Der Keller ist eine Metapher, die für Ihr gesamtes Werk stehen könnte. Sie suchen seit jeher nach den dunklen und verborgenen
Räumen in den menschlichen Seelen. Diesmal haben Sie die entsprechenden physischen Orte aufgesucht. Wofür steht für Sie der
Keller?
ULRICH SEIDL: Der Keller ist nicht nur eine Metapher, er ist zunächst einmal ein realer Ort. Er ist, wie wir schmerzlich wissen, ein Ort
des Verbrechens, des Versteckens, der Heimlichkeit, der Vergewaltigung, des Missbrauchs. Natürlich nicht nur, es gibt auch
die Freuden des Kellers – den Weinkeller, die Kellerstube, den Lebensmittelkeller... Der Anlass für diesen Film geht nicht,
wie man vielleicht annehmen könnte, auf die Fälle Kampusch oder Fritzl zurück, sondern auf meine Arbeit für HUNDSTAGE, für
den ich auf der Suche nach Schauplätzen viel in den Vorstädten unterwegs und viele Einfamilienhäuser gesehen habe. Dabei
habe ich festgestellt, dass die Kellerräumlichkeiten sehr oft großzügiger angelegt waren als die Wohnräume und dass sich vor
allem die Herren gerne im Keller aufhalten, um ihre Freizeit dort zu verbringen. Das war für mich der Ansatz. Man geht hinunter
in den Keller, um dort zu sein, wo man sein will. Angefangen von den Hobby-Kellern bis hin zu den Obsessionen. Der Keller
ist auch eine Metapher für Abgründe, für das Versteckte, für ein Doppelleben.
Die erste Einstellung – ein Mann, der im Schießkeller Opernarien singt –, kündigt den Aufbruch in die menschliche Widersprüchlichkeit
an. Ist der Keller als dunkler Ort, wo unheimliche Dinge geschehen, der aber auch schützt, per se ein Ort der Widersprüche?
ULRICH SEIDL: Der Keller hat beides. Er ist ein Ort der Freizeit, der Ort, wo sich die Leute selbst verwirklichen. Das beginnt bei Harmlosigkeiten
wie der Eisenbahn oder der Kellerbar. Man geht in den Keller, um unbeobachtet zu sein. Es ist ein Ort, der der Öffentlichkeit
nicht zugänglich ist. Die Tatsache, dass der Keller ein Ort des Vergnügens und Verbrechens ist, macht ihn so interessant.
Orte zu finden, die zeigen sollen, was eigentlich verborgen ist, klingt nach einer Quadratur des Kreises. Wie hat sich die
Suche nach Protagonisten und den Drehorten gestaltet?
ULRICH SEIDL: Das war eigentlich die Hauptaufgabe des Films. Es war mir sofort klar, dass der Keller ein freudiges wie schreckliches,
auf alle Fälle ein gutes Thema für einen Film ist. Die Frage war, wie kommt man an die Keller heran? Harmlosigkeiten und Banalitäten
findet man schnell. Die Hobbys, die Sammler. Die einen machen Teddybären, die anderen schnitzen Holz, die dritten flechten
Körbe. Jeder wollte seinen „schönen“ Keller zeigen. Die Frage, der ich nachging, war aber – Wie kommt man als Filmemacher
an etwas heran, das heimlich gemacht wird? Es war eine monatelange, mühsame Suche. Als Devise hat sich bewährt, weniger nach
den Orten als vielmehr nach Menschen zu suchen, die etwas offenbaren wollten. In erster Linie bedeutete es, in Siedlungen
zu fahren und an die Türen zu klopfen. Und wir haben auch über Inserate und Flugblätter gesucht. Wie immer ist es dann so,
wenn man sich auf etwas einlässt, dann kommt der Zufall zu Hilfe. Der so genannte „Nazi-Keller“ zum Beispiel ist ein Zufall.
Wie sehr zeigen Sie extreme Keller?
ULRICH SEIDL: Es gibt gewiss noch viel Ärgeres. Ich zeige ja keine Verbrechen, ich zeige Obsessionen. Was mir schon die Erfahrung bei
Tierische Liebe aufgezeigt hat, hat sich jetzt wieder bestätigt: Das wirkliche Leben ist viel ärger als der Film es aufnehmen kann. Ich kratze
hier nur an der Oberfläche.
Sind die Orte einmal gefunden, braucht es immer noch Menschen, die bereit sind, ihr Geheimnis vor der Kamera preiszugeben.
ULRICH SEIDL: Das geht dann Hand in Hand. Zu Menschen, die einen bei der Tür hineinlassen, hat man auch schon den Zugang. Wer verborgen
bleiben will, der lässt niemanden herein. Vom Keller, wo der Nazi-Vergangenheit gefrönt wird, weiß der ganze Ort. Da habe
nicht nur ich den Zugang gefunden. Natürlich besteht immer eine Hürde, sobald eine Kamera im Spiel ist. Wer zustimmt, dass
der Film gezeigt wird, weiß, dass der Film irgendwann ins Fernsehen und an die Öffentlichkeit kommt. Was werden die anderen
sagen, wenn sie das sehen? ist eine Frage, mit der sie umgehen müssen. Da muss man dann Leute finden, die dazu stehen. Ein
ähnliches Problem hatte ich bei Jesus, du weißt Da mussten die Leute auch innerste Gedanken vor der Kamera preisgeben.
IM KELLER erzählt vor allem von Menschen und ihren Aktivitäten im Souterrain. Man kann nicht von den Kellern erzählen, ohne
auch über Architektur zu reden. In welcher Verschiedenheit hat sich der Keller als Raum präsentiert? Verrät der Raum etwas
über die Menschen?
ULRICH SEIDL: Jeder Raum verrät etwas über die Bewohner. Schon der Vorraum, schon die Fassade. Jedes Detail in einem Raum sagt etwas über
die Menschen. Der Keller eben auch, der ist da keine Ausnahme. Der Kellerraum als Architektur hat natürlich eine viel weitere
Streuung als ich es zeige. Ich habe in Wien auch Atomschutzkeller recherchiert, die völlig verkommen sind oder die Keller
von Zinshäusern – dunkle, feuchte Keller, die heute kaum genutzt werden. Früher waren es Kohlenkeller oder man hat aus Platznot
Dinge im Keller gelagert. Ich erinnere mich noch aus meiner Kindheit an die Erdkeller meiner Großmutter. Man hätte im Film
aber den Fokus verloren, wäre ich darauf eingegangen. Die Schutzkeller allein wären ein interessantes Thema. Ich habe mich
aber dann auf die privaten Keller beschränkt.
Der Keller stellt sich in Ihrem Film in ganz überwiegendem Ausmaß als das Reich der Männer dar?
ULRICH SEIDL: Ich hatte zunächst die Absicht, einen Film über Männer zu drehen. Ich hielt es für einen schönen Gedanken, nach der Paradies-Trilogie und drei Filmen über Frauen, mich nun den Männern zuzuwenden. Es hat sich dann aber anders ergeben und ich wollte
nicht um jeden Preis an der Idee festhalten. Es gibt nun mindestens drei Frauen, die im Film so wichtig sind wie die Männer:
die Frau mit den Baby-Puppen, die Masochistin und die dominante Frau.
Fritz Lang, der Sänger im Schießkeller, gibt an einer Stelle im Film vier symbolische Schüsse in Richtung Kamera ab – ein
ironischer Wink in Richtung des Beobachters/des Eindringlings? Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Protagonisten im Laufe
der filmischen Arbeit betrachten?
ULRICH SEIDL: Mein Verhältnis zu meinen Protagonisten ist immer gut. Ich dringe ja nirgends ein. Ich klopfe nicht einfach wo an und stehe
mit der Kamera vor der Tür. In PARADIES: GLAUBE gibt es Szenen, wo Maria Hofstätter mit der Mutter Gottes unvorbereitet an
den Türen klingelt. Das ist etwas anderes. Im sogenannten dokumentarischen Arbeiten ist alles vorbereitet. Ich wähle Menschen
erst dann aus, wenn ich sie kennengelernt habe und sie für den Film für interessant halte. IM KELLER hat im Unterschied zu
den anderen Filmen praktisch keine Handkamera und er ist, wie man an den Bildern sieht, völlig durchgestaltet: mit vielen
Tableau-Darstellungen, mit vielem, das für die Kamera gemacht ist. Für mich ist IM KELLER ja kein Dokumentarfilm, sondern
geht ins Essayistische und es kommen auch Dinge vor, die fiktional sind.
Ist es manchmal schwer, in der Position des Beobachters zu bleiben, wo sich aufgrund starker Widersprüchlichkeiten ein Wunsch
zu verstehen/zu hinterfragen aufdrängt?
ULRICH SEIDL: Ich betrachte meine Arbeit nicht als reine Beobachtung. Es ist mein Versuch, den Menschen, die ich ausgewählt habe, nahe
zu kommen und zu begreifen, warum sie das tun, was sie da tun. Fritz Lang, den man in der ersten Einstellung sieht, ist ein
unheimlich guter Schütze und gleichzeitig ein Künstler, der immer gerne Sänger geworden wäre. Letztlich ist er Schießkellerbetreiber
geworden. Das ist tragisch, aber auch interessant. Ich versuche immer, die Leute zu verstehen. Manches ist mir nahe, manches
nicht. Und, was ich auch immer betone, man entdeckt ja auch die eigenen Abgründe. Wenn ich sie aufgrund von anderen Menschen
bei mir entdecke, dann müsste das auch beim Zuschauer so sein. Es wäre oberflächlich, würde man als Zuschauer behaupten: Die
sind alle arg, das sind nur extreme Leute. Das ist, glaube ich, nur der erste Blick. Diese Leute sind wahrscheinlich extrem
und nicht jeder hat das Bedürfnis, ein Flagellant zu sein und Frauen auszupeitschen, dennoch muss man auf den zweiten Blick
zugestehen, dass Vieles in uns ist, von dem wir selbst nicht wissen und das wir aus gewissen Gründen nicht zulassen. Auch
Rassismus oder Sexismus, all diese dunklen Dinge, sind in uns allen angelegt. Die Frage ist, wie man damit umgeht? Ich glaube
nicht, dass man behaupten kann, davon frei zu sein und es mit politischer Korrektheit einfach von sich weisen kann. Das halte
ich für verlogen. Das Interessante an dem Mann mit dem Nazi-Keller ist ja, dass ich ihn in keiner Weise für unsympathisch
halte. Der ist ein geselliger Mensch, der in seinem Garten Schafe züchtet. Der ganz Ort weiß, was er in seinem Keller eingerichtet
hat, die Musikgruppe kommt zu ihm. Das Schreckliche, das Rassistische, das Sexistische, das Nazitum – diese Dinge liegen in
der Normalität. Der Ort weiß davon, die Musikerkollegen treffen sich bei ihm. Das will ich damit zeigen. Ich will ja keinen
schlechten Menschen vorführen. Andere zeigen es nicht, denken aber nicht anders. Das spricht auch sehr für Österreich. Die
Verherrlichung des Nationalsozialismus ist in Österreich ja weit verbreitet, genauso wie die Verleugnung seiner Gräueltaten.
Sie zeigen Keller, wo viele Menschen sich etwas geschaffen haben, das ihnen erlaubt, ganz bei sich zu sein und dennoch strahlen
diese Portraits eine Traurigkeit aus.
ULRICH SEIDL: Ich weiß nicht, ob es traurig ist. Beklemmend ist es schon. Man sieht, was Menschen einander alles antun, um eine Befriedigung
zu erlangen, Glück zu finden, ihren Alltag zu ersticken. Auch das ist in jedem Leben angelegt, dass Sehnsüchte immer wieder
ihre Brüche erleben und dass es zu dem, was man sich für sein Leben erdacht hat, möglicherweise nie kommt. Beim SM-Paar hat
jeder seine Obsessionen und dafür den richtigen Partner gefunden, mit dem sie das ausleben können. Die Frage ist: Muss man
sich das antun oder was muss man sich antun, um zur Lust zu kommen? Aber die Frage ist bekanntlich so alt wie die Geschichte
der Menschheit. Der Mensch macht sich auch die Hölle selber. Man scheitert immer wieder am Leben, in Beziehungen, zwischen
Generationen. So schrecklich es dem Menschen geht, er braucht Hoffnung und eine Selbstbestätigung, damit er weiterleben kann.
IM KELLER war mehr noch als vorangegangene Filme der Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Geht es Ihnen auch darum,
noch nie gesehene Bilder geradezu „auszugraben“?
ULRICH SEIDL: Ich versuche immer Bilder zu machen, die noch nie gesehen worden sind. Das hat nicht unbedingt damit etwas zu tun, dass
man Dinge zeigt, die man nicht kennt. Ich versuche mit meinem Blick Dinge, die man unter Umständen kennt, so zu zeigen, dass
sie einem wieder die Augen öffnen. Ich grabe nicht im Exotischen, es gibt ja ohnehin bereits über alles Bilder und man weiß
scheinbar über alles Bescheid. Die Frage, die bleibt, ist: In welcher Form stelle ich es dar, wie wird es aufgezeigt? Die
Orte zu finden, die das ermöglichen, ist ein Weg, den man zurücklegen muss.
Interview: Karin Schiefer
August 2014