«Was mich dazu geführt hat, war die Frage – 'Wie geht man mit dem Leiden eines Menschen um, den man liebt?'» Michael Haneke
über seinen neuen Film AMOUR.
„Die Vorstellung und die Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun“, sagt Anne zu Georges an einer Stelle im Film, wo sie
mit ihm sein Handeln ihr gegenüber diskutiert. Ging es Ihnen in Amour darum, in eine Wirklichkeit der Liebe zu dringen, wo
gängige Vorstellungen davon ihre Grenze erreichen und somit den Topos der Liebe im Kino zu reflektieren?
MICHAEL HANEKE: Eine Antwort auf diese Frage führt zur Selbstinterpretation, ich will aber ungern sagen, was ich mit diesem Film ausdrücken
will, denn dann sehen die Leute nur das, was ich gesagt habe. Journalisten wollen Antworten auf Fragen haben, die ich mit
meinen Filmen aufwerfe. Die Fragen sollen aber die Zuschauer stellen.
Was ebenso stark wie die Liebe zwischen diesen beiden Menschen spürbar wird, ist ihr unbedingtes Festhalten an ihrer Würde.
MICHAEL HANEKE: Man kämpft immer um seine Würde und je schwieriger die Situation ist, in der man sich befindet, umso größer der Kampf, den
man zu führen hat. Das ist unser menschliches Schicksal, unabhängig vom Alter. Jeder Mensch ist mit der Frage konfrontiert,
wie weit er sich vom Schicksal die Würde rauben lässt oder wie weit er versucht, dagegen anzukämpfen.
Die wenigen Treffen von Anne und Georges mit der Generation ihrer Kinder, sei es mit der Tochter, dem Schwiegersohn, sei es
mit dem Pianisten, unterstreichen die Kluft, die zwischen den Generationen liegt und den Wandel von Werten und Lebenskonzepten.
Erzählt Amour auch vom Abschied von einer anderen Welt?
MICHAEL HANEKE: Unterschiedliche Generationen entwickeln in der Umwelt, die sie umgibt, unterschiedliche Lebenskonzepte. Das ist eine Entwicklung,
die sich in jeder Generation abspielt. Es ist das Spannende und Traurige, dass bei jedem Generationenwechsel Verständigungsschwierigkeiten
auftreten. Das ist ein ewiges Konfliktpotenzial und es ist immer ein Abschied. Es ist immer die ältere Generation, die sich
verabschiedet und die verabschiedet wird, weil sich die Welt um sie herum so verändert, dass sie mit ihr wenig anfangen kann.
Ich kann natürlich nur einen Film über die Generation machen, die ich kenne. Es ist ein Problem, das jeden irgendwann ereilt,
sei es durch die Eltern, sei es durch einen selber. Unsere Gesellschaft ist so organisiert, dass man, wenn man nicht gerade
ein Millionär ist und sich häusliche Pflege leisten kann, im Falle eines gravierenden Handicaps gezwungen ist, sich von seinem
Heim und der gewohnten Umgebung, die einem Sicherheit gibt, zu trennen und das ist ein furchtbarer Prozess, der Alptraum jedes
Menschen.
Es gibt eine schöne Szene am Küchentisch, wo Anne nach den Fotoalben fragt und sich der Vergangenheit zuwendet, während Georges
weiter isst und gleichzeitig in der Gegenwart bleibt. AMOUR konfrontiert nicht nur die Generationen miteinander, sondern auch
die Zeiten.
MICHAEL HANEKE: Ich gehe ja nicht mit einem Konzept an einen Film heran, um einen Film über ein bestimmtes Thema zu machen. Es sind persönliche
Erfahrungen oder Figuren oder Personenkonstellationen, die mich interessieren. Journalisten müssen die Sachen auf den Punkt
bringen und dabei griffig formulieren, aber Kunst findet anders statt. Griffige Formulierungen sind meist eine Verflachung,
weil es gar nicht anders geht. Sobald eine Sache auf den Begriff gebracht ist, ist sie künstlerisch tot. Dann lebt nichts
mehr und man braucht sich den Film gar nicht mehr anzuschauen. Das ist immer das Problem zwischen der künstlerischen Äußerung
und einem Bericht darüber. Wenn man einen Film ohne Vorwissen sieht, ist er wesentlich widersprüchlicher und komplexer. Es
geht in Amour um tausend Sachen und sobald ich eine hervorhebe, reduziere ich die anderen. Natürlich sind diese Beobachtungen Teil meiner
Überlegungen, aber ich habe mir nie vorgenommen, nur über ein konkretes Thema einen Film zu machen. Was mich dazu geführt
hat, war die Frage - Wie geht man mit dem Leiden eines Menschen um, den man liebt? Das hat mich interessiert, weil ich das
auch privat in der Familie erlebt habe und es mich sehr bewegt hat. So begann ich darüber nachzudenken. Und dann fallen einem
aus der Erinnerung oder in der Phantasie Dinge ein. So entstehen Situationen und aus denen entstehen Szenen und die haben
eine Bedeutung. Auch bei Das weiße Band habe ich mir nicht gesagt – „Jetzt will ich einen Film über Erziehung und Faschismus machen“. Am Beginn stand die Idee von
mir, einen Film über einen Kinderchor im Norden zu machen. Aus den Gedanken dazu ergibt sich dann Verschiedenes. Das Thema
ist aber nie der Ausgangspunkt meiner künstlerischen Arbeit. Da fiele mir nichts mehr ein, wenn sofort klar wäre, was ich
erzählen will.
Türen und Fenster – offen oder geschlossen –, Schwellen zwischen Innen und Außen sind allgegenwärtig. Raumtechnisch ist AMOUR
(vom Beginn abgesehen) ein Kammerspiel. Können Sie etwas über die Konzeption dieser Wohnung sagen?
MICHAEL HANEKE: Die ersten beiden Szenen spielen im Théâtre des Champs-Elysées in Paris, dann gibt es noch die Szene im Bus, nach diesen drei
Eingangssequenzen spielt alles im Studio. Die Dreharbeiten haben zur Gänze in Frankreich stattgefunden, die Studios lagen
etwas außerhalb von Paris. Dann galt es noch, die Ausblicke aus den Fenstern zu drehen, z.B. mit wehenden Vorhängen, was natürlich
sehr kompliziert war, um es auch glaubwürdig darzustellen.
Sehr augenscheinlich ist an diesem Innendreh ein sehr konsequentes Farbkonzept. Warum?
Michael Haneke: Die Leute haben Geschmack und sind geschmackvoll eingerichtet. Der Grundriss dieser Wohnung ist der Grundriss
der Wohnung meiner Eltern – sie ist natürlich in einem französischen Einrichtungsstil nachgebaut – entspricht aber ziemlich
genau der Geografie der elterlichen Wohnung. Das erleichtert den Zugang. Wenn man sich dazu etwas überlegt, dann fällt einem
viel ein. Das Farbkonzept ergab sich durch die nachgebaute Bibliothek: Von ihr ausgehend haben wir versucht, die Wohnung mit
Geschmack einzurichten, ohne dass nun die Farbigkeit mehr zu bedeuten hätte. Ich wollte eine geschmackvolle Wohnung im Stil
einer Generation – es gibt Möbel aus den fünfziger Jahren, eine Stereoanlage, die aus Elementen aus den sechziger Jahren und
einem DVD-Player, der aus den 2000-er Jahren stammt, zusammengemixt ist. Wir haben uns sehr genau überlegt, wie diese Wohnung
im Laufe der vielen Jahre zustande gekommen ist. Auf jeden Fall sollte sie nach Leben ausschauen und nicht nach Studio. Das
ist eines vom Schwierigsten, im Studio eine Wohnung zu bauen, die nach Leben und nicht nach Dekoration ausschaut.
Wie kam es zur Zusammensetzung des Casts in AMOUR?
MICHAEL HANEKE: So wie ich Caché für Daniel Auteuil geschrieben habe, habe ich diese Rolle für Jean-Louis Trintgnant geschrieben, weil ich ihn immer bewundert
habe und mit ihm arbeiten wollte. Das war mit ein Grund, mir einen Film über alte Menschen auszudenken. Isabelle Huppert für
die Rolle der Tochter lag auf der Hand: sie passte genau vom Alter her und wenn man will, kann man zwischen ihr und Emmanuelle
Riva eine entfernte Ähnlichkeit entdecken. Emmanuelle Riva kannte ich natürlich von Hiroshima, mon amour - ein Film, der mich sehr beeinflusst hat - , wo ich sie immer grandios fand. Dann hat sie aber keine großen Rollen mehr
fürs Kino gespielt. Ich hatte mir von Beginn an Emmanuelle Riva für diese Rolle vorgestellt, wusste aber nicht, ob es funktionieren
würde. Das Casting in Frankreich war dann klar überzeugend und ich finde, dass sie auch ein sehr schönes Paar sind.
Sie haben mit Jean-Louis Trintignant eine große Persönlichkeit des französischen Kinos nach einer sehr langen Pause wieder
vor die Kamera geholt. Ließ er sich leicht dazu überreden? Emmanuelle Riva wird dem Realismus, den Sie für diese Rolle einfordern,
in großartiger Weise gerecht. Wie haben Sie mit Ihren beiden Hauptdarstellern gearbeitet?
MICHAEL HANEKE: Jean-Louis Trintignant hatte Das weiße Band gesehen und war so begeistert, dass er gerne bereit war, dass wir gemeinsam arbeiten.
Es war ein Vergnügen zu sehen, wie er sich etwas einprägt und zu erleben, welche Tiefe er hat. Dazu kommt, dass er ein besonders
liebenswürdiger Mensch ist, den beim Dreh alle geliebt haben. Es war eine aufregende Sache, mit diesen beiden alten Menschen
zu drehen, denen es zum Teil physisch nicht so gut geht und zu sehen, mit welcher Disziplin sie an der Arbeit sind und mit
welcher Souveränität sie diese erledigten. Von Emmanuelle Riva waren wir alle sehr beeindruckt, denn es war ja auch eine gefährliche
Rolle. Jede Art von Handicap zu spielen ist sehr dankbar, wenn es gut gemacht ist und birgt gleichzeitig die Riesengefahr,
dass es schlecht wird. So war es auch bei der Rolle der Anne. Einerseits musste man ihr diese Lähmung abnehmen, andererseits
war es auch sehr wichtig, glaubhaft zu machen, dass sie eine Dame mit Format und eine Frau mit Autorität ist, die Pianisten
gedrillt hat. Man muss sich vor Augen halten, dass sie 84 war und sie hat sich mit eisernem Willen und einer besonderen Verantwortung
der Rolle gegenüber, die sie immer wieder betont hat, eingebracht. Ein lustiger Zufall ist nun, dass ihr erster Film überhaupt
und auch ihr erster Film in Cannes Hiroshima, mon amour war und sie nun wieder mit einem Film in Cannes ist, der „Amour“ im
Titel trägt.
Sie haben auch diesmal wieder eine Rahmenhandlung gewählt. Warum greifen Sie gerne auf dieses erzählerische Element zurück?
MICHAEL HANEKE: Es ist ein effizientes narratives Mittel, das einen Spannungsbogen aufreißt. Es hat sich hier angeboten. Bei dieser Geschichte
kann man sich ja ausrechnen, dass es nicht mit Happy End ausgeht. Warum soll ich mit der Ungewissheit des Ausgangs spielen?
Wenn der Tod von Anfang an eine Gewissheit ist, dann fällt dieser falsche Spannungsbogen weg, der unnötig ist. So etwas gibt
der Geschichte einen anderen Drall.
Sie lassen in dieser Erzählung Realität und Realismus, Traum und Erinnerung nahtlos ineinander verfließen...
MICHAEL HANEKE: ... wie im Leben auch.
Mit der Taube taucht etwas überraschend Symbolhaftes in Ihrem Kino auf?
MICHAEL HANEKE: Nehmen Sie die Taube doch einfach als Taube. In sie kann man hineininterpretieren, was man will. Ich würde es nicht als Symbol
bezeichnen. Ich habe mit Symbolen meine Schwierigkeiten, weil sie immer etwas bedeuten. Ich weiß nicht, was die Taube bedeutet.
Ich glaube, ich weiß nur, dass die Taube kommt. Die symbolisiert vielleicht für ihn und für den einzelnen Zuschauer etwas,
wenn er will, für mich symbolisiert sie nichts. Mit mehrdeutigen Dingen muss man vorsichtig umgehen, vor allem muss man mehrdeutig
damit umgehen. Ich hab so etwas des Öfteren schon gehabt. Denken Sie an 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, da hört man immer wieder Bach-Choräle aus einem Radio, das könnte man auch als Metapher betrachten, als ein Angebot, darin
mehr zu sehen, als es ist. Man muss aber nicht. In Paris gibt es viele Tauben.
Interview: Karin Schiefer
Mai 2012