FEATURE

BLUE MOON von Andrea Maria Dusl

 

Wenn sich zwei Mal im Monat der volle Mond am Himmel zeigt, dann hat es damit eine besondere Bewandtnis. "Blauer Monat" sagte Johnny Pichlers Großmutter zu dieser seltenen Erscheinung und wusste damals genauso wenig wie er selber, dass so ein Alltagsmärchen Jahre später für Johnny noch einmal Bedeutung gewinnen würde. Wer genau hinschaut, der wird ganz zu Beginn und ganz am Ende von Andrea Dusls Spielfilmerstling Blue Moon ein zartes Rund zwischen den Wolken erkennen, das den Zeitraum zweier wundersamer Begegnungen zwischen Johnny und Jana markiert.

Blue Moon ist die Geschichte von der Erfüllung einer Sehnsucht und der Entdeckung eines Kontinents. Eine Reise in den unbekannten Osten, in jene Welt von nebenan, die verhüllt vom Eisernen Vorhang, jahrzehntelang ihr Eigenleben und ihre bizarre Exotik verborgen hielt. Regisseurin Andrea Dusl, war von Anfang an Zeugin der Öffnung dieser neuen Welt. Bei der ersten Gelegenheit zum visumfreien Grenzübertritt fuhr sie los in Richtung Bratislava und jede folgende Reise drang sie ein bisschen weiter ostwärts vor. "Es war faszinierend", erinnert sie sich, "eine völlig intakte Welt zu betreten, die nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktionierte. Es waren Menschen wie du und ich, aber in den Geschäften wurden andere Dinge verkauft, die Menschen hatten andere Sehnsüchte und andere Paradiese in ihren Herzen." Die Idee, dieses Neuland und die aus der Begegnung damit entstandenen Gefühle, in einer Filmgeschichte zu verdichten, wurde mit jeder Reise zwingender, formal hatte sie dafür zunächst eine höchst unkonventionelle Lösung geplant. 80 zweiminütige Minifragmente, selbst finanziert, sollten ähnlich wie Werbespots auf eigene Kosten unter dem Titel In achtzig Tagen um die Welt ins Kino gebracht werden. "Nach sechs Episoden", so die Filmemacherin, "wurde mir aber bewusst, dass ich einen anderen Weg gehen musste, ich packte alle Geschichten in eine, so entstand Blue Moon.

Romantisches Roadmovie Johnny (Josef Hader) begegnet Jana (Viktoria Malektorovych) erstmals als Begleitung eines zwielichtigen slowakischen Geschäftemachers nahe der österreichischen Grenze. Sie rettet Johnny aus einer brenzligen Situation und ergreift mit ihm die Flucht. Kurze Annäherung zweier Wesen ohne Geschichte, dann verschwindet sie so plötzlich wie sie am Tag zuvor aufgetaucht ist. Ein Fotostreifen mit Janas Portrait und der Aufschrift Lviv (Lemberg) zwingt Johnny zum Aufbruch per Autostopp Richtung Osten, auf die Spuren der geheimnisvollen Frau. Der Zufall beschert ihm in Lviv eine Begegnung mit einer Taxilenkerin, angeblich Janas Schwester. Ein Spiel von Nähe und Flucht beginnt und schickt beide auf eine Odyssee der Gefühle, die gegen die Regeln und Gesetze der rätselhaften Welt im Osten prallen, ehe der zweite Vollmond aufzieht. Die Geschichte vom blauen Monat und kurze Kindheitserinnerungen, die Johnny aus dem Off erzählt, sind das Einzige, was wir von der Geschichte des Helden erfahren. "Ich wollte", so Andrea Dusl, "meinen Helden vom Ort seiner Herkunft lösen und zu einem völlig neuen Menschen machen. Das macht ja die entwurzelten Personen zu den wirklich spannenden Figuren, sie sind die einzigen, die etwas Neues erleben können. Wie mein Johnny sich im Jetzt verhält, erzählt ja auch von seinem Damals." Sich zu artikulieren, egal in welcher Sprache, war nie Johnnys Stärke gewesen, so bekommt er mit der Videokamera als eine Art Sprachersatz ein Instrument zur Reflexion und Kommunikation in die Hand. Das Ergebnis ist ein Zusammenspiel von Film- und Videosequenzen, das eine erzählerische Spannung zwischen objektivem und subjektivem Erleben des Helden schafft. Salz der Erinnerung Naiv und sprachlos tastet sich Johnny an das vage Ziel seiner Wünsche heran, tappt in jede Falle der unbekannten Welt, zieht sich aber immer wieder aus der Affäre und versteht rasch die neuen Spielregeln für sich zu nutzen. Die Missverständnisse, mehr noch das völlige Unverständnis im Aufeinandertreffen der beiden Pole Ost und West, lässt die Regisseurin in unübersetzten Passagen in Ukrainisch oder Slowakisch im Raum stehen. "Wir sind alle", meint sie, "so überspachtelt mit Dauerverständnis. Alles wird übersetzt und untertitelt. Mir war auch wichtig, dass man Dinge nicht versteht. Im Leben ist es doch auch so: Die Missverständnisse, die sich aus dem Nicht-Verstehen ergeben sind das Salz der Erinnerung.

Johnny-Darsteller Josef Hader arbeitete selbst einige Wochen mit der Regisseurin und Drehbuchautorin am Feinschliff seiner Figur mit. "Es war eine sehr untypische Filmarbeit", erinnert sich Andrea Dusl, "weil der Josef auf eine sehr gute Art und Weise kein Schauspieler ist. Es hat eine sehr spontane und impulsive Art zu arbeiten, es gab immer etwas Neues, spannend und auf eine gute Art nicht herkömmlich". Mit Detlev Buck wurde ein zweiter Wunschkandidat für die Rolle des ostdeutschen Lebenskünstlers Ignaz Springer gewonnen, der nach der Lektüre des Drehbuchs und einem Treffen mit seinem österreichischen Counterpart seinen Zuschlag gab. Lediglich für die weibliche Hauptrolle wurde in Kiew gecastet. Viktoria Malektorovych, in der Ukraine bereits ein Star, strahlte diese Kraft und Zerbrechlichkeit zugleich aus, die Andrea Dusl in die Figur der Jana gelegt hatte. Für ihre Rolle als Taxilenkerin, die mit 17 ihre gesamte Familie in einem Fährenunglück verloren hat und die zum Wochenende ihre Finanzen beim Escort-Service aufbessert, lernte sie nicht nur ihre deutschen Dialoge ein, sondern schrieb sich auch in der Fahrschule ein. Am Ende der Welt Dass sich der Bogen der Geschichte letztendlich bis Odessa spannt, hat auch mit der rasanten Entwicklung, die die Öffnung dem Osten bescherte, zu tun. Die Bilder, die während der zahlreichen Reisen im Kopf der Autorin entstanden, mussten immer wieder nachjustiert und manchmal verworfen werden, da sie nicht mehr realisierbar waren. "Am Anfang", so Andrea Dusl, " war das südliche Polen allein schon absurd exotisch, jetzt sieht Krakau aus wie Florenz und hat nichts mehr von dieser versunkenen Welt." Erst in Odessa traf sie wieder auf einen Ort, der seine Magie behalten hatte. "Hinter Odessa" so die Regisseurin weiter, "steht die Idee, einen Punkt zu finden, der das Ende der Welt markiert. Einen Ort, wo man nicht mehr weiter kann, ohne ein Schiff zu nehmen oder ins Meer zu springen". In der Eröffnungssequenz trottet Jana ganz alleine mit ihrem Rollköfferchen die legendäre Treppe von Odessa hinunter. " Mir war klar," erläutert Dusl, "dass ich die Treppe nicht auslassen konnte. Jeder kennt sie, weil Eisenstein dort die berühmte Szene mit dem Kinderwagen, den Soldaten und Bürgern von Odessa gefilmt hat. Sie ist ein Mythos, der sich verselbständigt hat. Ich hab die Treppe auf das reduziert, was sie ist, eine Verbindung von oben nach unten. Wenn Jana hinuntergeht, dann ist das wie das Überschreiten einer Grenze. Die Treppe ist für mich die Überwindung des Eisernen Vorhangs. Auf einer Treppe kann man seine Perspektive verändern".

 

Karin Schiefer (2002)