INTERVIEW

«Was mich sehr fasziniert, ist der große Unterschied ...

«Was mich sehr fasziniert, ist der große Unterschied zwischen dem, was man sagt und dem, was man denkt.»
 
 
Liebe ist ja ein je nach historisch/gesellschaftlichem Kontext sehr stark changierender Begriff. Warum haben Sie den Kontext des frühen 19. Jhs. gewählt, um darüber zu reflektieren.

JESSICA HAUSNER:
Meine ursprüngliche Idee war, einen Film über einen Doppelselbstmord zu machen. Worum es mir spezifischer geht, finde ich dann immer im Zuge meiner Recherchen heraus. Ich habe viele zeitgenössische Fälle recherchiert und bin irgendwann auf Heinrich von Kleist und Henriette Vogel und deren gemeinsamen Selbstmord gestoßen. Interessant schien mir dabei, dass im frühen 19. Jh. das Konzept von der romantischen Liebe seinen Ausgang nahm: der Glaube, dass Liebe ewig halten muss und etwas Absolutes ist. Ich habe oft das Gefühl, dass wir bis heute die Bürde dieses romantischen Glaubens tragen. Das gemeinsame Sterben aus Liebe ist eine Überhöhung des Glaubens, dass die Liebe absolut ist, dass sie alle Schwierigkeiten löst und sogar stärker als der Tod ist. Leider ist es eben doch nicht so und Amour Fou beschreibt das.

 
Der Titel Amour Fou impliziert eine Liebe, wo die Liebenden ihren Kopf verlieren und wider alle Vernunft handeln.  Kleist und Henriette handeln gewiss nicht aus Leidenschaft oder einem Gefühl der Liebe, wie wir es heute betrachten. Aus welchem Gefühl handeln sie Ihrer Meinung nach?

JESSICA HAUSNER:
Die Titelgebung „Amour Fou“ ist leicht ironisch zu verstehen. Ich verstehe es eher als ein „Die Liebe ist verrückt“. Der Motor der beiden ist alles andere als leidenschaftliche Liebe. Bestimmte Umstände in ihren jeweiligen Leben bringen sie dazu, sich füreinander zu entscheiden. Im Laufe der Geschichte hat man das Gefühl, es werden Motive wirksam, die sehr viel mit den Personen selber zu tun haben. Wieso lässt man sich auf jemanden ein oder doch nicht? Dieser Bund oder die Zuneigung zwischen Heinrich und Henriette bekommen einen schalen Beigeschmack, weil etwas Berechnendes oder Ambivalentes ins Spiel kommt.

 
„Bis dass der Tod euch scheidet“, ist die Prämisse, unter der zur damaligen Zeit Verbindungen zwischen Mann und Frau geschlossen werden. Kleist sucht in Amour Fou nach einem Menschen, der sich im Tod mit ihm verbindet? Lag in diesem Paradox einer Ihrer Ansatzpunkte?

JESSICA HAUSNER: Was mich sehr fasziniert, ist der große Unterschied zwischen dem, was man sagt und dem, was man denkt. Henriette und Kleist sprechen zu Beginn des Films über die Marquise von O.  Henriette sagt, sie sei vom Schicksal der Marquise angezogen und dann widerspricht sie sich wieder. Es kommt dann zu dem Satz  „Man sagt das eine und fühlt das andere“. Die ganz normale Verlogenheit ist eine der Prämissen im Film.
 
 
Ging  es ihnen auch um eine Erkundung des  Mysterium des Gemeinsam-in-den-Tod-Gehens? Hat das etwas von einem letzten Geheimnis. Der verzweifelte Versuch, der Einsamkeit des Sterbens zu entgehen?

JESSICA HAUSNER: Ich habe nicht nach einer Romeo- und Julia-Variante gesucht, wo zwei durch den Druck der Gesellschaft zueinander getrieben werden, aber nicht miteinander leben können. Im Fall von Kleist und Henriette Vogel, wäre es ja durchaus denkbar, dass sie miteinander leben. Es ist eher der Versuch zu behaupten, dass durch diesen gemeinsamen Tod eine existentielle Liebe stattgefunden hat. Heinrich sagt, dass er nach jemandem suche, dem er wichtiger ist als die betreffende Person sich selbst. Das ist ja eine verrückte Anmaßung, aber wahrscheinlich ein nicht allzu selten heimlich gehegter Wunsch. Man lernt zwar, dass man von einem Partner nicht eine Liebe erwarten kann wie jene, die die Eltern einem Kind geben sollten, ich glaube aber, dass die kindliche Vorstellung, dass man bedingungslos so geliebt wird, wie man ist und für den anderen das Wichtigste in dieser Welt ist, in vielen Menschen existiert und Kleist spricht es auch aus.

 
Wie sehr üben Heinrich von Kleist und sein literarisches Schaffen eine Faszination auf Sie aus?

JESSICA HAUSNER: Faszinierend sind seine Werke. Ich denke gerade an die Marquise von O. Eine abstruse Geschichte. Ich teile da vollends die Meinung von Henriettes Mutter in meinem Film, die sagt: „Was für eine absurde Behauptung, dass eine Frau, die gegen ihren Willen von einem Mann geschwängert wird, den am Ende auch noch liebt“. Das ist eine sehr männliche Phantasie. Ich denke, das hat mich auch zu meiner Kleist-Figur im Film inspiriert. Was kann das für ein Mann sein, der sich so etwas ausdenkt? Das muss jemand sein, der selbst in seinen Extremen drinnen steckt und da nicht rauskommt und der nur etwas im Extrem akzeptieren kann.
Was mich an seiner Literatur noch fasziniert, sind die Verwirrspiele, wie z.B. in Michael Kohlhaas. Die vielen Widersprüche haben mich auch sehr stark in meiner Dramaturgie beeinflusst: einer macht das, dann passiert aber jenes und es wird eine Wendung um 180° notwendig. Man ist Spielball des Schicksals, das sehr absurd und grausam sein kann. Am Ende kommt auf keinen Fall etwas Sinnvolles heraus. Das finde ich großartig in seiner Literatur.

 
Der Film erhebt keinen Anspruch auf historische Wahrheit und gleichzeitig arbeiten Sie wie immer extrem genau. Wie ist der Film im Spannungsfeld zwischen historischer Genauigkeit, präzisen Anknüpfungspunkten und freier Erfindung gewachsen?


JESSICA HAUSNER: Was den Lauf der Ereignisse im Film betrifft, habe ich zunächst meinen roten Faden geschrieben, ganz abgesehen von den historischen Details zu Kleists Leben und zur Zeitgeschichte. Ich wollte zunächst einen Bogen festgelegen, den ich nicht aus den Augen verlieren wollte, sobald ich zu recherchieren begann – wissend, dass unzählige Details auf mich zukommen würden. Ich wollte mich nicht im Bemühen um historische Treue verlieren. Das finde ich trocken und fad.  Ich wollte eine Geschichte erzählen, die auch heutzutage funktioniert. Das Gerüst der Geschichte ist eine Parabel. Es geht ums Hin und Her in der Liebe. Als der Bogen einmal feststand, begann ich die Details zu recherchieren und habe sie danach abgewogen, ob sie zu meiner Geschichte passten oder nicht.
Die historischen Kleist-Biografien sind ja auch nur Mutmaßungen, niemand war dabei und niemand kennt die Wahrheit. Es ist auch übertrieben, Briefe wörtlich zu nehmen. Es wird auch beim Briefe-Schreiben gelogen. Je mehr ich recherchiert habe, umso freier fühlte ich mich, mir letztlich selber einen Reim darauf zu machen, denn niemand weiß, wie es wirklich war.

 
Sind Sie eher über die Malerei oder über die Literatur in die Epoche getaucht?

JESSICA HAUSNER: Ich würde sagen beides. Fürs Dialoge-Schreiben habe ich nach Briefwechseln und Tagebüchern aus der damaligen Zeit gesucht und eine Zeitlang nur Sätze aus diesen Briefen abgeschrieben, um mich in diese Zeit hineinzuschreiben. Dialogsätze aus Theaterstücken sind ja schon wieder eine Kunstform. Briefe-Schreiben ist auch eine Kunstform gewesen, war aber dennoch, so denke ich, etwas näher am gesprochenen Wort. Es gibt keine gesprochenen Aufzeichnungen aus dieser Zeit.
Für die Bildgestaltung habe ich mir Bilder angesehen, habe mich dabei aber eher von Renaissance-Werken inspirieren lassen. Das hat wahrscheinlich mit der tableauhaften Bildgestaltung zu tun, wo es eher um ein Spiel zwischen Vordergrund und Hintergrund und Bewegung im Bild geht.

 
Für die visuelle Umsetzung bedeutete dies auch, Dinge, die wir nur aus unbewegten Bildern kennen, in bewegte Bilder zu transponieren.

JESSICA HAUSNER:  Gerade weil es ja keine Fotografie gab, haben viele Maler sehr naturalistische Alltagsdarstellungen erstellt. Das hat uns sehr weitergeholfen. Die Präsenz der Hunde im Film geht darauf zurück, dass ich auf so vielen Bildern von Alltagsszenen Tiere entdeckte. Tiere, alte Menschen und Behinderte waren offensichtlich viel stärker ins Alltagsleben integriert als heutzutage. Ob auf Bällen oder in Kirchen, es sind stets Hunde und Katzen herumgelaufen. Ich habe mir die deutsche bzw. Berliner Malerei der Vorromantik und des Biedermeier angeschaut und habe dann auch einige Renaissance-Bilder gefunden, die mich sehr inspiriert haben. In den vielen Gesprächen mit der Set-Designerin Katharina Wöppermann ist mir bewusst geworden, dass man hat ja auch damals mit alten Möbeln gelebt hat, die noch aus der Renaissance stammen konnten. 

 
Farbe ist immer ein wesentliches Thema bei Ihnen. Auch hier ist man überrascht, wie farbenfroh diese Zeit des frühen 19. Jhs. auf die Leinwand kommt.

JESSICA HAUSNER: Wir waren z.B. im Schloss Paretz in der Nähe von Berlin, wo ein Vorraum in einem knalligen Türkis war, das mich eher an ein Fitness-Center erinnert hat. Ich sagte noch zu einer Kollegin: „Wie scheußlich renoviert.“ Dann erklärte uns aber unser Museumsführer, dass dieses Türkis das eigentliche Preußisch Blau sei. Die Zusammensetzung der Farben entsprach exakt der damals neu erfundenen Technik, um Grünblau herzustellen. Man kann auch da nur mutmaßen, aber wenn man die Farbzusammensetzungen erforscht, dann stellt sich heraus, dass die Farbgebung eher knallig war.
Die Wände waren nicht nur weiß, sondern blau, rot oder grün... Es gab auch textile Tapeten und Teppiche, die ähnlich Spannteppichen den Boden des gesamten Raums bedeckt haben. Unser Film spielt in der Empire-Zeit, jener kurzen Zeitspanne von 1800 bis 1815, in der man sich nach der griechischen Antike orientiert hat. Auch in der Kleidung mit der hoch angesetzten Taille und den weichen und fließenden hellen Stoffen. In der Einrichtung fand man in der Tat antike Säulen, drapierte Vorhänge und griechische Landschaften, die auf die Wände gemalt wurden. Das hing auch mit einem philosophischen Ideal der Antike zusammen. Die Muster und Farben kommen erst im Biedermeier so richtig auf, es hatte aber Anfang des 19. Jhs. bereits begonnen. Ein anderer interessanter Punkt ist, dass Heizung, Licht, Komfort war meist nur auf einen Wohnraum konzentriert war, deshalb saßen die Menschen zu fünft, sechst oder mehr um einen Tisch und man hat mitgehört, was die einen und anderen miteinander beredeten. Es gab damals gewiss eine andere Form von Privatheit.

 
Deutlich wird auch das wachsende Bewusstsein des Einflusses psychischer Faktoren auf die Gesundheit.

JESSICA HAUSNER: Die medizinisch-historische Recherche war auch ein großer Recherche-Block, der besonders spannend war. Psychoanalytische Ansätze begeistern mich sehr und es war sehr interessant zu entdecken, dass man Ende 18./ Anfang 19. Jh. damit begonnen hat. Franz Anton Mesmer war einer der ersten. Es kam dann in Mode, dass versucht wurde, durch Handauflegen oder Magnetisieren Krankheiten zu heilen und man begann auch, Theorien zu entwickel, dass die Seele sich über den Körper äußert – dass Körper und Seele zueinander in Wechselwirkung stehen. Das waren Vorläufer.
Ich habe gelesen, dass Menschen beim Magnetisieren in eine Art hypnotischen Schlaf verfielen und in diesem Zustand zu sprechen begannen. Frauen waren besonders empfänglich dafür, konnten angeblich Dinge in der Zukunft voraussagen oder ihr körperliches Leid orten. Teilweise wurde das ignoriert, manche Ärzte jedoch waren da feinfühliger und haben die Therapie danach aufgebaut. Das sind Vorläufer der Freud’schen Couch, dass man in einem entspannten, Halbwachzustand liegt und über sich spricht.


Interessant ist, wie es Ihnen gelingt, mit sehr wenigen Figuren ein Abbild der damaligen Gesellschaft zu schaffen: Die Tante, Henriettes Mutter – das befreundete Paar, mit dem politisiert wird, und dann die stumme, aber sehr komplexe Figur des Dienstmädchens. Wie würden Sie Ihre Figuren-Konstellation beschreiben?

JESSICA HAUSNER: Die Konzentration rund um den Mikrokosmos um Henriette Vogel ist der stärkste Fokus, weil das familiäre Bild  so etwas Typisches repräsentiert: der Mann, das Kind, die Mutter, der Hausfreund und die musikalischen Abende. Es hat etwas von einer geschlossenen Gesellschaft.
Es interessiert mich immer, in der Geschichte einer Einzelperson etwas über die Gesellschaft zu erzählen, weil es mich sehr berührt, dass ein Schicksal so stark von den Lebensumständen bestimmt ist. Ich tue mich schwer mit dem Begriff der persönlichen Freiheit. Es sind vielleicht ein paar Dinge, die man selber entscheiden kann, aber in den meisten Belangen ist es sehr determiniert, was letztlich in einem Leben möglich ist. Die Frage ­– „Was kann man frei entscheiden“? – spielt eine wichtige Rolle in diesem Film. Henriette sagt im Gespräch mit Vogel: „Die Liebe kann nicht gewählt werden“ und Vogel antwortet ihr: „In gewisser Weise schon.“ Interessant, dass er gerade darin die Freiheit sieht.

 
Diese Szene spielt im Schlafzimmer der beiden, wo jedesmal ein anderer Blickwinkel auf die beiden, nicht nebeneinander, sondern im rechten Winkel zueinander stehenden Betten geworfen wird. Geometrie und (A-)Symmetrie scheinen eine wichtige Rolle in der Bildgestaltung zu spielen?

JESSICA HAUSNER:  Ja. Lourdes war durchaus auch von Tableau-Bildern bestimmt – das hat mit dem Blick auf das Individuum im Rahmen seiner Umgebung – der Gesellschaft eben – zu tun.

 
Sie operieren mit wenig Auflösung, in Gesprächssituationen vielmehr mit einem Spiel von verschiedenen Schärfen anstatt mit Schnitten. Warum?

JESSICA HAUSNER: Ich hatte bei diesem Projekt Lust, die Frage „Wann kommt der Schnitt?“ aufs Äußerste auszureizen. Ich habe wirklich versucht, nur die notwendigsten Schnitte zu machen und mir die Frage gestellt – „Wann will ich wirklich die Perspektive wechseln. Da wollte ich einmal an eine Grenze gehen. Das erklärt auch die geringe Anzahl an Schnitten in Amour Fou. Wenn Dialoge in Schuss/Gegenschuss gedreht sind, finde ich es am schwierigsten zu entscheiden, wann ich wen sehen möchte. Es ist für mich oft klarer, wenn aus der Szene heraus die Perspektive gewechselt wird als aus einer Schnittkonvention heraus.

 
Außer Christian Friedel, den man aus Das weiße Band kennt, sind  unter den Schauspielern lauter neue Namen fürs österreichische Kino zu sehen? Wie fanden Sie Ihre Schauspieler?

JESSICA HAUSNER:  Es war eine lange Suche. Ich lege stets sehr viel Wert darauf, dass das Casting so lange geht, bis ich den Schauspieler für eine Rolle gefunden habe, durch den eine physische Glaubwürdigkeit entsteht. Etwas Unerwartetes, das der Figur Leben einhaucht. So als würde die Person nicht aus ihrer Haut herauskönnen. Wenn so etwas beim Casting entsteht, dann gehen wir weitere Szenen durch. Also schon beim Casting. Wenn mein Casting fertig ist, ist auch schon alles durchgeprobt. Wir treffen uns dann zum Dreh wieder.
Christian Friedel hat mich sehr beeindruckt, wie er eloquent und mit Selbstironie die Texte sprach, er brachte das lustvoll Ich-Zentrierte von Kleist so herrlich uneitel auf den Punkt, dass es wirklich lustig war.

 
In Sätzen, wo er in aller Aufrichtigkeit fragt: „Wollen Sie mit mir sterben?“ kommt auch sehr stark Ihr Humor durch, der in allen Filmen zu finden ist, wenn man ihn finden will.

JESSICA HAUSNER: Ja, das ist eine ganz konkrete Frage. (lacht) Die darf man nicht tragisch spielen, die muss man ganz praktisch spielen.
Birte Schnöink hat mich deshalb interessiert, weil die Figur einerseits unschuldig-naiv sein muss, andererseits aber keineswegs dumm ist. Sie verkörpert eine komische Mischung aus Passivität, Weichheit, dem Wunsch sich führen zu lassen und dennoch unerreichbar zu sein.

 
Welches Motiv hat diese Figur Ihrer Meinung zu diesem Entschluss getrieben?

JESSICA HAUSNER: Ich glaube, dass die Figur Henriette sich bis zum Schluss nicht sicher ist und eigentlich gerne wieder absagen will. Es liegt in ihrer komisch passiven Art, dass sie keinen Rückzieher macht. Sie hat einfach den Moment nicht erwischt zu sagen „Ich will eigentlich gar nicht“. Hätte Ihr Ehemann gesagt „Mach den Ausflug nicht, schone dich und dann fahren wir nach Paris“, wäre es vielleicht nicht passiert. Er ließ sie fahren und so ist es auch passiert. Es ist alles letztendlich sehr zufällig.

 
Eine scheinbar unwichtige, aber sehr komplexe und nicht einfach zu spielende Rolle ist die des Dienstmädchens.

JESSICA HAUSNER:  Sie ist so nach innen gekehrt und hat etwas Tolpatschiges. Das hat sich erst im Laufe des Castings und der Bildrecherche ergeben hat, dass Dörte, das Dienstmädchen, in sehr vielen Bildern drinnen ist. Ich hatte immer stärker das Gefühl, dass sich dadurch die Klassengesellschaft abbildet. Die stumme Zeugenschaft eines Dienstboten ist fast unheimlich. Ganz egal, worüber gerade gesprochen wird, bei praktisch allen Gesprächen steht dieses Dienstmädchen in einer Ecke, sieht und hört alles und wird gleichzeitig total ignoriert. Sie wird ja nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Möbelstück behandelt.

 
Zwei Lieder bestimmen die Erzählung musikalisch. Wie fiel die Wahl auf diese beiden Lieder?

JESSICA HAUSNER:  Die Salons waren damals sehr en vogue. Es gab literarische oder musikalische Salons im privaten Kreis, sowohl unter Adeligen, als auch unter Bürgerlichen und auch mit gemischter Besucherschaft.  Eine Art von Abendbeschäftigung, die etwas sehr Geselliges hat und für den Film ein sehr griffiges Bild bot, um sich in diese Zeit zu versetzen. Daher habe ich nach Liedern gesucht. Mozart war damals sehr „in“, von ihm stammt Das Veilchen. Das zweite Lied, Wo die Berge so blau, ist ein Beethoven-Lied. Beide waren zur damaligen Zeit sehr aktuelle und viel gesungene Komponisten.

 
Am Ende sehe ich eine Parallele zu Lourdes, wo ebenfalls die letzten Minuten des Films von einem Lied getragen werden und sich für den Zuschauer ein Gedankenraum auftut, ehe man aus dem Film entlassen wird.


JESSICA HAUSNER: Henriettes Tochter, die zum Schluss Wo die Berge so blau singt, trägt nach dem Tod ihrer Mutter die Fackel weiter. Sie steht jetzt quasi in den Schuhen ihrer Mutter drinnen. Es ist ein trauriger Moment, der uns denken lässt, „Hoffentlich gelingt ihr alles besser, hoffentlich kann sie sich mehr von gesellschaftlichen Vorgaben befreien“.

 
Was hat es rückblickend bedeutet, einen historischen Stoff zu verfilmen?

JESSICA HAUSNER: Am Beginn eines Projektes geht man mit unheimlichem Enthusiasmus hinein, kein Aufwand ist einem zuviel. Ich habe zwei Jahre nur recherchiert, bis ich einen Schimmer davon hatte, wie ich diesen Film erzählen soll. Bis man nur eine Idee davon hat, wie man das inszenieren kann, ist enorm viel Recherche drinnen – Alltagskultur, Benimmregeln, Sprache, Kleidung, Erziehung, gesellschaftliche Normen, historischer Hintergrund, Einflüsse, die in Berlin um 1810 zum Tragen kamen, angefangen von Napoleon. Um die Tagespolitik-Gespräche schreiben zu können, brauchte es sehr viel Recherche. Ich bin sehr viel nach Berlin gereist. Ein Abenteuer.


Interview: Karin Schiefer
April 2014