokumentarfilme fürs Kino bzw. fürs Fernsehen entstanden: Unser Täglich Brot (2005), 7915 km (2008), Donauspital (2012), CERN (2013), Irgendwann befindet sich in Postproduktion. Wie haben Sie einen Rhythmus gefunden, in dem sie ihre Protagonisten von Über die Jahre aufsuchten?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Ich habe dieses Projekt anfangs sehr intensiv betrieben, im Laufe der Jahre ging es dann nebenbei. Es gab vier bis fünf Drehtage pro Jahr. In manchen Jahren haben wir weniger gedreht, in anderen mehr. Das hing stark davon ab, was sich bei den ProtagonistInnen tat. Der Kontakt war manchmal sehr lose, dann wieder enger. Natürlich spiegelt sich auch unsere Arbeit. Ich glaube, der Grund, weshalb das immer noch einigermaßen kontinuierlich ausschaut, liegt darin, dass ich gewissen Grundprinzipien folge, die mir beim Drehen wichtig sind: das sind Rhythmusfragen, Kompositionsfragen. Das hat sich auch in diesen zehn Jahren nicht geändert. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch eine Entwicklung gegeben hat. Aber mein Stil hat sich nun mal nicht umgedreht. Erfahrungsgemäß arbeitet man immer an mehreren Projekten gleichzeitig. Das ist Arbeitsalltag. Ab dem Zeitpunkt, wo klar war, dass die Fabrik schließen würde, entstand eine Eigendynamik, der ich mich komplett untergeordnet habe. Wir konnten ja in keiner Weise wissen, was im Leben der Protagonisten passieren würde. Wir versuchten, dem zu folgen und uns anzupassen. Das ist wie ein Baum. Man pflanzt ihn, in welche Richtung ein Ast dann wächst, ist völlig ungewiss.
 

WOLFGANG WIDERHOFER:  Wir haben nach ca. zwei Jahren das Material angeschaut und reflektiert. Dann ist es jahrelang gelegen. Das war auch gut so, sonst hätte man viel mehr eingegriffen. Das hat seine Vor- und Nachteile. Hätten wir das Material kontinuierlich reflektiert, hätten wir früher begonnen, gewisse Dinge zu forcieren. Der Prozess des Schneidens, Überlegens, Reflektierens, Kommen-Lassens hat ein knappes Jahr gedauert. Da der Film drei Stunden dauert und man sich als Schnittmeister den Film sehr lange anschaut, bedeutete es auch für mich eine sehr lange Auseinandersetzung. Es war nicht viel mehr Material als bei kürzeren Filmen. Das hat auch keine große Bedeutung. Ob nun 200 oder 100 Stunden Material da sind, man konzentriert sich sehr schnell auf den Kern von zwanzig, dreißig Stunden, der als Suckus überbleibt, damit arbeitet man dann. Man trifft erste Entscheidungen, legt es skizzenhaft hin und schaut, was passiert. Die große Herausfordung liegt ja auch darin, sich vom Material führen zu lassen. Damit meine ich, sich selber zurücknehmen und schauen, worin liegt die ureigenste Qualität, die mir etwas erzählt, was ich selber vorher nicht wusste. Ich finde es reizvoll, wenn Filme kein statisches Konzept erzählen, sondern einen mitnehmen durch die vielen verschiedenen Facetten, die das Leben hat – vom Humor zur Tragödie. Wenn da eine Organik entsteht – Nikolaus hat den Baum angesprochen – von der man nicht weiß, wohin sie sich bewegt, dann finde ich das spannend.

 
Für mich stellt Über die Jahre einen Film „aus dem Off“ dar. Momente, wenn die Wahlstimmen ausgezählt werden, wenn das Spendengeld gezählt wird – sind Szenen, die zeigen etwas, was man in der Regel nicht sieht und stehen pars pro toto für den ganz Film, der davon erzählt, wenn der Fokus nicht mehr auf das Ereignis selbst gerichtet ist.

WOLFGANG WIDERHOFER: Meine Grundbeobachtung zu den Arbeiten von Nikolaus ist die, dass er ein „Danach“ erzählt. Es geht immer darum, dann mit der Kamera hinzuschauen, wenn etwas schon passiert ist.  Elsewhere ist ein Film nach der Globalisierung. Der erzählt nicht von unberührten Lebensformen, sondern davon, dass es die mal gegeben hat und dass die Globalisierung nun eingedrungen ist. Wie gehen die Leute damit um? Der Nachhall nach einer Katastrophe, einem Einschnitt, für den man unheimlich viel Zeit braucht – das entspricht der Ästhetik und dem Blick von Nikolaus. Sich die Zeit nehmen zu analysieren, was ein Ereignis mit den Menschen macht, das bringt seine Arbeit auf den Punkt. Das gilt für Pripyat, aber auch  Angewemmt ist ein Film, in dem man sich immer mit dem Tod beschäftigt. Wie kann man angesichts des Todes weitermachen? Mit Humor, ist die Antwort. Ich glaube, das ist es, was Nikolaus intrinsisch sehr motiviert, aber ich beginne zu interpretieren. Ich kann damit viel anfangen, weil ich mich auch sehr für Dauer und ihre Prozesse, für episch offene Erzählungen interessiere, die an der Dramatik vorbei erzählen.

 
Das Erzählen von der Arbeitslosigkeit wirft vielmehr die grundlegende die Frage auf – was ist Arbeit? Broterwerb oder einfach nur Tätigsein?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Arbeit ist Lebenszeit. Das wird in diesem Film so besonders deutlich. Wenn du über die meiste Zeit deines Lebens eine Arbeit hast, dann führst du diese aus. Aufstehen, frühstücken, zur Arbeit, nach Hause gehen und schlafen. Was bedeutet es, diese Arbeit zu haben oder nicht zu haben und diese Zeit anders aufzufüllen? – das haben wir mit diesem Film sehr gut beobachten können.
 
WOLFGANG WIDERHOFER:   Es ging darüber hinaus um Beschäftigung per se. Um Beschäftigung mit der Zeit, in der man nicht Lohnarbeit verrichtet. Die Tatsache, dass es auch andere Formen Beschäftigungen gibt, die genauso wichtig, um nicht zu sagen sinnerfüllender sind. Es ging auch darum, nicht ein Klischee vom Land zu erfüllen und ins soziale Elend abzudriften. Es gibt sehr wenige Filme über „Land“, oft gehen sie ziemlich klischeehaft mit Stereotypen um. Uns war es wichtig, nicht in eine Form billiger Zuschreibung zu gelangen.

 
Materialität  – Holz, Stein, Metall, Stoff – ist sehr präsent. War es ein Gedanke, die diese elementaren Materialien zu thematisieren?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Wir waren ja auch Teil des Ganzen. Ob man dann mit Stoff, Stein oder Film (auch wenn es ein Videoband war) arbeitet, macht keinen großen Unterschied mehr. Die handwerkliche Komponente hat stets eine sehr große Rolle gespielt. Ich halte Filmemachen für etwas sehr Handwerkliches. Es hat uns auch mit unseren Protagonisten sehr verbunden, dass wir da nicht als große Künstler aufgetreten sind, sondern versucht haben, solide unsere Arbeit zu tun und dabei auch zu vermitteln, welche Arbeit dahinter steckt, auch wenn wir nur ein kleines Team sind.
 
WOLFGANG WIDERHOFER:  Viele Protagonisten etablieren sich darüber, wie sie Dinge berühren. Die Art, wie man Dinge anfasst, erzählt etwas über einen. Eine weitere Schlüssel, könnte die Frage sein, die Nikolaus stellt: „Glauben Sie, dass die Arbeit einen Menschen prägt?“ Dabei geht es um die Frage, wie prägt das Material, mit dem man arbeitet, zurück und wie sehr prägt man als Individuum, das, was man herstellt. Wie sehr prägt man einen Film? Wie sehr prägt einen die Filmarbeit? Dieser Gedanke zieht sich durch die Arbeit an Über die Jahre. Es ist vielleicht weniger ein Gedanke als vielmehr etwas, das man spüren soll.

 
Über die Jahre legt sich in gewisser Weise über alle bisherigen Filme von Nikolaus Geyrhalter. Insofern als es mit der Distanz zur Schließung der Fabrik (dem Anstoß für den Film) immer mehr das Leben per se zum Thema wird und damit besonders nahe an die Essenz des dokumentarischen Filmemachens herankommt.

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Ich verstehe, dass man es so sehen kann. Es war nicht so beabsichtigt. Der Film ist in der Tat menschlich intensiver als viele andere, die ich gedreht habe.
 

WOLFGANG WIDERHOFER:  Ich mag es, wenn es immer undramatischer wird und das ganz Einfache ganz groß wird. Das epische Gefäß dieser drei Stunden zeigt lauter ganz simple menschliche Vorgänge, die unspektakulär sind, aber im Kontext dieser Dauer einen Wert kriegen, der etwas Magisches hat. In Das Jahr nach Dayton sehe ich die stärkste Verbindung zu Über die Jahre, weil Nikolaus da auch sehr stark involviert ist und ein starker Austausch mit dem Team stattfindet. Das ist eine Achse, die sich durchs ganze Werk zieht. Über die Jahre wirft sicherlich nochmals ein anderes Licht auf alle bisherigen Filme, weil man wie nie zuvor die Präsenz von Nikolaus so stark erlebt.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Es war ein ungeplantes Offenlegen der Arbeitsweise. Ursprünglich hatten wir vor, so wie immer, die Fragen wegzuschneiden. Viele Fragen sind so gestellt, dass sie es den Protagonisten leichter machen, schneidbare Antworten zu geben. Da sind wir an der Wortkargheit unserer Gesprächspartner gescheitert. Es hat sich erst in der Schnittarbeit im letzten Jahr herauskristallisiert, dass es dialogisch bleiben muss. Das ist eine Ebene, die ich gerne im Schnitt verschwinden lasse. Hätte ich es von Anfang an gewusst, dass die Fragen drinnen bleiben, hätte ich mich in der Formulierung mehr angestrengt. Die sind manchmal ein bisschen salopp.

 
Es ist also auch bei Ihnen ein Bereitschaft entstanden, sich im Prozess des Filmens zu offenbaren.

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Man wird im Laufe von zehn Jahren gelassener. Die Menschen, die wir gefilmt haben, haben sich geöffnet. Warum soll ich es nicht auch tun? Es war ein Nehmen und Geben. Es war klar, dass es um Wichtigeres geht, als darum, eine formale Schönheit einzuhalten.

 
Übergänge bzw. Kapitelfolgen entstehen durch lange Schwarzblenden, in die ziemlich lange ein Ton nachhallt und das folgende Kapitel zunächst im Ton anklingt. Was führte zu dieser Form der Übergänge?

WOLFGANG WIDERHOFER: Der Ton spielt immer eine ganz entscheidende Rolle in den Filmen von Nikolaus. Das war auch dieses Mal nicht anders. Es hat sich in Über die Jahre ergeben, dass es große Zeiträume gibt, die man betonen muss. Das haben wir durch Schwarz-Kapiteltrenner getan, deshalb mussten wir mit dem Ton eine weiche Lösung finden.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Ich glaube, es fällt deshalb stärker auf, weil wir in den langen Schwarzblenden diesmal kein Text steht. Diesmal haben wir uns entschieden, keine Zeitangaben hineinzuschreiben, daher konzentriert man sich in diesen Momenten mehr auf die Tonebene. Ein gutes Bild braucht einen guten Ton, das ist nichts Neues. Wenn man einen Film fürs Kino produziert, dann muss es eine technische Stimmigkeit haben, sodass man durch keine Unzulänglichkeiten abgelenkt wird. Wir nehmen seit Elsewhere den Ton mit Stereomikrofon auf und haben dann vier Spuren zu bearbeiten. Das hat auch etwas mit Respekt den Protagonisten gegenüber zu tun. Man soll als Zuschauer, das Gefühl haben, vorort zu stehen, zu sehen und zu hören und nicht durch eine schlechte Technik daran behindert werden, sich da hineinzuversetzen. Es ist für uns beim Arbeiten ein großer Aufwand, von dem man überhaupt nichts merkt. So soll es dann auch sein.
 
WOLFGANG WIDERHOFER: Die Materialität, die ein zentrales Thema ist, wird durch den Ton noch einmal betont. Der Ton schafft Emotion und Rhythmus und man kann gewisse Bilder völlig zerstören, wenn man den Ton falsch bearbeitet. Bilder, die lange stehen, haben in sich eine Dramaturgie, die wiederum sehr stark durch den Ton beeinflusst wird. Es gibt Tonereignisse, die dann wieder in eine Stille fallen. Stille, Lärm, spitzer Ton, rhythmische Töne – diese Abfolgen bedürfen einer enormen Präzision. Der Lauf des Bildes muss durch den Ton mitgetragen werden. Die Schnittarbeit kann für mich nur in Bild-/Ton-Zusammenhängen erfolgen. Schon die Stimme eines Menschen ist Teil von ihm, so gilt es für jede Einstellung: Rhythmik, Klang sind ganz starke Elemente einer Einstellung. Emotionalität kommt sehr stark über den Ton und spielt daher auch in die Auswahl hinein. Wir greifen nur ganz selten so ein, dass Bilder über den Ton verändert werden. In einer sehr langen Einstellung geht es darum, wohin man schaut, wie ist die Dramaturgie dieser Szene. Da ist der Ton neben der Bewegung oder der Komposition ein Hilfsmittel, das zu führen. Da ist der Film sehr stark durch Ton strukturiert. In einer Fabrik bedeutet das natürlich besonderen Spaß.

 
Maschinen sind in Geyrhalter-Filmen immer etwas Wesenhaftes, die beinahe eine Rolle von Protagonisten einnehmen. So als würde sich so die menschlich-technische Komponente Ihrer Filme vermitteln?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Maschinen sind Teil unseres Lebens, in der Fabrik noch einmal auf ganz besondere Weise. Man kann nicht von der Fabrik erzählen, ohne den Maschinen einen Raum zu geben. Sie werden nur ganz selten ohne die Menschen gezeigt, die sie bedienen. Die Maschinen bestimmen den Alltag dieser Menschen durch ihre Materialität, durch den Lärm, den sie erzeugen, den Rhythmus, den sie vorgeben. Viel Arbeit besteht auch darin, Maschinen zu handhaben, zu beobachten und zu betreuen. Wenn man das über die Jahre tut, macht es auch etwas mit einem Menschen. In dieser Fabrik sind die Maschinen ja Wesenheiten, sehr zickige, alte Maschinen. Das kann man nicht mit einer modernen Fließbandarbeit vergleichen. Technik ist etwas, das mich interessiert, das ich benütze, und zwar immer mehr. Es gibt im Film am Ende Szenen, die von Gerüsten gedreht wurden. Das Abbilden ist nur durch eine Vielzahl von Maschinen möglich.  Man muss diese Technik beherrschen und darf sich davor nicht fürchten. Erst wenn man diesen Aufwand mit links beherrscht, kann man den Blick dafür haben, dass man die Szene sieht, die man eigentlich abbilden will. Da komm ich zurück auf die manuelle Arbeit, auf das Handwerk, das ich zuvor eingebracht habe. Filmemachen ist für mich eine manuelle Arbeit. Der Intellekt ist dann das i-Tüpfelchen.
 
WOLFGANG WIDERHOFER:  Nikolaus schaut auf eine menschliche Entwicklung und eigentlich auf einen Punkt, wo eine menschliche Entwicklung auf ihre Spitze und möglicherweise sogar an ihr Ende gelangt ist. Die Maschine ist ein Teil davon. Auch der Krieg in Das Jahr nach Dayton ist eine Maschine. Nikolaus bildet ja das Menschliche ab, nicht das Maschinenhafte. Die Dauer. Wenn man eine Einstellung lange hält, dann kann man sie irgendwann nicht mehr kontrollieren. Das ist das Spannende. Man kann etwas schön für die Kamera komponieren und dann kommt plötzlich die Zeit daher und macht etwas mit dem Bild. Sie beginnt, es in eine andere Ebene zu bringen und man gelangt in eine völlige Offenheit. Das führt zu einer Qualität des Schauens, des Erlebens, die gar nichts Maschinenhaftes hat. Der Startpunkt liegt vielleicht bei einer Maschine, weil Nikolaus dafür eine Faszination hegt.


 
Hat diese Arbeit über die Dauer Ihren Zugang zum filmischen Arbeiten neu definiert?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Es war  ein Arbeiten, das lange gedauert hat. Aber das Arbeiten, das jetzt durch den Schnitt anders wirkt, weil ich präsent bin, das habe ich beim Drehen ja nicht so wahrgenommen. Ich habe viele Dinge selber gemacht, die bei Filmen, die kompakter gedreht sind, von Dolmetschern oder Aufnahmeleitern gemacht werden: Kontakt zu den Protagonisten halten, Drehtermine ausmachen. Durch die lange Drehzeit haben wir versucht, dass das Budget im Rahmen bleibt und ich habe das  projektierte Team auf zwei, maximal drei Personen gekürzt. Manchmal bin ich auch alleine auf einen Dreh gefahren. Ich habe die Maschine Film in vielen Funktionen zugleich bedient. Die Nähe zu den Protagonisten hat die Arbeitsweise einfach verlangt. Im Film wirkt es immer anders, als es in der Realität ausgeschaut hat. Es war auch manchmal sehr schwierig, kompliziert und man nimmt dann die Stellen, die gut funktioniert haben und wenn man ehrlich ist, zeigt man auch Stellen, die die Brüchigkeit durchscheinen lassen. Wir sind keine Freunde geworden. Ich weiß auch, dass ich meinen nächsten Film wieder schnell fertig machen will. Über die Jahre ist ein Ausnahmefilm, weil ich ja auch vor Augen habe, was sich in diesen zehn Jahren bei mir geändert hat und wie ich älter geworden bin. Hätte ich nicht nebenbei an anderen Projekten gearbeitet, die viele schneller zu einem Abschluss gekommen sind, dann hätte ich das weniger gut ausgehalten, so lange dranzubleiben. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo wir uns sagten, jetzt müssen wir dieses Gefäß schließen.
 
WOLFGANG WIDERHOFER:  Man würde sich nicht auf ein Projekt einlassen, wüsste man, dass es so lange dauert. Die zweite Frage, die sich stellt, ist die nach der Finanzierung. Wer würde ein Projekt finanzieren, das für zehn Jahre anberaumt ist. Wir wussten ja nicht, wie lange der Film würde. Drei Stunden ist jetzt seine natürliche Länge, er hätte auch zwei oder fünf Stunden lang werden können.

NIKOLAUS GEYRHALTER: Fernsehsender sind da heute viel strikter geworden, die wollen nach ein oder zwei Jahren auf Sendung gehen. Dass der ORF Jahr für Jahr die Abrechnung verschob und unserer Argumentation folgte, dass der Film an Qualität gewinnen würde, wenn wir das Thema länger verfolgen, war eine Goodwill-Aktion. Heute könnten wir so ein Projekt nicht mehr verwirklichen. Das macht den Film zu etwas Besonderem, dass es so einen Film in diesem System nicht mehr geben kann und nicht mehr geben wird. Ich halte es für die stärksten Momente im Film, wenn zum Ende hin sichtbar wird, wie die Menschen gealtert sind.


 
„Gefäß schließen“ ist nun als Bild mehrmals gefallen, gegen Ende hin wird öfter die Frage gestellt „Waren es gute Jahre, waren es schlechte Jahre“. Wie kommt man nach dieser langen Strecke zu einem Abschluss?

NIKOLAUS GEYRHALTER:  Wolfgang hat in einem frühen Projektstadium den Part mit der Fabrik geschnitten. So wussten wir, dass wir Protagonisten etabliert hatten, mit denen wir weiterarbeiten wollten, da hatten wir schon einmal ein sicheres Gefühl. Dann kamen die vielen Jahre des sporadischen Drehens. Als klar war, dass wir fertig werden müssen, begannen wir zu sortieren. Dann versuchten wir auch Szenen zu drehen, die ein Ende vorbereiten.
 
WOLFGANG WIDERHOFER: Im Jänner 2014 begannen zwei Monate des Sichtens, im Frühjahr habe ich das vorhandene Material geschnitten und aufgrund dieser Basis überlegten wir, was für ein Ende ideal wäre. Wir hatten alle Figuren, denen wir länger gefolgt waren, erhalten. Dann versuchte Nikolaus noch einmal alle zu treffen.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Wir begannen im Sommer mit der Schlussrunde und im November erfolgte der letzte Dreh, der für den Film sehr wichtig war. Da konnte man aufgrund der Erfahrung und dem, was man sieht, sagen, welchen Aspekt wir bei welcher Figur brauchen könnten. Wir haben sehr viel überlegt, was ideal wäre. In Wirklichkeit ist es dann ganz anders gekommen. Ich habe aber immer versucht, Äquivalente für das zu finden, was wir brauchten.
 
WOLFGANG WIDERHOFER:  Im Idealfall wird es besser als das, was man sich vorgestellt hat.
 

Interview: Karin Schiefer
Jänner 2015