Das ganze Buch ist radikal. So, wie depressive Menschen gezwungen sind, aufgrund ihres seelischen Zustandes sich der radikalen
Situation, in der sie sich befinden, zu stellen. Das Schöne an der Figur wie Haushofer sie entwirft, ist, dass sie trotzdem
versucht, sich zu wandeln und zu verwandeln.
Wenn man sich die Aufgabe stellt, Marlen Haushofers Roman fürs Kino umzusetzen – steht man da zu Beginn zunächst vor einer
Wand?
JULiAN PÖLSLER: Nicht nur zu Beginn. Man steht für längere Zeit vor einer Wand, ich glaube, genau genommen bis zur Premiere.
Sie ändert wohl aber ihre Beschaffenheit?
JULiAN PÖLSLER: Ja, genauso, wie sie sich auch beim Lesen des Romans je nach persönlicher Stimmung, je nach Tageszeit, je nach Jahreszeit
verändert, so hat sich für mich auch die Herausforderung Die Wand ständig geändert. Nicht zuletzt auch deshalb, weil im Zuge
eines so langen Projekts auch die Mitstreiter gewechselt haben, was keinen unerheblichen Einfluss hat.
Hat der Roman DIE WAND in der Geschichte Ihrer persönlichen Lese-Erfahrungen eine besondere Rolle gespielt?
JULiAN PÖLSLER: Der Roman Die Wand hat mich 25 Jahre lang beschäftigt. Ich hab ihn 1986 zum ersten Mal gelesen und begann mich in der Folge damit auseinanderzusetzen.
Zunächst waren die Rechte nicht frei, vor sieben Jahren habe ich die Rechte erworben und habe dann weitere sieben Jahre intensiv
daran gearbeitet. Sehr intensiv.
Sie haben schon oft literarische Vorlagen bearbeitet, dem Roman Die Wand eilt eine Mutmaßung der Unverfilmbarkeit voraus, wie haben sich die Herausforderungen bei diesem Text gestellt? Welche Vorgaben
zwingt der Text dem Film auf? Welche Freiheiten lässt er andererseits offen?
JULiAN PÖLSLER: Ich bin jemand, der solche Spezialaufgaben sehr oft in Form von Aufträgen zugeteilt bekommt oder sie selber sucht. Das ist
auch bei meinen Fernseharbeiten so. Ich bekomme immer die eher schwierigen Sachen, die sich dann aber auch als die interessanten
herausstellen. Anscheinend ist es beim Kino nicht anders. Ich habe sehr lange mit meinem ersten Kinofilm gewartet. Im diesem
Fall hat sich mir etwas Außergewöhnliches in den Weg gestellt und das war diese „Wand“. Mein größtes Anliegen war, eine Plattform
für diesen grandiosen Text zu schaffen, den Marlen Haushofer geschrieben hat. Dem hab ich immer versucht, alles unterzuordnen.
Das war manchmal eine Last, aber sehr oft eine Lust, weil ich ihn zu den großartigsten Texten zähle, welche die deutschsprachige
Literatur hervorgebracht hat. In allem, was sie sagt, spricht mir Marlen Haushofer aus der Seele. Ich habe Phasen durchgemacht,
wo mir viele Leute das Gefühl gaben, das Unterfangen würde scheitern. In diesen Momenten konnte ich mir immer sagen, ich stehe
auf einer Plattform und da ist dieser Text, der trägt. Natürlich habe ich versucht, meine Lieblingsstellen unterzubringen
? die haben natürlich mitunter auch gewechselt, aber zwei, drei Passagen sind unverrückbar.
Welche Passagen sind das?
JULiAN PÖLSLER: Die erste ist jene, wo sie den dramaturgischen Fehler begeht, den ich dann im Film reproduziere – nämlich, den Tod des Hundes
voranzukündigen. Sie spricht da über ihre Beziehung zu den Lebewesen und berührt dabei etwas sehr Existenzielles. Dann die
Passage, wo sie über die Liebe spricht. Und die dritte betrifft die Veränderung und wie sie ihre innere und äußere Veränderung
selber wahrnimmt. Marlen Haushofer schreibt diesen Bericht in einer Jetztzeit und hängt mäanderartig die Ereignisse hinein.
Das habe ich versucht nachzuzeichnen. Es ist mir nicht ganz so gelungen wie ihr ? wir sind ja als Filmemacher, die Literaturverfilmungen
machen, Zwerge auf den Schultern von Riesen.
Der Raum hinter der Wand hat in vielerlei Hinsicht etwas Ambivalentes. Er bedingt Ausschluss/Grenze, wo es kein Zurück mehr
in ein früheres Leben gibt und gleichzeitig Schutz, denn nur hinter der Wand gibt es ein Überleben. Ist diese Frau eine Gerettete
oder eine Verdammte?
JULiAN PÖLSLER: Das eine wie das andere: von Tag zu Tag, von Ereignis zu Ereignis wechselnd. Am Schluss habe ich versucht, diese depressive
Grundstimmung hell zu gestalten. Ich glaube, sie ist eine Gerettete, weil sie bereit ist, mit sich und dem, was sie ausmacht,
sich wirklich auseinanderzusetzen. Sie kann ja nicht mehr vor sich selbst davonlaufen.
Von Marlen Haushofer wissen wir, dass sie nicht glücklich war in ihrem bürgerlichen Dasein und dass diese Frau in Die Wand autobiografische Züge trägt. Wie würden Sie diese Frauenfigur beschreiben?
JULiAN PÖLSLER: Ich habe versucht, diese Frau, dem, was Marlen Haushofer vorgibt, nachzuzeichnen. Ich wollte so detailgetreu wie möglich
sein. Das reicht bis zur Fellfarbe und der Rasse des Hundes. Bei der Frau ist es ebenso. Ich habe mit dem Autor und Psychiater
Paulus Hochgatterer gesprochen, der meint, dieses Buch sei die exakte Beschreibung einer Depression. Ich glaube auch, dass
diese Frau schwer depressiv ist, aber nicht nur. Sie versucht, indem sie sich von den Menschen zunächst entfernt und dann
entfremdet, eine neue Welt für sich zu öffnen. Darum wurde der Roman auch von der Emanzipationsbewegung wiederentdeckt, weil
das Frau-Sein eine wichtige Rolle spielt. Es ist ja kein Zufall, dass alles, was männliche Energie ist, ausgelöscht wird –
der Hund, der Mann, der Stier sterben, die Frau, die Katze und die Kuh überleben. Es ist bei dieser Frau sehr wichtig, dass
sie lernt zu ihrem Frausein zu stehen.
... und tut gleichzeitig einen Schritt in eine radikale Einsamkeit.
JULiAN PÖLSLER: Sie sagt ja an der Stelle, wo sie über die Liebe spricht, dass die Liebe die einzige Chance für uns Menschen gewesen wäre,
weil sie dem Liebenden und dem Geliebten das Leben erträglicher machen kann. Dann taucht dieser Mann auf, den sie in einem
Akt der Selbstverteidigung tötet. Sie gibt aber selber keine klare Antwort, denn sie sagt: „Ich war froh, dass er tot war,
denn es wäre mir schwer gefallen, einen verletzten Menschen zu töten. Und am Leben hätte ich ihn nicht lassen können, oder
doch?“ Das ganze Buch ist radikal. So, wie depressive Menschen gezwungen sind, aufgrund ihres seelischen Zustandes sich der
radikalen Situation, in der sie sich befinden, zu stellen. Das Schöne an der Figur wie Haushofer sie entwirft, ist, dass sie
trotzdem versucht, sich zu wandeln und zu verwandeln.
Sie brauchten für diese Rolle eine Schauspielerin, die diesen Film und seinen Text trägt. Welche Qualitäten als Schauspielerin
brachte Martina Gedeck in diese Rolle ein?
JULiAN PÖLSLER: Ich muss gestehen, sie war nicht meine erste Wahl. Ich wollte zunächst unbedingt eine Österreicherin und auch jemanden, der
zarter, zerbrechlicher wirkte. Dann hat mir Michael Haneke einen Kontakt zu Juliette Binoche hergestellt, mit der ich ein
tolles, mehrstündiges Gespräch in Paris geführt habe. Sie hätte diese Rolle sehr gerne gespielt, es ist aber schließlich gescheitert.
Um eine Juliette Binoche für vierzehn Monate zu sperren, da braucht es ein Hollywood-Budget. Unsere deutschen Produktionspartner
wollten immer Martina Gedeck. Ich hatte keinerlei Bedenken, was die Schauspielerei betraf, aber sie schien mir vom Typ her
zu kräftig, zu robust. Ich wollte jemand Fragileren, wo man sich zunächst sagt, das schafft diese Frau nie.
Gab es dennoch im Vorfeld des Drehs eine gemeinsame Arbeit am literarischen Text?
JULiAN PÖLSLER: Wir haben uns sehr schnell ganz non-verbal auf die Interpretation dieser Figur geeinigt. Eine richtige Textarbeit gab es nicht,
da der ganze Film ja praktisch ohne Dialoge auskommt. Aber wir haben am Off-Text gearbeitet. Wir haben uns mehrere Male getroffen
und haben sehr viel geredet, allerdings sehr wenig über Die Wand und noch weniger über die Frau. Wir haben uns sehr viel Persönliches erzählt. Es ist eine besondere Situation, einen Film
praktisch nur mit einer Darstellerin zu erarbeiten, so wie dieses Projekt in allem etwas Besonderes war. In welchem Ausmaß
es sich letztendlich als außergewöhnlich erwiesen hat, das hat mich selber überrascht. Die Geschichte erzählt sich in ihrer
Gesamtheit anders: es gibt keine herkömmliche Filmsprache, keinen Schuss/Gegenschuss. Abgesehen von einigen wenigen Szenen
mit dem Hund gibt es nur Zustände und das über vierzehn Monate Drehzeit hinweg.
Wie fanden Sie zur Lösung für die Darstellung der unsichtbaren Wand?
JULiAN PÖLSLER: Im Drehbuch hatte ich zunächst ganz komplizierte Kranfahrten und Helikopteraufnahmen vorgesehen und dachte dann aber an Axel
Corti, dessen Assistent ich war, der gesagt hat: „Das Einfache ist das Schwere“. Ich versuchte es schließlich, so einfach
wie möglich zu machen. Das Schwierigste war das Sounddesign an der Wand. Wir haben alles probiert. Ursprünglich sollte Hubert
von Goisern die Musik machen, was dann doch nicht zustande kam. Wir experimentierten mit Sounddesignern, die mit Musik und
Geräuschen arbeiteten. Durch Zufall erfuhr ich, dass es Menschen gibt, die stets ein Brummen im Ohr haben, das aber kein Tinnitus
ist. Eine Theorie dazu erklärt, dass es sich um besonders sensible Menschen handelt, die die Erdrotation wahrnehmen. Das fand
ich interessant. Ich bin daraufhin mit einem Wissenschaftler der Frage nachgegangen, wie dieser Ton klingen könnte. Er meinte,
es könnte wie ein elektromagnetisches Feld klingen und so versuchten wir, solche Geräusche zu erzeugen.
Die Natur kann man eindeutig als zweiten Protagonisten interpretieren. Wie geht man filmisch an die Natur heran, wenn es auch
gilt, diesem spirituellen Aspekt der Eins-Werdung mit der Natur gerecht zu werden?
JULiAN PÖLSLER: Berge können nicht kitschig sein. Kitschig werden sie nur im Auge der Betrachter. Ich stehe zur Schönheit der Berge und scheue
nicht davor zurück, sie schön zu zeigen. Da ihr die Natur Herausforderung und Heim gleichzeitig ist, war es mir auch so wichtig,
dass alle Innenräume on location und nicht im Studio gedreht wurden. Die Aufnahmen in der Hütte waren für die Produktion eine
logistische Meisterleistung, besonders beim Winterdreh, der bei minus 19° stattfand.
Wie haben sich die vierzehn Monate Drehzeit praktisch gestaltet?
JULiAN PÖLSLER: Wir haben im Winter begonnen, weil ich die Unberechenbarkeit dieser Winter im Salzkammergut kenne, und die coop99 filmproduktion
so plante, dass ich nötigenfalls einen zweiten Winter zur Verfügung hatte. Gleich nach dem dritten Drehtag erkrankte Martina
Gedeck schwer und wir mussten abbrechen. Wir standen schnell vor dem Problem, dass es unmöglich war, für die Dauer des langen
Drehs durchgehend einen Kameramann zur Verfügung zu haben. Ich musste für jeden Dreh-Slot neue Heads of Department suchen
und in die Geschichte einführen und gleichzeitig durfte ich den Blick fürs Gesamte nicht verlieren. Das war sehr anstrengend,
aber es ist zum Glück ganz gut aufgegangen mit insgesamt acht sehr guten Kameraleuten und vier Ausstattern. Die Realisierung
dieses Projekts war auf alle Fälle eine Meisterleistung von Bruno Wagner, er hat im Laufe dieses Projekts alle seine lässlichen,
aber auch seine Todsünden, falls er welche hat, abgedient. Es hat uns gleich beim ersten großen Drehblock erwischt, weil wir
im Frühling drei Wochen strömenden Regen hatten. Unser Hauptmotiv an der Wand stand 1,40 m unter Wasser. Und die Schwierigkeiten
hörten nicht auf: Beim Herbstdreh war das Wetter zu schön, im Winter hatte es beinahe minus 20 Grad, da war nicht nur das
Erreichen des Motivs problematisch, es gab auch keinen Strom. Eigentlich müsste es heißen – ein Film von Julian Pölsler und
Bruno Wagner. Ich hatte mit der coop99 auch eine Produktionsfirma, die sich an ein so außergewöhnliches Projekt heranwagt,
weil sie –ich zitiere jetzt das RAY-Heft zum 10-Jahres-Jubiläum von coop99 – einen außergewöhnlichen „Mann im Holzfällerhemd“
hat. Das war ein Glücksfall.
Tiere sind ein weiterer Faktor, die in der Regel Dreharbeiten erschweren?
JULiAN PÖLSLER: Es war schon einmal grundsätzlich schwierig, einen bayrischen Gebirgsschweißhund zu bekommen, da es sich dabei um einen Jagdhund
handelt, der von österreichischen Züchtern nur an Jäger abgegeben werden. Für einen Film wollten sie schon gar keinen zur
Verfügung stellen. Zum Glück hat Bruno Wagner zwei in Deutschland gefunden, davon war der eine bei einer professionellen Tiertrainerin
und der zweite bei mir, weil ich ihn für Großaufnahmen brauchte. Ich habe viel Erfahrung mit Tierdrehs, mich stört an trainierten
Hunden oft, dass sie immer sofort zum Trainer schauen, sobald sie ihre Aufgabe gelöst haben. Da ich wusste, dass ich sehr
lange Einstellungen haben würde, für die die traditionelle Form des Tiertrainings nicht so günstig ist, bat ich um einen zweiten
Hund, mit dem ich anders gearbeitet habe. Ich habe eher versucht, mit meinem Hund vernünftig zu reden (lacht) und kurz vor
Drehbeginn stellte sich heraus, dass die Szenen mit dem professionell trainierten Hund gar nicht funktionierten und so kam
Luchs, der von mir vorbereitete Hund, voll zum Einsatz. Er absolvierte alle 75 Drehtage.
Wenn Authentizität eine so große Rolle spielt, warum spielt der Film nicht in den sechziger Jahren?
JULiAN PÖLSLER: Dazu gab es heftige Diskussionen. Der Mercedes ist ein Modell aus den sechziger/siebziger Jahren. Ich habe versucht, einen
zeitlosen Film zu machen, weil ich glaube, dass die Thematik an keine Zeit gebunden ist. Bedrohung ist immer präsent und auch
die Vereinsamung ist ein ewig gültiges Thema. Der Film transportiert ja auch eine Botschaft, die aus dem Radio tönt. Das ist
eine Rede von Aung San Suu auf Burmesisch über Demokratie und Freiheit. Ich hatte einmal die Idee, den Film dieser Frau zu
widmen. Ich bewundere sehr, wie sie sich hinter der Wand, die man ihr errichtet hat, durchschlägt. Inzwischen ist es zum Glück
zu einer Wende gekommen und diese Radiorede ist zu einer geheimen Botschaft geworden. Aung San Suu steht als Metapher für
Menschen, die sich nicht fürchten und die bereit sind, für ihre innere Freiheit hinter eine Wand zu gehen.
Interview: Karin Schiefer
November 2011