Von der Welt erzählen, heißt in unserem Film auch etwas über Erziehung erzählen. Veronika Franz und Severin Fiala über die
Dreharbeiten zu ihrem ersten Spielfilm ICH SEH/ ICH SEH.
Der Titel eures Films entspringt dem Kinderspiel Ich seh, ich seh, was du nicht siehst ... Auch ein Verweis darauf, dass jeder
eine andere Sicht der Welt hat. Ist Wahrnehmung in ihrer Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit das grundlegende Thema eures
ersten Spielfilms?
VERONIKA FRANZ: Es geht darum, dass zwei Kinder - Zwillinge - nach einer kosmetischen Operation der Mutter Zweifel zu hegen beginnen, ob sie
tatsächlich ihre Mutter vor sich haben. Insofern geht es um Wahrnehmung und darum, dass sie vielleicht etwas anderes sehen
als da ist. Ist die Mutter am Ende die Mutter? Und wie kann sie das beweisen? Mit diesen Fragen und Ungewissheiten spielen
wir. Als Grundthemen des Films würde ich daher auch Erziehung und Identität nennen.
Gehört der Kinderwelt, dem kindlichen Blick auf die Welt ein besonders großer Raum im Film?
SEVERIN FIALA: Es war uns wichtig, die Welt und die Mutter aus der Sicht der Kinder zu zeigen. Wir haben uns daher im Vorfeld gefragt, wie
Kinder die Welt wahrnehmen und wie das visuell unseren Film beeinflussen könnte.
Wie lässt sich die Geschichte von ICH SEH/ ICH SEH kurz zusammenfassen?
SEVERIN FIALA: Zehnjährige Zwillingsbrüder werden nach dem Urlaub von ihrem Vater zur Mutter zurückgebracht und sie finden ihre Mutter noch
ganz einbandagiert und in ihrem Verhalten völlig verändert vor. Sie beginnen, wie gesagt, zu vermuten, dass gar nicht ihre
Mutter unter dem Verband verborgen ist, sondern eine Person, die ihnen Schaden zufügen will.
Im österreichischen Kino erwacht ein Faible für das Genre-Kino. Es wäre kein österreichischer Autorenfilm, würde er das Genre
nicht in seiner ganz eigenen Weise auslegen. Wie sieht euer Zugang zum bzw. Umgang mit dem Genre Horrorfilm aus?
VERONIKA FRANZ: Ich habe in meiner Arbeit mit Ulrich Seidl immer das Gefühl gehabt, dass seine Filme auch Horrorfilme wären, wenn man sie
in erzählerischer Hinsicht oder in der Konstruktion noch ein bisschen übersteigern würde. Die Frage, ob es möglich ist, naturalistische
Inszenierung mit Genre zu kombinieren, hat uns sehr interessiert. Wir beide haben dann ICH SEH/ ICH SEH geschrieben. Anders
aber als Ulrich Seidl haben wir dann das Drehbuch vom Anfang bis Ende so genau wie möglich umgesetzt: Obwohl die Darsteller
im Vorfeld keine Zeile Dialog gelernt haben. Wenn ich jetzt ein Ziel formulieren soll, wie der Film am Ende ausschauen soll,
dann hätte ich gerne, dass er zumindest stellenweise etwas Hypnotisches, etwas hypnotisch Verunsicherndes hat. Oder möchtest
du etwas anderes?
SEVERIN FIALA: Nein. Wir wollen doch immer das Gleiche.
Sind die Mutter und die beiden Buben die Figuren, die den Film tragen?
SEVERIN FIALA: Ja, es ist über weite Strecken ein Drei-Personen-Stück. Es kommen aber auch immer wieder Randfiguren vor, die von Laien gespielt
werden. Der Cast ist eine Mischung aus Schauspielern und Nicht-Schauspielern. Letztere überwiegen.
VERONIKA FRANZ: Für einen ersten Spielfilm ist das besser überschaubar - nur drei Hauptdarsteller und ein Haus zu haben. Es birgt natürlich
auch ein Risiko, wenn alles immer nur an drei Personen hängt. Bei mehreren Darstellern würde es sich besser verspielen, wenn
einer nicht ganz auf der Höhe ist.
Habt ihr mit der Auswahl eurer Zwillinge den richtigen Griff getan?
VERONIKA FRANZ: Was sollen wir darauf sagen? Wir haben soeben abgedreht und acht Wochen mit unseren Zwillingen verbracht. Wir sind quasi in
sie verliebt. Es sind großartige Kinder, und sie haben auch noch Eltern, die alles nervenstark mitgetragen haben. Wir hatten
ja im Vorfeld 120 Zwillingsbuben zwischen acht und zwölf Jahren gecastet. Bei fast allen war ein Zwilling mehr talentiert
als der andere. Lukas und Elias hingegen waren grundsätzlich gleich gut und jeder von ihnen konnte etwas anderes auch noch
besonders gut. Der eine konnte sehr gut den Kaltblütigen spielen, der andere den Verletzlichen. Ziemlich gegenteilig also,
und sie waren beide phantastisch darin.
SEVERIN FIALA: Wir sind eine Woche vor dem Dreh mit ihnen ins Haus gezogen, damit das Haus nicht nur eine Kulisse für sie bleibt. Wir haben
eine Woche lang dort gewohnt, viel mit ihnen gespielt. Um das Drehbuch haben wir uns in dieser Zeit überhaupt nicht gekümmert.
Wie wurde Susanne Wuest dann in die Vorbereitung eingebunden?
VERONIKA FRANZ: Wir kennen Susanne Wuest schon länger und sie war eine Wunschbesetzung. Trotzdem hat sie das Drehbuch im Vorfeld nie in die
Hand bekommen, wir haben es ihr nur einmal - beim gemeinsamen Kochen - erzählt. An den jeweiligen Drehtagen haben wir uns
dafür mehr Zeit genommen, die bevorstehenden Szenen mit ihr ausführlich zu besprechen.
SEVERIN FIALA: Wir haben ja chronologisch gedreht, was bedeutet, dass die Darsteller immer mehr in den Film hineinwachsen konnten. Sie wussten
von Tag zu Tag ja nicht, was passiert und wie die Geschichte weitergehen würde. Zum Schluss hin steigerte sich natürlich ihr
Interesse, wie die Geschichte endet. Es wäre einiges verloren gegangen, hätten wir den Ausgang von Anfang an verraten.
Wenn ihr ohne Drehbuch mit den Darstellern gearbeitet habt, wie sahen konkret die Drehanweisungen bzw. die Vorbereitung kurz
vor Dreh aus?
SEVERIN FIALA: Damit kein Missverständnis entsteht: Wir hatten Drehbuch und Dialoge genau im Kopf und sie mit den Darstellern nur deshalb
mittels Improvisation erarbeitet, damit das Ergebnis so authentisch wie möglich wird. Wir haben mit ihnen etwa oft getrennt
gesprochen, jedem für die Szene eine Aufgabe gestellt und sie dann einander überraschen lassen.
VERONIKA FRANZ: Wir sind da gemeinsam einen Weg gegangen. Man kann Kinder nicht einfach an den Bach setzen und sagen, „jetzt spielt einmal
lustig“. Wenn man will, dass sie im Film in der ihnen eigenen Energie spielen, macht es Sinn, dass man sich vor dem Dreh die
Zeit nimmt, selbst mit ihnen zu spielen. Auch wenn dann das ganze Team wartet. Die Frage - Wie versetzen wir sie in genau
die Stimmung, die wir für diese Szene brauchen? - war auch ein Zugang. Wir haben zu Beginn mehr Zeit dafür aufgewendet, Dinge
spielerisch zu erarbeiten, am Ende wussten die Kinder schon unheimlich schnell, was wir wollten. Dreharbeiten sind oft wahnsinnig
ernst. Wir haben versucht, durch diese acht Wochen hindurch das Spielerische und den Humor nicht zu verlieren. Das war auch
für die Kinder gut.
Haben die Darsteller ihre Worte und Dialoge selbst gefunden?
SEVERIN FIALA: Ja und Nein. Wir wollten ja die Geschichte genau umsetzen und dabei müssen oft gewisse Sätze fallen und gesagt werden. Auch
im Rahmen einer Improvisation. Das war eine der schwierigsten Übungen.
VERONIKA FRANZ: ... und dann doch verblüffend, wie oft beim Improvisieren die Sätze so kamen, wie sie im Drehbuch gestanden sind, ohne dass
die Darsteller es je gelesen hatten.
Hat sich der Dreh sehr stark auf das Haus fokussiert?
SEVERIN FIALA: Ja, wir hatten nach einem Haus gesucht, das sehr einsam gelegen ist. Am Ende gab die Natur den Ausschlag: bemooste Steine,
Wald und Insekten des Waldviertels. Das Einzige, was fehlte, war ein Kukuruzfeld. Also haben wir das selber gepflanzt. Wir
hatten allerdings nicht die klimatischen Eigenheiten des oberen Waldviertels bedacht. Zu Drehbeginn schaute es nicht so aus,
als würde er irgendwann die nötige Höhe erreichen. Kurz vor Drehende überragte uns der Kukuruz dann doch.
ICH SEH/ ICH SEH wurde auf 35 mm gedreht. Warum diese Entscheidung, auf Film zu drehen?
SEVERIN FIALA: Weil es einfach am besten ausschaut. Außerdem führt es zu einer anderen Konzentration in der Arbeit, wenn man nicht jederzeit
auf den Aufnahmeknopf drücken kann. Filmmaterial kostet schließlich Geld und zwar pro Meter. Anfangs kam von außen oft der
Einwand, dass wir mit dem Drehverhältnis wohl Schwierigkeiten bekommen könnten und Film auch nicht lichtempfindlich genug
sei. Diese Probleme tauchten allerdings am Ende glücklicherweise nicht auf.
VERONIKA FRANZ: Den einzigen Zwischenfall gab es am letzten Drehtag, wo der DHL-Bote mit dem lichtempfindlichen Filmrollen einfach nicht mehr
aufgetaucht ist (lacht) Eines muss man vielleicht noch hinzufügen: In unserer Liebe zum Filmmaterial hat uns Ulrich Seidl
als Produzent sehr stark unterstützt und auch Verantwortung übernommen, wären wir mit dem kalkulierten Material nicht ausgekommen.
Hat das Drehen auf Film auch eine besondere Vorbereitung mit dem Kameramann Martin Gschlacht bedingt?
SEVERIN FIALA: Martin Gschlacht ist ein sehr solidarischer Mitstreiter für die künstlerische Idee. Ohne ihn würde der Film nicht so aussehen
wie er es tut. Er ist handwerklich international ohnehin in der obersten Liga und hat sich gleichzeitig eine unglaubliche
Offenheit behalten. Er geht mit offenen Armen auf ein Projekt zu, lässt sich darauf ein und trägt es dann auch mit. Insofern
ist er ein ganz besonderer Glücksfall. Ich verstehe jetzt, warum er als Kameramann so beliebt ist. Er bringt über sein künstlerisches
und handwerkliches Können hinaus, auch eine menschliche und organisatorische Größe ein.
Genrefilm braucht wahrscheinlich auch Musik. Welches Konzept habt ihr für die Tonebene entworfen?
VERONIKA FRANZ: Wir haben mit unserem Tonmann Klaus Kellermann erarbeitet, dass Geräusche der Natur und Geräusche des Hauses übersteigert
werden. Was die Musik betrifft, so wird Olga Neuwirth den Soundtrack komponieren. Wir haben ihr schon eine CD mit Geräuschen
geschickt: etwas das vielfältige Fauchen von Fauchschaben, da die Buben ein Terrarium besitzen. Oder das Kinderlied, das immer
wiederkehrt und wie es die Zwillinge am Klavier spielen: Guten Abend, gute Nacht.
Ihr seid ein Regie-Duo, das bereits mit KERN einen ersten erfolgreichen Dokumentarfilm realisiert hat. Was hat euch als Duo
zusammengeführt?
SEVERIN FIALA: Ich denke, wir haben eine sehr ähnliche Vorstellung von Film und von dem, was uns daran gefällt. Zu zweit ist es immer lustiger
und auch einfacher. Man kann einander Bestätigung geben, die man beim Arbeiten alleine nicht bekommt. Alle Entscheidungen
alleine zu treffen und vor allen zu rechtfertigen, ohne den Rückhalt eines zweiten, der das mitträgt, stelle ich mir schwierig
vor.
VERONIKA FRANZ: Das Team hat schon über uns gewitzelt und gemeint, es hätte noch nie zwei Leute gesehen, die so sehr mit gleicher Stimme nach
außen sprechen. Wir behaupten, es sind 95% Kongruenz, in kleinen Dingen weichen unsere Ansichten schon dann und wann voneinander
ab. Ich glaube, dass wir einander sehr gut ergänzen. Die Dreharbeiten zu KERN waren in keiner Weise vergleichbar, da haben
wir über zwei Jahre hinweg immer wieder kurz gedreht. Es ist etwas ganz anderes, in acht Wochen einen Film umzusetzen. Wir
entscheiden alles gemeinsam, haben aber unterschiedliche Stärken. Einfach gesagt: Wir können es gemeinsam besser.
Welche Art von Kino vereint euch?
SEVERIN FIALA: Ein körperliches Kino. Ein Kino, das immer an Lebensrealitäten geknüpft ist, das etwas über die Welt erzählt und es dann
ins Grausliche überhöht. Genau das, was wir mit ICH SEH/ICH SEH versucht haben zu realisieren. Alles, was nicht fad ist.
VERONIKA FRANZ: Na ja, keiner will wohl einen faden Film machen. Von der Welt erzählen, heißt in unserem Film auch etwas über Erziehung erzählen.
Für mich persönlich ist es auch ein Film über Mutter-Sein oder Sohn-Sein. Insofern erzählen wir in einer überhöhten Weise
und gleichzeitig mit den Mitteln einer naturalistischen Erzählweise etwas über die Wirklichkeit. Die Kinder tun nie etwas,
was sie nicht im „wirklichen Leben“ tun könnten. Da war ich sehr streng.
Im Sinne von Authentizität?
VERONIKA FRANZ: Ulrich Seidl setzt sich sehr stark mit dem Begriff der Authentizität auseinander. Ich würde mit diesem Begriff vorsichtig
umgehen, was unseren Film betrifft. Es ist eine fiktive Geschichte, der Zuschauer muss sie aber glauben können. Es geht also
vielleicht mehr um Glaubwürdigkeit als um Authentizität.
SEVERIN FIALA: Ich würde sagen: Wenn man sich von der Anbindung an die Realität verabschiedet, dann schwächt das den Film und entschärft
ihn. Und das wollen wir nicht.
Als zweites Thema fiel zu Beginn des Gesprächs „Identität“. Nun sind unter den drei Hauptfiguren Zwillinge, die einander sehr
ähnlich sehen, eine Mutter, die sich einer kosmetischen Operation unterzogen hat, und nicht mehr als dieselbe wie vorher zu
erkennen ist. Geht es auch um Identität und ihre Manipulierbarkeit in der heutigen Zeit dank technologischer Möglichkeiten?
VERONIKA FRANZ: Ich glaube nicht, dass das Wort „heute“ da eine wichtige Rolle spielen muss. Ich glaube, dass man grundsätzlich Identitäten
wechseln kann. Man kann mal der, mal ein anderer sein. Ich glaube nicht an das Prinzip „Das bin ich und kein anderer“. Man
kann verschiedensten Menschen gegenüber und in verschiedensten Konstellationen, denen man ausgeliefert ist, sehr verschieden
sein. Sonst könnten im Krieg Menschen nicht zu Vergewaltigern und Mördern werden, die sonst nette Nachbarn sind, weil die
Umstände aus ihrem Wesen Dinge herausholen, die sonst nicht sichtbar sind.
SEVERIN FIALA: Wenn man seine Identität ohne Veränderung der äußeren Umstände wechselt, dann verunsichert das. Uns war wichtig, dass eine
Horrorgeschichte einem alltäglichen, „normalen“ Kontext entspringen kann.
VERONIKA FRANZ: Da würden wir uns auch wieder mit Ulrich Seidl treffen. Dass im Alltag der Horror steckt, ist ein Satz, den auch er unterschreiben
würde.
Interview: Karin Schiefer
September 2013