«Der ehemalige Bürgermeister von Palermo sagte mir, "Als Touristenfaktor ist Goethe wunderbar, weil er bis heute deutschsprachige
Touristen nach Sizilien zieht.» Goethe ist aber auch jemand, der dazu beigetragen hat, den Mythos und den unglaublichen Wust
an nicht existierender, märchenhafter Geschichte über die Insel zu erweitern.
Wie sind Sie nach einigen Arbeiten über Japan auf Sizilien als Thema gekommen?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Ich hab fast ein Jahr in Rom gelebt, dort sehr intensiv zeichnerisch gearbeitet, aber auch am Drehbuch meines Spielfilms Los
Feliz gearbeitet. Rom als Hauptstadt des Katholizismus oder der katholischen Welt hatte ich natürlich nicht zufällig gewählt.
Nach so vielen Jahren in Japan gab es für mich immer mehr Indikatoren, dass ich nach Sizilien muss, um den Mittelmeerraum
zu erforschen. Ich werde in Los Feliz auch eine Analogie spinnen zwischen Rom und Los Angeles als Zentrum der Manipulation.
Welcher Frage sind Sie konkret nachgegangen?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Ich stelle an mein Publikum die Forderung, sich mit der Sache auseinander zu setzen und habe mir und dem Publikum viele Fragen
gestellt. Ich glaube aber nicht, dass man sehr intellektuell darauf zugehen muss. Es war mir ein Anliegen, die Situation dort
auf einer emotionalen Ebene zu erfassen. Durch den gesamten Film hindurch werden Fragen aufgeworfen und viel später beantwortet,
weil die Komplexität es ja gar nicht zulässt, eine einfache und klare Antwort zu geben. Ich habe auch allen, die mitgemacht
haben, gesagt "I'm not making a film about Sicily, I'm making a film about the human condition". Dies anhand des Beispiels
Sizilien. Man könnte das egal wo anwenden, es funktioniert hundertprozentig, auch wenn es nun durch die Persönlichkeiten und
Locations an den Ort dort gebunden ist.
Der Konflikt zwischen islamischer und christlicher Welt ist zum Zeitpunkt des Entstehens des Films sehr brisant geworden.
Es gibt die Szene mit den Vögeln, wo im Voiceover ein Text über den Punischen Krieg gesprochen wird.
EDGAR HONETSCHLÄGER: Er deckt sich fast 1:1 mit dem, was wir von Herrn Bush vernehmen konnten. Ich möchte, ohne belehrend zu sein, zeigen, wie
durch Jahrtausende immer wieder die gleichen Ressentiments, Vorstellungen und Vernichtungsstrategien zur Anwendung gelangen.
Friedrich II. wurde aus deutscher Sicht glorifiziert, er war für seine Zeit sicherlich ein unglaublich liberaler Herrscher,
der wahrscheinlich in erster Linie aus ökonomischen Gründen und auch, weil er dem Lebensstil der Araber sehr viel abgewinnen
konnte, eine friedliche Koexistenz mit ihnen einging. Es geht eine unglaubliche Faszination von ihm aus, die auch die Sizilianer
teilen, im Gegensatz zu Herrn Goethe. Es geht mir im Film auch darum, was wir alles von den Arabern gelernt haben. Ich betrachte
Il mare e la torta als sehr politischen Film. Das kommt auch daher, dass ich lange in Japan gelebt habe und mich seither die
Phänomene des Kulturtransfers interessieren. Es geht immer hin und her: Eine Kultur übernimmt etwas von einer anderen, in
der Ursprungskultur geht es verloren und später entdeckt diese Kultur etwas in der fremden Kultur als etwas ganz Außergewöhnliches,
ohne zu wissen, dass es aus der eigenen entsprungen ist.
In einem Zitat zum Film heißt es, "Ich dachte stets Goethe hätte die langweiligsten Geschichten über Sizilien geschrieben,
bis ich ihn in einer Taverne in Palermo getroffen habe". Wie sah dieses "Treffen" aus?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Dass ich mich über Goethe lustig mache, hat etwas mit persönlichen Ressentiments zu tun, aber auch, weil ich mich beim Lesen
der Passage über Palermo in seiner Italienischen Reise furchtbar gelangweilt habe. Bestätigung bekam ich, als der ehemalige
Bürgermeister von Palermo mir sagte, "Als Touristenfaktor ist Goethe wunderbar, weil er bis heute unzählige Deutschsprachige
nach Sizilien zieht." Gleichzeitig aber war Goethe wieder einmal einer, der dazu beigetragen hat, den Mythos, diesen unglaublichen
Wust an nicht existierender, märchenhafter Geschichte zu erweitern, was der Insel nicht zuträglich ist. Ich war verzweifelt
auf der Suche nach einem Darsteller für die Rolle des Goethe, telefonierte mit Wien wegen möglichen Darstellern und stand
dabei in Palermo vor einer total heruntergekommenen Arbeitertaverne. Ich ging in die Bar und der Goethe für den Film stand
vor mir. Er hat vom Typus und Gesicht her überhaupt nicht da hineingepasst und er sah genauso aus, wie ich mir Goethe immer
vorgestellt habe, auch wenn er zum Zeitpunkt seiner Sizilienreise in Wirklichkeit viel jünger war. Ich fand es so toll, dass
er nicht Deutsch konnte. Der läuft dann immer nur durchs Bild und ich lasse ihm nichts von Goethe zitieren.
Woher kommt der Titel Il mare e la torta?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Es hat mehrere Gründe: Erstens gibt es dort unheimlich gute Süßigkeiten und ich liebe Süßigkeiten. Die Insel war außerdem
immer schon eine Kornkammer, schon zu Zeiten des römischen Imperiums war Sizilien Lieferant von Zitrusfrüchten u.ä. Dazu kommt
diese unglaubliche Schönheit der Insel und irgendwann dachte ich mir, das sieht aus, wie ein Kuchen im Meer. Dann nannte ich
den Film so. Wie man aber auch auf dem Filmplakat sehen kann, so liegt in jeder Tragik immer auch Humor verborgen und umgekehrt.
Das Plakat repräsentiert für mich Sizilien: ein Rollstuhlfahrer, der aufs schöne Meer hinausschaut. Sizilien liegt an der
Peripherie, es gibt dort unglaublich kluge Leute, aber sie sind eben an den Rand gedrängt und über so lange Zeit schon mit
so vielen Problemen konfrontiert. Diese Schwere der Kultur und die Traurigkeit, die mitschwingt, musste ich auch irgendwie
einfangen.
Wer hat den Begriff der Ewigen Gegenwart geprägt?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Der stammt von Leoluca Orlando, dem ehemaligen Bürgermeister von Palermo. Seine zwei engsten Freunde waren Falcone und Borselino,
zwei wichtige Figuren im Kampf gegen die Mafia. Beide waren sizilianische Staatsanwälte, die gegen die Mafia antraten und
dafür in die Luft gesprengt wurden. Orlando selbst kommt aus einer Familie, die über sehr lange Zeit als Rechtsanwälte Verteidiger
der Mafia waren. Irgend etwas ist dann in diesem Menschen passiert und ist zu einem der vehementesten Mafiagegner und "kämpfer
geworden. Einige Intellektuelle aus Palermo würden mir jetzt sofort auf den Mund klopfen und sagen, das ist eine Beschönigung
der Tatsachen. Der hat natürlich auch einen Deal gemacht, damit der da durchkommt. Er ist ein extrem interessanter Mensch,
der sich in seiner Liberalität und Offenheit ein bisschen wie Friedrich II. fühlt. Er ist natürlich ein PR-Hecht erster Güte,
liebt die Kamera, ist Europaparlamentarier und hat immer noch eine Armada von Leibwächtern und spricht Deutsch und Englisch
und er hat in unserem Gespräch den Begriff der Ewigen Gegenwart erwähnt, der mir sehr gut gefallen hat.
Sie haben einige prominente Intellektuelle für das Projekt gewonnen. Wen?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Giovanni Sollima, ein in Europa und in den USA sehr renommierter Cellist. Letizia Battaglia, die über einen Zeitraum von zwölf
Jahren alle Mafia-Toten fotografiert hat. Sie hat zwölf Jahre nur Leid fotografiert und sich für den Film hingesetzt und mit
sich diese lustige Szene machen lassen, wo im Hintergrund zu lesen ist, "Das ist kein Film über die Mafia". Sie war übrigens
auch zu Orlandos Zeiten Stadträtin. Roberto Andò hat mit Il manuscritto del principe einen sehr schönen Film über die homophilen
Neigungen von Giuseppe Tomasi di Lampedusa gemacht. Er kriecht die Mauer hinauf und sagt zum Schluss im Auto "Wir geben den
Amerikanern den Mist in Form von Mafia zurück". Claudio Collová, ein bekannter, hochpolitischer Theaterregisseur aus Palermo,
der auch in Rom arbeitet. Er es, der die Türen der Strandkabinen öffnet.
Der Vulkanausbruch für die Szene mit dem Cellisten war ein Geschenk der Natur?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Der Ätna war zu jenem Zeitpunkt hochaktiv. Das größere Problem, war eine Drehgenehmigung zu bekommen, wir hatten auch keine
und waren deshalb nur zu dritt. Peter Waldenberger, der Tonmann, ich mit der Kamera und Giovanni. Er hat sein wertvollstes
Cello aus dem 16. Jahrhundert zu Ehren des Vulkans mitgenommen, und er spielte Eigenkompositionen, die unter die Haut gehen.
Es gingen sich gerade vier Takes mit dem vorhandenen Licht aus, es war ein unglaublich schöner Moment.
Witz und Humor gehören neben diesen poetischen Momenten auch zu den Leitmotiven Ihrer Arbeiten?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Ich glaube, es braucht diese Schärfe, Ironie und Humor, weil das Leben nicht nur schlecht ist. Es ist alles viel leichter
zu verdauen. Es gibt da, wie manche sagen, eine politisch unkorrekte Szene, wo der alte Mann nicht aus dem Auto kann. Ich
habe ihn entdeckt und selbst meine Crew meinte, ich könnte doch den armen Mann nicht einfach filmen. Ich muss aber sagen,
für mich hat das wie der Rollstuhl am Plakat die Situation dort und die Härte des Lebens so perfekt wieder gegeben, dass ich
das unbedingt im Film haben wollte. Es herrschen dort einfach rauere Bedingungen als hier bei uns, wo alles auf Sicherheit
gerichtet ist. Diese Szene bringt das zum Ausdruck und sie ist gut gelöst, weil er sie gut löst. Er hupt zum Schluss mit der
Flasche, findet also einen Ausweg. Dieser Witz und eine Ironie sind mir wichtig, damit man damit umgehen kann, auch wenn es
natürlich gar nicht lustig ist. Ein Beispiel ist auch die Szene mit der Fernsehsprecherin und der Geschichte der Gabel: das
wurde vom dortigen lokalen Fernsehsender tatsächlich gesendet. Dass das möglich war, hat auch gezeigt, dass die Sizilianer
zu einer Blödheit zu überreden sind, wenn sie darin etwas entdecken können. Das hätten wir weder in Österreich noch in Japan
geschafft.
Ein anderes ironisches Bild ist das mit dem Bürgermeister in der zerstörten Kirche?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Man kann sich gar nicht vorstellen, wie Leoluca Orlando im deutschsprachigen Raum verehrt wird. Er hat erst letztes Jahr einen
Bestseller herausgebracht über seinen Kampf mit der Mafia. Ich wollte den Mythos Orlando ein bisschen zerstören. Dass Palermo
unter seiner Ägide einen unheimlichen Aufschwung erlebt hat, es zu einem aufleben in der Kultur kam und die Umklammerung von
der Mafia zum Teil überwunden wurde, ist überhaupt keine Frage. Ich wollte das aber relativieren. Jeder Politiker sagt, alles
wird besser und von irgendwo kommen dann doch das Geld her, damit das möglich ist.
Inwiefern besteht ein Bezug zwischen Amerika und Sizilien, auf den Sie eingangs hingewiesen haben?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Es gibt Bücher, wo ganz klar nachzulesen ist, dass Sizilien vor der Entdeckung Amerikas so etwas wie Amerika war. Der Mittelmeerraum
war das Zentrum der zivilisierten Welt, Sizilien als größte Insel und Umschlagplatz der wichtigste Ort. Syrakus war einst
das, was New York heute ist, der Ort, wo der Puls der Zeit schlug, und von dem aus die Welt gedacht wurde. Es gibt mittlerweile
eine Reihe von Hollywoodregisseuren, die eine Analogie zwischen Rom und Washington heute herstellen. Für mich ist aber Los
Angeles der entscheidende Ort, wo die Manipulation anfängt. Der Hollywood-Film, der größte Wirtschaftsfaktor Amerikas, prägt
diese Welt und unser aller Denken. Ich habe deshalb länger in Rom gelebt und recherchiert, weil ich davon überzeugt bin, dass
weder der Kapitalismus unter amerikanischen Händen noch die amerikanische Idee von der Welt den Osten aufgebrochen haben,
sondern der Papst in Rom, wenn auch mit Hilfe. Ich glaube nach wie vor, dass von Rom aus als katholischer Zentrale, maßgeblich
bestimmt wird, was auf dieser Welt passiert. Das sind keine Verschwörungstheorien, sondern Faktum. Mich interessiert Jesus
Christus relativ wenig, umso mehr die gesamten politischen Zusammenhänge eines Klubs, der sich seit 2000 Jahren nur die intelligentesten
Leute heranzieht, um für andere vorauszudenken. Diesen Umstand mit dem, was Hollywood macht, in Verbindung zu setzen, ist
eines der Themen, die ich in meinem nächsten Film aufzuzeigen versuche.
Es gibt immer wieder ein Ineinandergreifen mit vorherigen Arbeiten, so wie der Stuhl auf der Dachterrasse an eine Ihrer künstlerischen
Aktionen erinnert.
EDGAR HONETSCHLÄGER: Ums Thema Stühle komme ich nicht herum. Das interessiert mich einfach. Der schönste Stadtteil Palermos, die Altstadt, ist
seit dem Zweiten Weltkrieg so belassen worden und es lebten immer die armen Leute dort. Nun siedelt man immer mehr von ihnen
an die Peripherie in Wohnblocks ab und young urban Professionals ziehen dort ein und zerstören damit das gesamte soziale Gefüge.
Der Mann, der da im Kreis geht, ist Architekt, der sich gleich drei Stockwerke genommen hat. Er hat das Haus hergerichtet,
die Familie, die hier vorher gelebt hatte, ist an die Peripherie abgewandert. Er hat das aus der guten Intention heraus gemacht,
die Substanz zu schützen, aber er hat grundsätzlich im Guten schon wieder etwas Schlechtes gemacht. Das sind Themen die mich
interessieren.
Wie lange dauerte die Arbeit am Film?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Ich habe insgesamt neun Monate in Sizilien verbracht. Das Buch habe ich in Wien geschrieben, die Dreharbeiten dauerten drei
Wochen und dazu kam eine Woche Vorbereitungszeit. Alles ist mit einer kleinen Digitalkamera gedreht, da wir praktisch kein
Budget hatten. Mein Glück war, dass die Amour Fou Filmproduktion bereit war, mit dem Nicht-Geld diesen Film zu produzieren.
Der Film ist inzwischen u.a. in Rotterdam, Buenos Aires, Bordeaux eingeladen. Ich erwarte mir nicht, damit die Welt zu erobern,
aber er funktioniert ganz gut. Er ist keine Symphonie, aber ich hoffe, dass der Film als gute Kammermusik anerkannt und da
und dort gespielt wird.
Gab es bereits Echos auf den Film aus Sizilien?
EDGAR HONETSCHLÄGER: Eine Premiere in Palermo ist geplant, einigen habe ich bereits eine DVD vorausgeschickt und es kamen Lobeshymnen zurück, die
ich nicht gewohnt bin. Man sagte mir, dass sich seit Pina Bausch mit ihrer Tanzperformance vor 15 Jahren niemand von außen
kommend eine Sichtweise auf Sizilien gelenkt hat, die sich so von dem, was sonst zu Sizilien produziert wird, unterscheidet.
Sizilien oder Palermo sind Orte, zu denen sehr viele Filmemacher etwas gemacht haben und jeder bezieht sich auf die Mafia,
als sei sie das wichtigste Element dieser Insel. Sie kommt auch in Il mare e la torta vor, aber nur periphär. Die Reaktionen freuen mich ungemein. Ich habe den Film zwar nicht gemacht, um bestimmte Leute zufrieden
zu stellen, aber es macht mich glücklich, dass die Leute dort durch mich etwas an ihrer eigenen Kultur sehen, das sie bisher
nicht in dieser Form sehen konnten.
Interview: Karin Schiefer (2004)