INTERVIEW

«Er war ein Erinnerungsarbeiter. Tag und Nacht.»

Marko Feingold (1913 – 2019) wurde bereits kurz nach der Machtergreifung der Nazis verhaftet und überlebte sechs Jahre der Schreckensherrschaft in mehreren KZs. Nach der Befreiung baute er erneut in Österreich ein Leben auf und wurde sein langes Leben lang nicht müde, seine Stimme gegen das Vergessen und Verleugnen zu erheben. 105-jährig gab er den Filmemachern Christian Krönes, Florian Weigensamer, Christian Kermer und Roland Schrotthofer ein ausführliches Interview, das im Dokumentarfilm Ein jüdisches Leben seinen unerschrockenen Kampf- und Überlebensgeist nicht verstummen lässt.


Sie haben 2016 Ein deutsches Leben herausgebracht, wo Sie die Gespräche mit der damals 105-jährigen Brunhilde Pomsel aufgezeichnet hatten. Ihr Protagonist von Ein jüdisches Leben, Marko Feingold, war zum Zeitpunkt des Drehs ebenso alt. Wie ergab es sich, mit dem aktuellen Film Ein jüdisches Leben und dem Projekt A Boy’s Life eine kleine Serie entstehen lassen?

CHRISTIAN KRÖNES:
Wir hatten schon immer eine Filmreihe mit den letzten Zeitzeugen im Hinterkopf, aber mit so betagten Protagonisten ist es natürlich ein Wettlauf gegen die Zeit. Für Ein jüdisches Leben gab es von Anfang an breite Unterstützung, Ein deutsches Leben hatte eine ungleich schwierigere Entstehungsgeschichte. Ein Filmportrait über Brunhilde Pomsel, die ehemalige Sekretärin von Joseph Goebbels, hat viele Förderpartner abgeschreckt. Umso erfreulicher war es dann, die Erfolge dieses Films zu erleben: zahlreiche Festivaleinladungen, die Auswahl zum Europäischen Filmpreis, Oscar-Qualifikation und Kinostarts in 13 Ländern. Das begleitende Buch wurde in 20 Sprachen übersetzt und aus dem Rohmaterial entstand auch noch eine Bühnenversion von A German Life, die 2019 mit Maggie Smith in der Hauptrolle in London Premiere feierte. Das Stück wurde bislang in elf Ländern herausgebracht, mit dem die berühmtesten Schauspielerinnen von der Kritik bejubelte Triumphe feiern. Wir wollen mit unseren Filmen dazu beitragen, die Erinnerung zu bewahren, gegen das Vergessen und Verdrängen.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es hat uns auch die Idee beschäftigt, Filme aus verschiedenen Perspektiven zu machen. Mit Brunhilde Pomsel hatten wir eine klassische Mitläuferin und Profiteurin als Protagonistin. Marko Feingold ist ein Opfer des Nationalsozialismus. Er wurde bereits 1939 verhaftet und hat eigentlich die gesamte Zeit bis zu seiner Befreiung 1945 im KZ verbracht. Wir arbeiten aktuell noch an einem dritten Teil (A Boy’s Life) mit einem Protagonisten, der als Achtjähriger ins KZ deportiert wurde, um diese Zeit auch aus der Perspektive eines Kindes zu beleuchten. Für ein Gesamtbild wäre es noch interessant, dieses mit einem Widerstandskämpfer und einem Täter zu ergänzen. Dafür haben wir noch niemanden gefunden, die letzten Zeitzeugen verschwinden.


Wie fiel Ihre Entscheidung, Marko Feingold zum Protagonisten zu machen?

FLORIAN WEIGENSAMER:
Wir hatten auch mit dem Gedanken gespielt, Brunhilde Pomsel und Marko Feingold einander gegenüberzustellen. Er war also schon in unseren Konzeptphasen sehr präsent. Bei einem Vortrag waren wir sehr überrascht zu sehen, wie vital er in seinem hohen Alter noch war, wie lebendig er zu erzählen vermochte und trotz der Schwere des Themas NS-Zeit Humor an den Tag legte. Als wir ihn dann angesprochen haben, wollte er Ein deutsches Leben sehen und sagte danach, er wolle besser sein als Brunhilde Pomsel.


Sie haben nun zwei Mal mit Menschen gedreht, die zum Zeitpunkt des Drehs 105 Jahre alt waren. Welche Faszination üben Menschen dieses Alters aus?

FLORAIN WEIGENSAMER:
Man hat ihnen ihr außergewöhnliches Alter nicht angemerkt, gleichzeitig hatten beide eine unglaubliche Erfahrung und Lebensgeschichte hinter sich.

CHRISTIAN KRÖNES: Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir diese Menschen nicht nur beim Dreh, sondern auch privat kennenlernen durften. Inzwischen sind es ja drei. Für unser Projekt A Boy’s Life sprachen wir mit Dany Chanoch, der mit 89 der Jüngste in der Runde ist. Ihre Lebensgeschichten spiegeln ein ganzes Jahrhundert wider, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, an die Zwischenkriegszeit und das wohl dunkelste Kapitel, den Zweiten Weltkrieg. Sie sind in der Lage, aus ihrer großen Lebenserfahrung auf die Gegenwart zu reflektieren und vor Entwicklungen zu warnen, die sie bereits einmal erlebt haben. Wir haben diese Filme eigentlich als zeithistorische Dokumente gesehen, doch manchmal sind die Parallelen zwischen der Vergangenheit und unserer heutigen Zeit wirklich erschreckend.

 
Er sagt selbst: „Die Erinnerungen sind der Sinn meines heutigen Lebens.“ Marko Feingold scheint ein richtiger Erinnerungsarbeiter gewesen zu sein, der nicht müde wurde, seine Erfahrungen zu erzählen. Brunhilde Pomsel hat hingegen zum ersten Mal für die Öffentlichkeit erzählt. Wie waren Sie in der Gesprächsführung mit Marko Feingold anders gefordert?

FLORIAN WEIGENSAMER:
Er war – vollkommen richtig – ein Erinnerungsarbeiter. Tag und Nacht. Wir hatten während des Drehs einige Tage eingeplant, an denen er sich ausruhen sollte. Die hat er aber mit Vorträgen in Schulen verplant. Seine Geschichte zu erzählen war sein Lebensinhalt und hat ihm vielleicht auch dieses hohe Alter beschert. Die Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn jemand seine Geschichte ständig wiederholt und ähnliche Fragen beantworten muss, ist die, dass sich gewisse Formulierungen wiederholen. Das in einem langen Interview, wie wir es geführt haben, aufzubrechen, um tiefer zu gehen und von gewissen Erzählmustern wegzukommen, war eine ziemliche Herausforderung. Er wusste genau, welche Dinge er vermitteln wollte, seine persönlichen Anliegen standen für ihn natürlich im Vordergrund. Es gab aber auch Momente, wo uns etwas Anderes interessierte. Da Antworten zu bekommen, war nicht immer einfach, er konnte ein richtiger Sturkopf sein.

CHRISTIAN KRÖNES: Ich kann mir auch vorstellen, dass ihm diese Erzählmuster die notwendige Distanz gegeben haben, um über das Erlebte überhaupt sprechen zu können. Wenn man da nachfragt, noch tiefer gehen will, kann es natürlich sehr schmerzvoll sein.  Um diese Dinge immer wieder erzählen zu können, braucht man wahrscheinlich für sich selbst einen gewissen Abstand.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es ist auch sehr spannend, mit über Hundertjährigen über ihre Kindheit zu sprechen. Es tauchen Geschichten auf, die sie zwischenzeitlich vergessen oder seit Jahrzehnten nicht mehr erzählt haben. Zu gewissen Fragen gibt es nicht gleich Antworten. Das war sowohl bei Brunhilde Pomsel als auch bei Marko Feingold so. Doch diese Fragen beschäftigten die Protagonist*innen weiter, arbeiteten in ihnen, ließen sie nicht mehr los. Es ist schon vorgekommen, dass man plötzlich Antworten auf Fragen bekam, die man Tage zuvor gestellt hat.


Marko Feingold hat sechs Jahre seines Lebens in KZs verbracht. Er erzählt ausführlich von seiner Kindheit und jungen Jahren, weniger von den Erfahrungen im KZ. Wie sehr bestimmten Sie den Gesprächsleitfaden, wie sehr ließen Sie sich von ihm leiten? War es Ihnen auch wichtig, auf diese Zeit vor der Machtergreifung der Nazis zu fokussieren: Die Unbeschwertheit des Lebens und die plötzliche Wende. Das Unterschätzen dessen, was am Horizont dämmerte?  

FLORIAN WEIGENSAMER:
Zeitweise hat definitiv Herr Feingold uns geleitet. Ob ein Gespräch in Fluss kam, hing auch von seiner Stimmung ab. Das Wichtigste dabei war, Zeit zu haben.
Wir haben uns vorab eingehend mit seiner Biographie beschäftigt und hatten einen groben Leitfaden zu Themengebieten. Dazu gehörte natürlich, die schleichenden, gesellschaftlichen Veränderungen bis zur Machtergreifung der Nazis zu untersuchen. Marko Feingold und sein Bruder lebten ja ab 1932 als erfolgreiche Geschäftsleute in Italien und haben die politischen Veränderungen sicher unterschätzt. Als sie 1938 nach Wien zurückkehrten, hatte sich die Stimmung in Österreich dramatisch verändert. Der bislang schwelende, unterdrückte Antisemitismus wurde nun offen und hasserfüllt ausgelebt.

CHRISTIAN KRÖNES: Mich haben besonders die zahlreichen schicksalhaften Momente bewegt, die ihm widerfahren sind, welche fatalen Auswirkungen Entscheidungen oder eben Fehlentscheidungen im Leben haben können. Er kam 1938 mit seinem Bruder eher zufällig aus Italien zurück, weil die Pässe abgelaufen waren und verlängert werden sollten. Es war ein schicksalhafter Zeitpunkt, der „Anschluss“ stand kurz bevor, den er am 12. März dann hautnah miterlebte. Er sagte, er hätte der späteren österreichischen Geschichtsdarstellung vom deutschen Überfall auf Österreich nicht widersprechen können, wäre er nicht selbst an diesem Tag in der Menschenmasse am Heldenplatz gestanden. Er hat erlebt, wie sich Wien über Nacht veränderte. Wenige Tage später wurden er und sein Bruder erstmals verhaftet. Wieder in Freiheit, flüchteten sie mit ungültigen Papieren in die Tschechoslowakei, wurden nach Polen abgeschoben, kehrten dann nach Prag zurück, wo sich die Schlinge immer enger zog. Hätten sie versucht, wieder nach Italien zu gelangen, wäre ihr Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Sie waren über lange Zeit schicksalhaft zur falschen Zeit am falschen Ort, bis sie neuerlich verhaftet und schließlich ins KZ Auschwitz gebracht wurden.

FLORIAN WEIGENSAMER: Die Tatsache, dass er nach wenigen Monaten in Auschwitz so abgemagert war, dass er weitergeschickt wurde, rettete ihm wiederum das Leben. Überleben oder nicht lagen also knapp nebeneinander. Es war ein Lotteriespiel, mit dem Leben davon zu kommen. Man war Willkür und vielen Zufällen ausgesetzt.
Natürlich war es uns wichtig zu erzählen, welche Gräueltaten in den KZs passiert sind und unser Protagonist tut das auch. Es ist aber nicht sinnvoll, Dutzende solcher Horrorgeschichten aneinanderzureihen. Ich halte die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, die Vorgeschichte in Wien, den schlafenden Antisemitismus, der immer schon da war, für ebenso wichtig. Ein weiterer spannender Punkt ist die politische Gleichgültigkeit der Menschen, Feingold nimmt sich da gar nicht aus und spricht es auch an. Auch er ist in diese Falle getappt und das ist ein wichtiger Punkt, aus dem man heute viel lernen kann. Politische Gleichgültigkeit kann sehr schnell in eine Richtung führen, wo keiner hinwill.

CHRISTIAN KRÖNES: Neben all den Schicksalsschlägen hat Marko Feingold auch unglaubliches Glück gehabt diese Zeit zu überstehen. Der Auslöser für dieses Glück im Unglück war möglicherweise sein Aufwachsen im Wiener Prater. In der damals für den Prater so typischen Halbwelt sozialisiert zu werden, sich schon als Kind durchsetzen und behaupten zu müssen, Tricks und Kniffe kennenzulernen, hat ihm sicher geholfen, die Menschen besser einzuschätzen. Die „Schule“ des Praters hat ihm wahrscheinlich das Rüstzeug gegeben, die Jahre im KZ zu überleben.


Welche Bedeutung hatte sein Leben nach dem Krieg für Ihre Gespräche mit Marko Feingold?

CHRISTIAN KRÖNES:
Der Krieg war für ihn 1945 nicht zu Ende. Indem er sich exponiert hat, indem er Präsident der Kultusgemeinde in Salzburg wurde, war er permanenten Angriffen ausgesetzt. Er hat über Jahrzehnte und bis zuletzt Droh- und Schmähbriefe erhalten. Wenn er nicht andere mit seiner Geschichte konfrontierte, wurde er immer wieder von außen mit der Geschichte konfrontiert.

FLORIAN WEIGENSAMER: Er war ein unglaublicher Kämpfer; wenn man ihn angegriffen hat, ist er immer zum Gegenangriff übergegangen. Allein als es darum ging, sein Modegeschäft eröffnen zu können. Man hat ihm von Behördenseite alle erdenklichen Prügel vor die Füße geworfen, er hat es aber auf seine Art und durch seine Hartnäckigkeit geschafft, sich durchzusetzen. Er ließ sich einfach nicht unterkriegen. Die Zeit nach dem Krieg war ein wichtiger Abschnitt in seinem Leben. Er hat in Salzburg eine Versorgungsstelle für die KZ-Entlassenen geleitet. Dort wurde er zur Anlaufstelle für zahllose Flüchtlinge. 1945/46 hat er rund 100.000 Juden aus ganz Europa illegal über die Alpen nach Italien und weiter nach Palästina verholfen. Sein diplomatisches Geschick war da mehr als hilfreich: bei den Italienern hat er sich als Italiener ausgegeben, mit den Amerikanern hat er verhandelt, da sie eine weniger harte Position vertraten als die Briten, die eine Massenauswanderung der Juden nach Israel verhindern wollten. Er hat auch die österreichische Nachkriegsregierung ins Boot geholt und deren Antisemitismus und Angst vor Restitutionsforderungen genutzt. So hat er einen riesigen Flüchtlings-Track organisiert, auf den er zurecht sehr stolz war. Heute, wo man schon Leute verhaftet, weil sie Ertrinkende im Mittelmeer retten, würde man ihn dafür einsperren. Damals war er ein Held und ist es bis heute geblieben.

CHRISTIAN KRÖNES: Ich glaube, wir müssen ihm und allen anderen, die nach dem Krieg geblieben sind, unheimlich dankbar sein. Ich denke da auch an Simon Wiesenthal. Beide hatten gewiss viele Möglichkeiten, nach Israel zu auszuwandern. Aber sie haben sich ganz bewusst dafür entschieden, in Österreich zu bleiben, zu erinnern und ihre Stimme gegen das Verdrängen und Vergessen zu erheben.

FLORIAN WEIGENSAMER: Marko Feingold hat es als sein Recht empfunden, hier zu bleiben. Er hat sich als Österreicher gefühlt. Er wurde ja oft gefragt, warum er denn nicht nach Israel gehe; seine Antwort darauf war immer, „Warum gehst du nicht zum Papst nach Rom?“ Er hat sein Recht wahrgenommen, in Österreich zu bleiben, ließ sich nicht einschüchtern und auch nicht den Mund verbieten, was für viele Leute über Jahrzehnte sehr unangenehm war.


Stand es von Beginn an fest, dass Sie, was die Kameraästhetik betrifft, an Ein deutsches Leben anschließen werden?

CHRISTIAN KRÖNES:
Wir haben bei Ein deutsches Leben unglaublich viel getüftelt, um dem Film eine zeitlose, cineastische Form zu geben. Ich denke, dass sich diese Arbeit ausgezahlt hat. Ein deutsches Leben, Ein jüdisches Leben und auch unser drittes Projekt A Boy’s Life sind in identer Schwarz-Weiß Ästhetik gestaltet. Wir eröffnen immer mit Close-ups der Gesichter, in denen sich ein Jahrhundert und unglaubliche Schicksale spiegeln. Es sind faszinierende Gesichter, die man sich sehr lange betrachten kann. Andererseits sollen die Zuschauer*innen mit diesen kontemplativen Eröffnungspassagen auf eine ganz eigene Zeitebene und die nachfolgenden Erzählungen eingestimmt werden.‘

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir wollten nie ein Interview filmen, wo beide Gesprächspartner*innen zu sehen sind. Dann wären die Zuseher*innen in einer beobachtenden Situation. Wir wollten immer erreichen, dass unsere Protagonist*innen möglichst direkt das Publikum ansprechen. So als würden sie ihre Geschichte direkt mit ihrem Gegenüber teilen. Das war die Grundidee, die schon bei Ein deutsches Leben sehr gut funktioniert hat, daher haben wir daran festgehalten.


Die Gesprächsabschnitte werden strukturiert, zum einen durch Filmausschnitte, zum anderen durch Zitate aus Briefen, die Marko Feingold persönlich erhalten hat. War es ein sehr belastender Punkt für ihn, dass es bis zu seinem Lebensende Leugner der Verbrechen der Nazis gab und dass sie auch nach dem Krieg sehr schnell wieder integriert und in hohen Positionen waren?

FLORIAN WEIGENSAMER:
Die Briefe unterstützten unser Anliegen, die Präsenz des Antisemitismus ins Heute zu holen. Wir wollten bewusst machen, dass dieser alte Mann bis ins hohe Alter (meist anonyme) Droh- und Schmähbriefe erhalten hat und unserem Publikum vermitteln, dass dieser Film nicht nur von der Vergangenheit erzählt. Nein. Es gibt immer noch Leute, die die Verbrechen der Nazis leugnen. Marko Feingold hat die Briefe gesammelt. Anfangs ist er damit zur Polizei gegangen, da ist aber nie etwas unternommen worden. Der Umgang der österreichischen Politik und Gesellschaft mit dem Holocaust hat ihn gewiss sehr betroffen gemacht.  Er hat auch seine Kämpfe mit der SPÖ ausgefochten, aus der er schließlich ausgetreten ist, weil auch in dieser Partei vieles totgeschwiegen oder geduldet wurde. Schließlich sind nach 1945 dieselben Leute in denselben Positionen gesessen wie vor dem Krieg. Ich glaube schon, dass er sich da verraten gefühlt hat. Die Briefe hat er nicht persönlich genommen, da ist er drübergestanden. Das waren für ihn Idioten, die vergeblich versuchten, ihn einzuschüchtern. Er ließ sich weder verängstigen noch verärgern.


Nach welchen Kriterien haben Sie für Ein jüdisches Leben die Ausschnitte aus Archivfilmen ausgewählt?

FLORIAN WEIGENSAMER: Beim Filmmaterial waren wir vor allem bemüht, ungewöhnliches Material zu verwenden, das noch wenig oder nie gezeigt worden ist. Ich denke z.B. an die Aufnahmen vom Heldenplatz. Hier zeigen wir nicht die bekannten Bilder der offiziellen Kameraleute, sondern Privataufnahmen, die in der Menschenmenge gefilmt wurden. Die meisten Materialien haben wir aus dem Holocaust-Museum in Washington, das weltweit Unmengen an Privataufnahmen gesammelt hat. Da muss man sich über hunderte Stunden durcharbeiten. Wir wollten nicht das Erzählte bebildern, sondern vielmehr Gedanken assoziierend weiterführen. Wenn es in Marko Feingolds Erzählung um die Machtübernahme der Nazis geht, zeigen wir einen kleinen Lehrfilm der deutschen Hitlerjugend, wo Zehnjährige beim Boxunterricht zu sehen sind. Man muss aber betonen, dass all das Filmmaterial, egal auf welcher Seite es entstanden ist, zu Propagandazwecken hergestellt wurde. Wir haben dieses Material in keiner Weise bearbeitet, weil ich finde, dass man in so etwas nicht eingreifen darf, da Propagandafilme auch heute noch funktionieren. Es wird als Propaganda Material gekennzeichnet und es obliegt den Zuschauer*innen, es richtig ein- und zuzuordnen. Es darf auf keinen Fall als „objektives“ News-Material missverstanden werden.


Wie gingen Sie im Schnittprozess mit dem gedrehten Material um?

FLORIAN WEIGENSAMER:
Wir haben über 30 Stunden gedreht und die Auswahl war ziemlich schwierig, da es natürlich immer wieder auch Wiederholungen gab. Da muss man sich auf die feinen Nuancen konzentrieren und abwägen, welches die bessere Erzählung ist. Sie zu mischen war praktisch unmöglich, weil jede Erzählung eine andere Stimmung vermittelt. Wir haben viel experimentiert und uns dafür auch viel Zeit genommen. Das Schwierigste und Schmerzhafteste war für uns gewiss das Weglassen. Es gibt noch so viele schöne, kleine Geschichten, auf die wir leider verzichten mussten.

CHRISTIAN KRÖNES: Ich empfinde es als unglaubliches Privileg, an Filmen so lange arbeiten und feilen zu können, bis sie stimmig sind.  Sich für die Recherchen Zeit zu nehmen, genügend Drehzeit zur Verfügung zu haben und mehrere Monate Schnittzeit einplanen zu können, das macht am Ende dann den sichtbaren Unterschied aus und hebt den Film auf eine außergewöhnliche Ebene.


Wo hat Marko Feingold für Sie, die sich nun schon lange und intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzen, Facetten eröffnet, die Ihnen wieder neue Blickwinkel ermöglicht haben. Was ist Marko Feingolds Vermächtnis an Sie?

FLORIAN WEIGENSAMER:
Mich hat seine kämpferische Natur fasziniert. Er ist nicht nur ein Mahner und Erzähler und Opfer. Er ist sein Leben lang ein Kämpfer geblieben, der sich von niemandem etwas hat gefallen lassen, obwohl er so viel hat einstecken müssen. Das hat mich sehr beeindruckt.

CHRISTIAN KRÖNES: Ich denke, dass all unsere Gespräche und das nähere Kennenlernen unserer Protagonisten uns geprägt haben. Ich sehe es als unsere Aufgabe, gerade jetzt, wo die mahnenden Stimmen der Zeitzeugen langsam verschwinden, ihre Erinnerungen und Geschichten weiterzutragen.


Interview: Karin Schiefer
Juli 2021













«Er hat erlebt, wie sich Wien über Nacht veränderte. Wenige Tage später wurden er und sein Bruder erstmals verhaftet. Sie waren lange Zeit schicksalhaft zur falschen Zeit am falschen Ort.»