INTERVIEW

«Film ist für uns ein emotionaler Ballungsraum.»


 
Sabine Hiebler und Gerhard Ertl haben Cornelia Travniceks Roman Chucks fürs Kino adaptiert.
 
 

Nach Anfang 80 erzählen Sie nun auch in Ihrem neuen Film Chucks von einer Liebesgeschichte, die von Anfang an durch ihre Endlichkeit bestimmt ist. Es geht einmal mehr darum, dass sich Figuren über Konventionen hinwegsetzen, einmal mehr darum, sich vom Gefühl und nicht von der Vernunft leiten zu lassen. Ist dies eine Botschaft, die sie in aktuellen Zeiten besonders nachdrücklich aussenden wollen?

SABINE HIEBLER: In beiden Filmen geht es um Liebe und Tod. Das ist für uns eine unwiderstehliche Themenkombination und natürlich ist das eine Kombination die mit überwältigenden Gefühlen einhergeht. Diesen Themen ist mit Vernunft alleine ohnehin nicht beizukommen. Und wir wollten wieder einen emotionalen Film machen. Da hat Film, genau wie Musik für uns einfach seine mediale Stärke. Film ist für uns ein emotionaler Ballungsraum aber es geht dabei weniger darum, sich von Gefühlen aller Art leiten zu lassen, sondern darum, wie man mit vorhandenen Gefühlen umgeht, welche Werte man entwickelt und wie man selbstbestimmt handelt.
 
GERHARD ERTL: Es ist auch weniger eine Frage: Gefühl versus Vernunft. Die Frage ist vielmehr, wessen Vernunft und welche Gefühle vorherrschen und wie weit diese Vorherrschaften einzelnen Mitgliedern unserer Gesellschaft entsprechen. Alte, Junge, Kranke, Alleinerzieher, ... heute ist man rasch in einer sozialen Randgruppe oder nur einen kleinen Schicksalsschlag davon entfernt. Empathie für Randgruppen zu erzeugen, ist eine gute Möglichkeit wieder mehr Solidarität einzufordern.
 
 
Anders als bei Anfang 80 hatten Sie dieses Mal einen Roman als Grundlage für ihr Drehbuch. Inwiefern erschien Ihnen der Roman für eine Adaptierung geeignet?
 
SABINE HIEBLER: Egal ob eigener Stoff oder Romanadaption, ausschlaggebend ist für uns das Interesse am Stoff und den Figuren und das war bei Chucks gleich da. Cornelia hat eine wunderbare, kraftvolle Heldin geschaffen.  Eine starke, rebellische fast schon renitente Frauenfigur, die zugleich fragil und verletzlich ist – das hat uns sehr gereizt.
 
GERHARD ERTL: Und thematisch war es sowieso verblüffend, wie sehr sich die beiden Geschichten in Vielem ähneln, auch wenn sie in so völlig entgegengesetzten Altersgruppen angesiedelt sind.
 
 
Wenn die beiden Geschichten ähnliche inhaltliche Grundzüge aufweisen, so haben Sie dennoch einen anderen Zugang entwickelt. Wie unterscheidet sich dieser bei Chucks von seinem Vorgänger?
 
GERHARD ERTL: Es hat uns sehr interessiert, ähnliche Themen aus dieser anderen, jungen Perspektive heraus zu erzählen. Unsere Gesellschaft ist zwar vom Jugendwahn besessen, aber nur solange Jungsein mit gesund, stark, störungsfrei und leistungsorientiert gleichgesetzt ist. Sobald Jugendliche „schmutzen“, „lärmen“, sich ausloten, an Grenzen gehen oder die Gesellschaft auf den Prüfstand stellen, werden sie schnell als Störfall empfunden. Es kann aber nicht die Aufgabe von Jugendlichen sein, möglichst reibungsfrei in eine Gesellschaft hineinzuwachsen, das widerspricht dieser Entwicklungsphase.
 
 
Der Roman verrät von Beginn an das Ende der Geschichte, anders der Film. Wo haben Sie die komplexe Erzählstruktur des Buches fürs filmische Erzählen auflösen müssen?
 
SABINE HIEBLER: Diesen Vorgriff aufs Ende, hatten wir ursprünglich auch noch im Drehbuch, das haben wir erst im Schnitt verworfen, das war kein großer Eingriff. Der größte Unterschied ist, dass wir die vielen verschiedenen Zeitebenen des Romans auf zwei Zeitebenen reduziert haben. Der Film spielt, abgesehen von einigen Kindheitsrückblenden, in einer durchgehenden Zeiteinheit. Dieses Vor- und Zurückspringen in den unterschiedlichen Lebensphasen der Heldin ist literarisch sehr reizvoll, filmisch hätte das in diesem Fall aber so nicht funktioniert.
 
 
Der Film beginnt mit einer kurzen Erinnerungssequenz in die Kindheit. Ein Mädchen fängt auf einer Sommerwiese einen Schmetterling. Warum haben Sie als Einstieg diesen kurzen Moment einer irrealen Welt gewählt?
 
SABINE HIEBLER: Für Mae sind diese Erinnerungen sehr real. Sie hängt da in gewisser Weise fest. Diese Rückblenden ziehen sich dann ja auch durch den gesamten Film, parallel zu Maes Aufarbeitung und Entwicklung. Die Szene mit dem Schmetterling setzt sich später im Film auch noch einmal fort und ist Maes erste Konfrontation mit Tod.

 
Wie haben Sie mit Kameramann Wolfgang Thaler, mit dem Sie auch schon bei Anfang 80 zusammengearbeitet haben, die Bildebenen und die Ästhetik der Erinnerungen und der Gegenwart entwickelt.
 
GERHARD ERTL:  Wolfgang Thaler war für die Entstehung dieses Films enorm wichtig. Er hat diesmal ja schon frühe Drehbuchfassungen gelesen und sich von Anfang an eingebracht. Es war großartig, dass wir da auf unsere gemeinsame Erfahrung bei Anfang 80 aufbauen und dazu der Visualität diesmal viel mehr Platz einräumen konnten. Die junge, vitale Szenerie hat uns dafür viel mehr Spielraum geboten.
 
SABINE HIEBLER: Für die Erinnerungsszenen war es nicht so wichtig einen eigenen, speziellen Look zu finden, weil die Ebenen zwischen Jetztzeit und Erinnerung ohnehin ineinander übergehen sollten. Wichtig war hingegen, dass wir auch aus den Situationen heraus arbeiten konnten. In vielen Szenen wollten wir ohne starre Vorgabe für die Schauspieler arbeiten. Das war für die Authentizität einfach wichtig. Beim Einzug in ein Abbruchhaus zum Beispiel. Da haben wir die Gruppe reingeschickt und sie musste sich das Terrain erobern – oder in den Clubszenen. Das ist für den Kameramann und sein Team eine echte Challenge.  Da müssen alle stets am Punkt sein, sonst ist der Moment futsch.
Aber nicht nur da ist der Wolfgang halt ein echter Meister.
 
 
Wie sehr prägt eine literarische Vorlage die Bildersprache, die es zu finden gilt? In diesem Fall die Welt der 20-Jährigen, die einer Sprayer-Szene angehören.  Visuell wird auch Wiens Graffiti-Szene Tribut gezollt.
 
SABINE HIEBLER: Diesbezüglich sind wir vom Roman stark abgewichen. Da ist viel Aktualität eingeflossen. Wien hat eine ausgesprochen vitale, vielfältige Sprayer-Szene. Da gibt es von der reinen Selbstdarstellung bis zur künstlerischen und/oder politischen Intervention viele unterschiedliche Positionen. Die Verhaftung des Sprayers Puber, aber auch die Räumung der Pizzeria Anarchia, das war ja alles zeitgleich zu unserer Filmvorbereitung. Und Graffiti ist – egal wie man jetzt dazu steht – Aneignung von öffentlichem Raum.  Da verschaffen sich Jugendliche Gehör; das ist visuelle Kommunikation.

 
Mae weiß nicht nur, dass Paul todkrank ist, sie ist in ihrer Kindheit mehrfach mit Trennung und Tod konfrontiert worden. Was machen diese Erfahrungen mit ihr?
 
GERHARD ERTL: Mae muss die Krankheit und den Tod ihres Bruders miterleben, dann das Auseinanderbrechen ihrer Familie: Scheidung der Eltern, Umzug, Schulwechsel,... etc.
Das oder Ähnliches erleben viele Kinder und Jugendliche, obendrein in einer ziemlich krisengebeutelten Gegenwart.  Leistungsdruck und soziale Beschleunigung lassen wenig Zeit um solche Bruchstellen zu bewältigen. Mae hat diese Erfahrungen zum Zeitpunkt, als sie Paul trifft, noch nicht aufgearbeitet.  Das passiert dann mehr oder weniger gleichzeitig mit Pauls Krankheitsverlauf.
 
 
Mae beginnt für Paul zu stricken. Ein Verweis auf Penelope? Das Gestrickte legt immer größere schützende Netze über Paul, sie  ist auch dabei, einen Faden zu verarbeiten, der notwendigerweise ein Ende hat.
 
SABINE HIEBLER:  Der Gedanke ist schön, aber Penelope trennt das Gewebe immer wieder auf, um der Zeit und damit ihren Freiern ein Schnippchen zu schlagen. Das hat für Mae eine ganz andere Funktion. Sie entwickelt ihr Stricken vom einfachen Schal immer weiter bis hin zur Raum- und Landschaftsinstallation. Mae cocoont ja quasi öffentlich gegen die sterile Krankenhausatmosphäre an und baut später dann eine Strick-Gedenkstätte in die Auen.
 
Aber das Strickmotiv ist bereits im Roman angelegt – wir haben das, von Guerilla-Knitting inspiriert, lediglich ausgebaut.  Die Parallele zum Graffiti liegt für uns da auf der Hand und die Idee, mit einfachen, reduzierten Mitteln diesen visuellen Bogen zu spannen hat uns sehr gefallen. Der Kerngedanke ist so schön punkig: größtmögliche Wirkung mit kleinstmöglichen Mitteln.
 
 
Ein Thema, das in beiden Filmen auftaucht, ist die Unversöhntheit zwischen den Generationen, egal ob die Senioren oder die Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Steht da eine allgemeine Beobachtung dahinter?
 
GERHARD ERTL: Wie Cornelia Travnicek so schön sagt: „Familie war noch nie einfach“.
Und den Generations-Gap wird’s auch immer geben, aber für uns ist es weniger eine Unversöhntheit als eine Unvereinbarkeit. Die soziale Beschleunigung und der Leistungsdruck bringen viele in den roten Bereich – da bleibt einfach zu wenig Spielraum für individuelle Bedürfnisse – dafür sind einfach keine Ressourcen mehr vorhanden. Alles was zusätzliche Probleme schaffen könnte, wird daher ausgeklammert – auch innerhalb der Familien. In Anfang 80 mangelt es den Kindern am Verständnis für die Alten und bei Chucks den Eltern für die Jungen. Maes Mutter übersteht das tragische Auseinanderbrechen der Familie ja selbst nur sehr beschadet.
 
SABINE HIEBLER: Die Mutter wird übrigens von der großartigen Susi Stach verkörpert, die in Anfang 80 die Tochter spielte.
 
 
Als Hauptdarsteller brauchten Sie dieses Mal zwei junge Schauspieler, die wahrscheinlich in einer ihrer ersten Hauptrollen zu sehen sind. Wie fiel Ihre Wahl auf Anna Posch und Markus Subramaniam. Wie gestaltete sich die Arbeit mit ihnen.
 
SABINE HIEBLER: Markus hat das Reinhardseminar absolviert und seither einige Theatererfahrung gesammelt und Anna hat bereits in Peter Kerns „Diamantenfieber“ gespielt und davor ebenfalls eine Schauspielschule besucht. Gänzlich unerfahren waren die beiden also nicht, aber es war vom Script her allen Beteiligten klar: Diese Rollen sind schon ganz schöne Brocken. Chucks ist eine intensive Geschichte mit viel Emotion und Anna Posch ist als Mae in fast jeder Szene zu sehen.
 
GERHARD ERTL: Markus Subramaniam musste sich für die Rolle außerdem noch zehn Kilo abhungern, aber die beiden haben sich da echt reingehängt. Was die Arbeit angeht: Wir haben immer wieder improvisierte Szenen eingestreut, andere Szenen gemeinsam erarbeitet, oder haben die Schauspieler auch in Situationen geschickt, auf die sie gar nicht vorbereitet waren.  Das war für die Authentizität und Frische sehr wichtig.
 
 
Sehr präsent ist die Musik, die zum großen Teil (aber nicht nur) von Anja Plaschg alias Soap&Skin gestaltet wurde. Wurde die Musik für den Film komponiert? Warum ist Musik so ein wichtiger Faktor?
 
GERHARD ERTL: Musik spielt in unseren Filmen immer eine wichtige Rolle, alleine schon weil wir emotionale Filme machen.  Das war schon bei unseren frühen Experimentalfilmen so, bei denen wir die Musik selbst gemacht haben. Und Chucks spielt in der Jugendszene, in Clubs, Wohngemeinschaften,... da ist Musik ohnehin allgegenwärtig. Wir haben diesmal daher ausschließlich bereits vorhandene Musiktitel verwendet, das war für diese Geschichte und das Setting einfach stimmig.
 
SABINE HIEBLER: Die österreichische Musikszene ist gerade auf einem absoluten Hoch, wir konnten da so richtig aus dem Vollen schöpfen. Neben Titeln von Bilderbuch, Clara Luzia, Julian & der Fux, Camo & Krooked, Monsterheart, und vielen anderen ist Soap&Skin für den Film natürlich der absolute Glücksfall. Wir wollten unserer Heldin von Anfang an auch musikalisch eine starke weibliche Stimme geben und die hat Anja Plaschg.  Ihre Musik hat diese unglaublich starke Präsenz, auch oder gerade wenn sie zarte, brüchige Töne anschlägt.
 
Interview: Karin Schiefer
August 2015