INTERVIEW

«Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der Liebe per Gesetz verboten ist.»

Wenn der Staat bestimmt, welche Liebe sein darf, steht das Leben auf dem Spiel. Als schwuler Mann landet Hans Hoffman unter den Nazis im KZ, kaum von den Alliierten befreit, sitzt er schon wieder hinter Gittern, denn die Neigung seines Herzens ist gegen das Gesetz. In der Diktatur wie in der Demokratie; damals wie auch später. Sebastian Meises Große Freiheit wirft ein subtiles Licht auf bis heute verdunkelte Sphären der Gesellschaft(en). Sein Protagonist Hans steht stellvertretend für ungezählte Existenzen, die zerstört wurden, weil herrschende Systeme eines der naheliegendsten Menschenrechte mit sozialer Ächtung und gerichtlicher Verfolgung ahndeten – und dies in vielen Fällen immer noch tun.


Große Freiheit ist eine Zeitreise über Stationen von 1945, 1957 und 1968/69 und reicht über das, was man aufgrund der tätowierten Nummer auf Hans‘ Arm erahnen kann, noch weiter in seine Jugend zurück. Es erzählt die Geschichte eines Mannes und die des Umgangs der Gesellschaft mit Homosexualität im Laufe des 20. Jahrhunderts. Gibt es eine reale Figur, die Sie zu Ihrer Hauptfigur Hans Hoffman inspiriert hat?

SEBASTIAN MEISE:
Ausgangspunkt für Hans' Geschichte waren reale Fälle schwuler Männer, die von den Alliierten aus dem KZ befreit, von dort aber direkt ins Gefängnis überstellt wurden, um ihre Reststrafe laut §175 abzusitzen. Die Verfolgung sollte für sie nicht vorbei sein, denn Homosexualität blieb auch Jahrzehnte nach dem Krieg illegal. Weiterführende Recherchen und zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen in Wien und Berlin zeigten, mit welcher Akribie, welchem Einfallsreichtum und abstrusem Aufwand der Staat zahllosen harmlosen Männern hinterherjagte. Unsere Hauptfigur Hans steht hierbei exemplarisch für die Schicksale von Menschen, die immer wieder unschuldig im Gefängnis landeten, deren Existenzen und Beziehungen zerstört wurden und deren Geschichten in den Akten der Bürokratie verschwanden.


Was steht hinter dem §175, der im Film zur Verurteilung von Hans und Oskar geführt hat. Ist die gesetzliche Verfolgung von Homosexuellen eine Geschichte des 20. Jahrhunderts? Gab es Zeiten, wo ihr mit mehr Toleranz begegnet wurde? Was erlebten wegen §175 verurteilte Menschen in den Strafanstalten?

SEBASTIAN MEISE:
Leider ist die Geschichte der Verfolgung von Homosexuellen noch lange nicht vorbei. In einem von drei Ländern ist Homosexualität heute noch illegal, teilweise mit lebenslanger Haft oder sogar mit dem Tod bestraft. Im 20. Jahrhundert gab es in fast allen westlich demokratischen Ländern ähnliche Paragraphen, die zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlicher Härte judiziert und zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgeschafft wurden.
Der Paragraph 175 trat in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts in Kraft, seine Vorgeschichte reicht aber bis ins frühe Mittelalter zurück. Unter den Nazis wurde er verschärft und in dieser Fassung in die Nachkriegszeit übernommen, wo er unter dem Druck der Reformbewegungen der 1969er Jahre schließlich abgeändert werden musste. Der Paragraph 129 in Österreich hatte eine parallele Entwicklung, wurde aber erst zwei Jahre später, also 1971 abgeschafft. In diesen zweieinhalb Jahrzehnten wurden allein in Deutschland an die 100.000 Männer vor Gericht gestellt und etliche von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Den sogenannten '175ern' erging es in der Regel in den Strafanstalten nicht besonders gut und die Suizidrate war aus Mangel einer weiteren Lebensperspektive sehr hoch. Die Ächtung dieser Menschen war groß und die Homophobie unter Insassen wie Wachpersonal tief verwurzelt. Wobei Homosexualität unter Häftlingen weit verbreitet war. Dabei ging es, wie aus Gesprächen mit Langstraflern hervorging, anders als gemeinhin angenommen, nur selten um Dominanz und Gewalt, als vielmehr um die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Nähe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Als schwul wollten sie diese Beziehungen aber nicht definieren und mit den '175ern' auf keinen Fall in Berührung kommen. Diese paradoxe Logik kann ich bis heute nicht begreifen.


Der Film spielt quasi zur Gänze in einer Haftanstalt, mit einigen Rückblicken in die Freiheit. Gab es im Drehbuchprozess auch Überlegungen, mehr im Draußen spielen zu lassen? Oder war es immer klar, diese Unfreiheit, die für Ihren Protagonisten Hans ein Lebensschicksal ist, nur hinter Gittern und Gefängnismauern erzählen zu können.

SEBASTIAN MEISE:
Die Grundidee war Hans' Geschichte anhand seiner Gefängnisaufenthalte zu erzählen. Da durch das Verbot von Liebe dem Menschen letztlich das Leben verboten wird, stand das Gefängnis für die wiederkehrende Konstante in Hans' Leben, die für ihn zu einer nicht enden wollenden Zeitschleife wird. Deshalb auch die achronologische Erzählweise. Um Hans' Biografie besser in den Griff zu bekommen, gab es zwischenzeitlich auch eine Fassung die mehr im Draußen gespielt hat, das hat aber nur mäßig funktioniert, weil die Geschichte plötzlich zu einer historischen Aufarbeitung wurde, was wir nie angestrebt hatten. Die Verfolgung von Menschen durch einen inhumanen Paragraphen bildete die Basis für unseren Film. Diesbezüglich wollten wir auch präzise an den historischen Tatsachen entlang erzählen.  Was aber narrativ für Thomas und mich am Anfang stand, war der Gedanke: Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der Liebe per Gesetz verboten ist und mit Gefängnis bestraft wird. Das klang für uns wie eine Dystopie, die uns unweigerlich an Orwells 1984 denken ließ. Dafür wollten wir eine Form finden und Hans' Lebensgeschichte auf seine Stationen im Gefängnis zu fokussieren, schien uns der richtige Weg, universeller zu werden. Mauern, Gitterstäbe, und Uniformen sind zu jeder Zeit, an jedem Ort dieselben. Ähnlich einer Dystopie ist ein Gefängnis ein Nicht-Ort, ein Nirgendwo. Und ähnlich einer Dystopie handeln Gefängnisgeschichten stets von Individuen im Kräfteverhältnis körperlicher und seelischer Gewalt.


Die Rückblicke in die Freiheit erzählen Sie über analoge Bilder, die zum einen von einer Überwachungskamera, zum anderen über private Super-8  Bilder kommen, mit beiden Elementen schlagen Sie mit dieser „alten“ Technologie eine Brücke in die Gegenwart (Überwachung/ wahlloses privates Filmen) und stellen über die Projektion zu Beginn des Films einen schönen Einstieg in das Medium Kino her. Welche Gedanken stehen hinter dieser formalen Entscheidung?

SEBASTIAN MEISE:
Diese Form der Überwachung gab es wirklich. Da die Liebe zwischen Männern kriminalisiert war, mussten sich schwule Männer Orte schaffen, an denen zumindest flüchtige Begegnungen stattfinden konnten. Das waren unter anderem sogenannte 'Klappen', öffentliche Männertoiletten, die von der Sittenpolizei eifrig und mit großem Einfallsreichtum ausgeforscht wurden. Durch halbdurchlässige Spion-Spiegel wurden hier heimlich Filmaufnahmen erstellt, die vor Gericht als Beweismittel dienten.
Diese Aufnahmen sind zum Teil erhalten, nicht aus Deutschland, aber aus den USA. Wenn man sie sich anschaut, wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, wer hier eigentlich pervers ist. Die Menschen, die hier beim schnellen Sex beobachtet werden, oder nicht viel eher diejenigen, die das akribisch einzufangen versuchten, oder am Ende vielleicht sogar wir selbst, die wir unseren Blick nicht davon lassen können.
Als wir diese Aufnahmen gesehen haben, wussten wir sofort, dass das der Beginn unseres Films sein sollte, weil dadurch so viele Ebenen entstehen, die mich am Filmemachen immer interessiert haben. In einem projizierten Film beobachten wir einen Kameramann dabei, wie er heimlich Filmaufnahmen von intimen Begegnungen macht. Der Kameramann, der sich auf unserer Seite der halbdurchlässigen Scheibe spiegelt, wirft den Blick auf uns selbst zurück und führt uns vor, was für eine voyeuristische Angelegenheit das Medium Film im Grunde ist. Hinter den privaten Super 8-Aufnahmen von Hans und Oskar stand dieselbe Überlegung der Verletzung von Privatheit, die in unserer Gesichte eine große Rolle spielt. Die Frage, wie viel Privatheit dem Einzelnen zugestanden wird, ist eine, die auch uns heute beschäftigt, wie kaum eine andere. Immer stärker sehen wir uns konfrontiert mit einem öffentlichen Blick, der das Explizite sucht. Er dringt in das Private ein, um auszuforschen, zu ordnen und zu kontrollieren.
 

Da das Gros des Films hinter Gefängnismauern spielt, kam dem Drehort eine umso zentralere Rolle zu. War es wichtig in einem echten Gefängnis zu drehen. Wo sind Sie fündig geworden und was zeichnete dieses Gefängnis im Besonderen aus?

SEBASTIAN MEISE:
Was den Zellentrakt betrifft, war uns klar, dass wir ein reales, historisches Gefängnis brauchten. Die Zellen hätten wir natürlich im Studio nachbauen können, aber ich mag die Arbeit im Studio nicht, sie ist steril und abstrakt. Insofern finde ich den Dreh an Original-Locations essentiell, auch wenn er in unserem Fall mitunter kräftezehrend war. Im Winter war es kalt, die Zellen waren eng und muffig und die Distanzen in diesem riesigen Gebäude groß. Aber das Gefühl, in das uns dieses Gefängnis tagtäglich versetzte, war für die Atmosphäre des Films enorm wichtig. Unweigerlich imaginierten wir uns die zahllosen Schicksale, die sich hier über hundert Jahre zugetragen haben und auch wenn wir uns alle nicht im Geringsten vorstellen konnten, was es heißt, eingesperrt zu sein, wir versuchten es zumindest. Fündig wurden wir im Osten Deutschlands. Da gab es zu dem Zeitpunkt, an dem wir suchten eine Menge alter leerstehender Gefängnisse und wir hatten gleich zehn zur Auswahl. Das waren vielfach ehemalige DDR-Gefängnisse, die jetzt schrittweise abgerissen oder zu Gedenkstätten ausgebaut werden. Das Gefängnis, für das wir uns letztlich entschieden, verfügte über die für die Zeit, in der Film spielt, typischen Architektur. Das gleich einem Panopticon ausgehöhlte Innere, der mächtige offene Mittelgang, der sich über alle Stockwerke erstreckt und ermöglicht, dass ein einziger Wärter mehr oder weniger den gesamten Überblick hat. Diese Bauweise stand für eine Gesellschaft, die die allumfassende Überwachung anstrebte. Ein Motiv, das in unserem Film immer wiederkehrt. Kameras hinter Spion-Spiegel, Gucklöcher an den Zellentüren und Inspektionen mitten in der Nacht - unsere Figuren stehen unter ständiger Beobachtung, werden aber dennoch nicht müde, sich ihre Freiräume zu erkämpfen.


Sie haben mit Franz Rogowski (Hans) und Georg Friedrich (Viktor) zwei große Schauspielerpersönlichkeiten. Welche Qualitäten brachten Sie für Ihre jeweiligen Rollen ein? Was bedeutete es für die Schauspieler, aber auch für Maske und Drehbuch, eine Zeitspanne von 25 Jahren im selben und doch sich wandelnden Setting abzudecken?

SEBASTIAN MEISE:
Franz und Georg haben eine enorme Leidenschaft für das Schauspielen. Sie sind beide einzigartig, unprätentiös und geben sich gänzlich ihren Figuren hin. Franz hat vom ersten auf den zweiten Drehblock an die zwölf Kilo abgenommen und Georg saß jeden Tag ab fünf Uhr Morgens in der Maske und hat sich seinen Körper mit misslungenen Tattoos und sein Gesicht mit Pockennarben bekleben lassen. Beide investieren viel, sind extrem genau und fordern dasselbe von der Regie. Das macht die Arbeit so intensiv.
Noch während der Arbeit am Drehbuch waren sie bereits meine Traumbesetzung und vermutlich hätten wir diesen Film ohne sie gar nicht machen können. Ich hatte dieses Gefühl, dass zwischen den beiden eine ganz besondere Energie entstehen würde, die jetzt letztlich das Herz dieses Films ist. Ich glaube, ich kann für sie beide sprechen, dass sie sich gegenseitig sehr schätzen und eine der Hauptaufgaben der Inszenierung war es, die Chemie, die zwischen ihnen als Schauspieler aber auch als Menschen besteht, so gut als möglich einzufangen. Aber auch Anton von Lucke (Leo) und Thomas Prenn (Oskar) waren sehr wichtig für diesen Film. Sie vervollständigen diesen wundervollen Cast, den ich wirklich sehr liebe. Die lange Zeitspanne von 25 Jahren abzudecken, war in Anbetracht der Mittel, die uns zur Verfügung standen, herausfordernd, hat aber viel Spaß gemacht. Das war eine Spielwiese für alle Departments und jedes für sich, vor allem Maske, Ausstattung und Kostüm haben das mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Dabei ging es immer darum, die richtigen Akzente zu setzen, dass Veränderungen auffallen, aber subtil genug sind, um sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Wir wissen alle, dass Aging im Film Fake ist und wenn wir uns nur noch mit der Frage beschäftigen, ob und wie gut es gelungen ist, interessieren wir uns nicht mehr für die Geschichte.
 

Mit der Über-Tätowierung von Hans‘ KZ-Nummer und dem Zertrennen und Umarbeiten der Wehrmachts-Uniformen in der Näherei der Haftanstalt kommen starke Bilder von der Demontage des Nazi-Regimes. Wie haben Sie den politischen Wandel in den 25 Jahren der Handlung und die jeweiligen Stimmungen in der Gesellschaft, die sich in Ihrem Film durch das Aufsichtspersonal reflektiert, wahrgenommen und darzustellen versucht?

SEBASTIAN MEISE:
  Dass die nationalsozialistische Bürokratie auch nach dem Krieg noch weitgehend in ihren Ämtern blieb, ist allgemein bekannt. Was im Fall der Verfolgung von Homosexuellen für mich völlig neu war, ist die Rolle der Alliierten. Hier waren sie nicht die Befreier, sondern mit den Nazis auf einer Ebene. Da sie in ihren eigenen Ländern ähnliche Gesetze hatten, war es für sie offenbar rechtens, dass schwule Männer im Dritten Reich gefoltert und ermordet wurden. Das ergab dieses völlig verrückte Bild: ein überlebender KZ-Häftling wird nach Kriegsende in ein Gefängnis überstellt und muss dort Hakenkreuze von Uniformen reißen. Für ihn hat sich nichts verändert. Ein System hat das andere abgelöst und er ist immer noch illegal. Die Welt ist weiterhin gegen ihn. Sein einziger Verbündeter wird sein Zellengenosse, ein verurteilter Mörder, der ihm mit einer bewegenden Geste neuen Mut macht. Gute zehn Jahre später hat sich der Vollzug bereits verändert. Im deutschen Wirtschaftswunder werden die Gefängnisse modernisiert, der Schimmel von den Wänden gekratzt, Sanitäranlagen installiert und das Nazi-Personal abgelöst durch dienstwillige Wärter, die daran glauben, Menschen durch harte Strafe bessern zu können. Unser Protagonist ist weiterhin illegal und er ist es auch noch weitere zehn Jahre später, als die Große Strafrechtsreform bereits vor der Tür steht und der Resozialisierungsgedanke langsam den Vollzug erreicht.


Für Ihre Kamerafrau Crystel Fournier war wohl zum einen der Umgang mit der Enge der Räume und zum anderen der mit der Dunkelheit ein Thema. Ihre Clair-Obscur-Bilder sind von bestechender Präzision und Kraft an einem Ort, der wenig Schönheit zulässt. Wie haben Sie mit ihr die Rolle des Lichts und visuelle Sprache dieser Erzählung festgelegt?

SEBASTIAN MEISE: 
Grundsätzlich war uns klar, dass wir in jedem Bild bei unseren Figuren bleiben müssen. Der Film lebt von unseren Schauspielern, das ist in einem Setting, das wenig Abwechslung bietet, das einzig Interessante. Ein großes Anliegen war natürlich, das Gefühl des Eingesperrt-Seins zu erzeugen. Das schafft man letztlich nur, wenn man die Körper in einen Bezug zum Raum setzt und eine der Grundfragen war, wie wir in den engen Gefängniszellen immer wieder die nötige Distanz zu unseren Darstellern schaffen können. Das konnten wir dadurch lösen, indem wir kleinere Zellen mit Stellwänden in größere hineingebaut haben. In der Auflösung haben wir uns stark an die emotionalen Stadien unserer Figuren in den jeweilige Zeitebenen orientiert. Die statischeren, höher aufgelösten 40er Jahre, die bewegteren, dynamischeren 50er und schließlich die 60er, in denen unsere Figuren und auch der Film zur Ruhe kommt. Was ich an Crystel sehr schätze, ist die Einfachheit und Schlichtheit, mit der sie auf allen Ebenen arbeitet. Ihr Licht hat immer eine Logik und einen starken Bezug zur Realität. Eine einzelne Lichtquelle, ob eine Neonröhre oder eine Glühbirne, die hart von der Decke runter leuchtet, kann eine enorme Schönheit haben, weil es in der Regel das ist, was uns tagtäglich umgibt. Das perfekte Licht, bei dem alles weich und ausgewogen ausgeleuchtet ist, kennen wir letztlich nur aus dem Film.  Ähnlich ging Crystel auch mit den Farben um, weil die Welt des Kunstlichts voller unterschiedlicher Temperaturen ist. Das verleiht dem Film eine Buntheit, die zu unserer Geschichte passt und die grau-blaue Gefängniswelt mit Leben füllt.


Musik verwenden Sie sehr sparsam, aber wenn mit starker Wirkung. Welche Rolle kommt der Musik zu, besonders am Ende des Films?

SEBASTIAN MEISE:
  Nils Petter Molvær und Peter Brötzmann sind zwei meiner Lieblingsmusiker und ich bin sehr glücklich, dass ich beide für unseren Film gewinnen konnte.
Ich sah diesen Film immer als eine Gradwanderung zwischen zwei Genres, dem Gefängnisdrama und dem Liebesfilm. Da gibt es die Rohheit und Hässlichkeit des Vollzugs und darin unsere Figuren, die versuchen ihrem Leben einen tieferen Sinn zu geben, den sie einzig und allein in der Zärtlichkeit des Zwischenmenschlichen finden können. Je weniger Musik man verwendet, desto mehr fällt auf, wenn sie fehlt. Die Leerstellen sollten demnach für das Gefängnisdrama mit all seiner Kargheit und Härte stehen. Was aber, um sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass man hier eigentlich einen Liebesfilm sieht, mit der hingebungsvollen Solo-Trompete von Nils Petter Molvær regelmäßig gebrochen werden sollte. Der Free Jazz von Peter Brötzmann steht für die Dekonstruktion der Musik, gleich einer kathartischen Entladung. Und natürlich darf auch ein Liebeslied am Ende nicht fehlen.


„Die große Freiheit“ kann auf jeden Fall nicht gelebt werden und findet nicht dort statt, wo wir sie als Zuschauer*innen zunächst einmal vermuten würden. Mit welchen Gedanken zur Freiheit schließen Sie den Film?

SEBASTIAN MEISE:
Der Begriff der Freiheit ist mir ehrlich gesagt zu groß, als dass ich ihn fassen könnte. Mit Sicherheit sagen kann ich aber, dass es mir völlig schleierhaft ist, wie man Liebe kriminalisieren kann. Der Paragraph 175 war nicht nur inhuman, sondern auch verfassungswidrig. Immer wieder wurde er vorm Verfassungsgerichtshof erfolglos eingeklagt und über die Jahrzehnte hinweg aufs Neue begutachtet, beglaubigt und bekräftigt. Gänzlich abgeschafft wurde erst im Jahr 1994 und eine Rehabilitierung der Opfer passierte in Deutschland erst 2017. Der Staat wollte also über Jahrzehnte hinweg nicht einsehen, dass er gegen diejenigen Menschenrechte verstoßen hatte, die er eigentlich verteidigen sollte. Diese Geisteshaltung spüren schwule Menschen nicht selten auch heute noch. Natürlich kann man diesem ständigen Kampf nach Anerkennung auch irgendwann überdrüssig werden und schafft sich dann vielleicht lieber Parallelwelten, in denen man die Freiheit findet, die man immer gesucht hat. Da wird der Begriff der Freiheit und auch der der Liebe dann ein sehr persönlicher. Unsere Hauptfigur Hans findet die Liebe ausgerechnet im Gefängnis. Und das ausgerechnet mit einem verurteilten Mörder.  Im Laufe der Arbeit an diesem Film bin ich immer wieder Leuten begegnet, die behaupteten, sie wüssten, was Liebe ist und was Liebe nicht ist. Meiner Meinung nach hat genau dieser Anspruch auf Deutungshoheit jenen Paragraphen produziert, von dem unser Film erzählt. In unseren freien Demokratien scheint der Kampf nach Gleichberechtigung weitgehend ausgefochten, die Rückkehr eines derartigen Paragraphen vorerst unwahrscheinlich. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Geschichte einer Kultur voller zyklischer Wiederholungen ist, wird einem bewusst, wie fragil dieses Gut ist. Die jüngsten Entwicklungen in Ungarn zeigen das.
Doch wie stark die Unterdrückung auch sein mag, die Sehnsucht nach Freiheit und Liebe kann meiner Meinung nach nicht erstickt werden. Unsere Welt ist großteils brutal und hässlich, dennoch hören Menschen nicht auf die Schönheit des Daseins zu suchen. Das mag pathetisch klingen, aber so empfinde ich es nunmal.


Interview: Karin Schiefer
Juni 2021




«Unsere Hauptfigur Hans steht hierbei exemplarisch für die Schicksale von Menschen, die immer wieder unschuldig im Gefängnis landeten, deren Existenzen und Beziehungen zerstört wurden und deren Geschichten in den Akten der Bürokratie verschwanden.»